Die Beziehungen zwischen Bibliotheken und Politik sind vielschichtig, komplex und von gegenseitigem Einfluss geprägt. Historisch gesehen haben sich Bibliotheken stets im Spannungsfeld politischer Rahmenbedingungen entwickelt, und auch heute sind politische Gegebenheiten und Machtstrukturen entscheidend für die Funktion, die Ausrichtung und die Bestände von Bibliotheken. In politisch turbulenten Zeiten oder in Zeiten dynamischer Veränderungen haben Bibliotheken eine besondere Verantwortung, ihre Rolle im politischen Prozess zu reflektieren und verlässliche Informationsdienstleistungen anzubieten. In diesem Themenheft ergründet BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis, wie Bibliotheksarbeit mit der politischen Sphäre verknüpft ist.
Unterhaltsträger von Bibliotheken sind heutzutage mehrheitlich Gemeinden, Land und Bund, aber auch die Kirchen, die mit ihren politischen Gremien über die Finanzierung von Bibliotheken entscheiden. Öffentliche Mittel, die von politischen Gremien bereitgestellt werden, sind die wichtigste Grundlage der Ressourcen der Bibliotheken. Sie gehen direkt an die Öffentlichen Bibliotheken, Landesbibliotheken oder über Institution wie Universitäten, Forschungsinstitute oder Museen an die wissenschaftlichen Bibliotheken. Politiker in Regierungs- bzw. Entscheidungsverantwortung müssen die Bedeutung von Bibliotheken erkennen und entsprechende Mittel bewilligen. Bibliotheken versuchen dies durch gute Lobbyarbeit positiv zu beeinflussen, um ihren Betrieb und die Weiterentwicklung ihrer vielfältigen Dienstleistungen für die Menschen zu garantieren. Die Beiträge von Monika Ziller, Jaqueline Breidlid, Kristin Bäßler und Elmar Mittler zeigen, wie Entscheidungsträger in Bibliotheken, unterstützt durch Freundeskreise, Verbände und Netzwerke, versuchen, das Bild von Bibliotheken in der Öffentlichkeit zu verändern und damit Einfluss auf die Politik zu nehmen.
Der Einfluss, den die Politik ihrerseits auf Bibliotheken hat, wird besonders im Bereich der Gesetzgebung deutlich. Politische Entscheidungen können sich auf die rechtlichen Rahmenbedingungen für Bibliotheken auswirken, denn Gesetze und Vorschriften, die den Zugang zu Informationen, den Datenschutz, das Urheberrecht und andere Aspekte regeln, haben unmittelbare Bedeutung für die Bibliotheksarbeit. Folglich beeinflussen politische Entscheidungen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich die Rolle von Bibliotheken als Anbieter von Informationsressourcen, als Vermittler von Informationen, als Unterstützer der Hochschulbildung sowie der Wissenschaft und Forschung, als Förderer von Zukunftskompetenzen und informeller Bildung, als Dritter Ort. Sven Kuttners Beitrag ruft diese Rolle von Bibliotheken in seiner Rekapitulation der sogenannten Holzer-Affäre 1974 in Erinnerung.
Bibliotheken sind zudem Teil der kulturpolitischen Landschaft einer Gesellschaft. In Deutschland haben öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken einen klaren demokratischen Auftrag. Sie setzen sich für demokratische Werte ein, die im Grundgesetz verankert sind. Dies umfasst die dort festgeschriebenen Menschenrechte und die Förderung von Demokratie, politischer Bildung und ziviler Streitkultur. Bibliotheken sind aber nicht nur Informationsvermittler, sondern auch Akteure im gesellschaftlichen Diskurs. Auch in weniger demokratischen Staaten macht sich der Einfluss der Politik auf Bibliotheken hinsichtlich der kulturellen und politischen Werte, die sie vertreten und in ihrer Arbeit praktisch umsetzen, bemerkbar. Während in Demokratien Bibliotheken als Orte für Informations- und Meinungsfreiheit fungieren und für Vielfalt, Diversität und Respekt gegenüber den Menschenrechten jeder einzelnen Person stehen sollen, schränken dort, wo Demokratie gefährdet ist, politische Entscheidungen Bibliotheken in ihrer Informationsfreiheit ein. Der Blick nach Russland, den Olaf Hamann wagt, zeigt, wie Bibliotheken Teil der politischen Agenda eines Unrechtsstaates werden.
Aber auch in Ländern mit scheinbar etabliertem Demokratieverständnis sind Informations- und Meinungsfreiheit ebenso wenig garantiert, wie die Demokratie selbst. Sie müssen gegen manchmal krude und manchmal subtile Angriffe von ganz verschiedenen Seiten verteidigt werden – in einem Diskursraum, in dem sich die Grenzen des Sagbaren verschieben. Welche Bedeutung haben Wissenschaftsskepsis, Populismus, Fundamentalismus und Nationalismus für die Arbeit der Bibliotheken, fragten wir im Call for Papers[1] zu diesem Schwerpunkt. Zeiten, in denen Bibliotheken in besonderer Weise politisch gefordert sind, gibt es immer wieder. Und wenn man die Beiträge für dieses Heft liest, dann scheint aktuell wieder eine solche Zeit gekommen zu sein.
Im Vorwort des „Projects 2025“ der amerikanischen Konservativen werden die Begriffe „diversity, equity, and inclusion“ sowie „gender equality“ – alles Begriffe, die für die bibliothekarische Arbeit eine wichtige Rolle spielen – radikal abgelehnt und es wird behauptet, in einer Transgender-Ideologie würden sich pornografische Interessen und sittliche Verwahrlosung zeigen. Die Konservativen möchten diejenigen, die dazu Material herstellen und verbreiten, bestrafen. „Educators and public librarians who purvey it should be classed as registered sex offenders“, heißt es dort.[2] Der Kulturkampf von rechts wendet sich immer stärker auch gegen Bibliotheken in Deutschland. So wird beispielsweise die Münchener Stadtbibliothek von Politikern angegriffen, weil sie eine Drag Queen in die Kinderbibliothek zum Vorlesen eingeladen hat. In einer Öffentlichen Bibliothek in Berlin-Tempelhof werden z. B. Bücher, die sich kritisch mit rechten Ideen auseinandersetzen, heimlich zerschnitten. Boryano Rickum berichtet in diesem Heft, wie seine Bibliothek sich aktiv positioniert und den Angriff in eine breite Aufklärungskampagne gegen rechtsextreme Ideen umwandelt. Thomas Bürger zeigt auf, wie ein Bibliotheksverein in Sachsen Bibliotheken bei der Verteidigung der Demokratie unterstützt und selbst dafür auf die Straße geht. Um die zukünftigen Bibliothekarinnen und Bibliothekare auf ihre Rollen in einer offenen und diversen Bibliothekslandschaft vorzubereiten, berichtet die Kölner Hochschule, wie sie ihre Studierenden im Umgang mit Stammtischparolen schult. Die Rolle, die Bibliotheken für die demokratische Institution eines Landes spielen sollten, thematisieren die theoretischen Artikel von Hans-Christoph Hobohm und Herrmann Rösch, der erste unter dem spannenden Titel „Bibliotheken als Fünfte Gewalt“ und der zweite mit einer systemtheoretischen Sicht auf Bibliotheken. Dazu passt der Artikel von Antje Wischmann, der skizziert, wie die politische Einflussnahme die demokratiefördernden schwedischen Bibliotheken vom Staat abrücken lässt. In einem Artikel von Anna Bohn und Olaf Hamann wird der Blick auf die Ukraine gerichtet, die sich nicht nur mit dem immensen Problem des Kulturgutschutzes im Krieg, sondern auch mit einer wütenden Desinformationskampagne des russischen Aggressors konfrontiert sieht. Themen wie Dekolonialisierung von Bibliotheken, behandelt von Yvonne Schürer sowie Sabine Imeri et al., zeigen die Breite der aktuellen politischen Themen.
Zum Thema Politik und Bibliotheken gehören auch die Forderungen an die Politik sowie die Hochschul- und Bibliothekspolitik. Renke Siems erläutert, wie Bibliotheken, Förderer und Politik mit Open-Science-Praktiken die digitale Souveränität von Wissenschaft zu steigern versuchen. Fokussiert auf die Open-Access-Transformation, stellen Heinz Pampel et al. Thesen zur Zukunft des wissenschaftsgeleiteten Open-Access-Publizierens auf, Rupert Schaab hält ein Plädoyer für die Lesekompetenz und Wolfram Horstmann fragt in seiner Göttinger Abschiedsrede, die hier als Beitrag publiziert wird: „Was ist eine wissenschaftliche Bibliothek heute?“.
Nicht in unser Themenheft geschafft haben es aufgrund von Terminschwierigkeiten der Beitrag von Anita Eichinger und Katharina Pranger zu ihrem Konzept des Digitalen Humanismus, durch den die menschliche Souveränität über die Technologien gesichert werden soll, sowie ein Aufsatz von Martin Jeske und Julia Wacker, in dem die Forderung einer amtlichen Sammelpflicht für Geodaten durch Bibliotheken gestellt wird. Wir werden diese Beiträge in einer späteren Ausgabe nachreichen.
Literaturverzeichnis
Dans, Paul; Groves, Steven (Hrsg.) (2023): Mandate for Leadership: The Conservative Promise. The Heritage Foundation. Verfügbar unter https://static.project2025.org/2025_MandateForLeadership_FULL.pdf, zugegriffen am 06.06.2024.Search in Google Scholar
Lux, Claudia; Mittelbach, Jens (2023): Call for Papers: Bibliohteken und Politik. In: BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis, 47 (2), 187–87. DOI:10.1515/bfp-2023-0050.10.1515/bfp-2023-0050Search in Google Scholar
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