Rezension über:

Franziska Kunze / Katrin Bauer (Hgg.): Glitch. Die Kunst der Störung, Berlin: Distanz Verlag 2023, 384 S., ISBN 978-3-95476-600-0, EUR 42,00
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Rezension von:
Olivia Liesner
München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Olivia Liesner: Rezension von: Franziska Kunze / Katrin Bauer (Hgg.): Glitch. Die Kunst der Störung, Berlin: Distanz Verlag 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 5 [15.05.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/05/38913.html


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Franziska Kunze / Katrin Bauer (Hgg.): Glitch

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Gerade in der heutigen Welt vermeintlich perfekter Telekommunikation sind Fehlfunktionen unerwünschte Phänomene, die es schnellstmöglich zu beseitigen gilt. Die Leugnung des Fehlschlags ist jedoch ein tieferliegendes Problem, das allen technologischen Entwicklungen vorausgeht. Obwohl die Menschheit im Grunde seit jeher vom Versagen geprägt ist, bestimmen Mythen von uneingeschränktem Erfolg und Fortschritt unser Kulturverständnis nun schon seit Jahrhunderten - und das trotz des philosophischen Konsenses über die Rolle von Scheitern und Irrtum als Wegbereiter für Wachstum und Fortschritt. Die aggressive Ablehnung von Störungen ist besonders seltsam, wenn man bedenkt, dass technische Fehler, auch Glitches genannt, in den Medien, in der Kunst, im Design und in der kommerziellen Landschaft zunehmend als ästhetische Mittel eingesetzt werden.

Das parallel wachsende Forschungsinteresse am Phänomen Glitch ist in erster Linie auf seine destruktive und zugleich kreative Kraft zurückzuführen. Im Bereich der Medientheorie und -archäologie wird dem Glitch bereits seit Jahrzehnten von Theoretiker*innen und Künstler*innen wie Iman Moradi, Rosa Menkman oder Michael Betancourt eine reflexive und subversive Kraft zugeschrieben. [1] Der Glitch sei demnach nicht einfach nur als Fehler, sondern als disruptives Moment zu verstehen, das vorherrschende Erzählungen über Technologie und Gesellschaft in Frage stellen könne. In der Kunstgeschichte rückte das Thema Glitch erst vor wenigen Jahren in den Mittelpunkt. Legacy Russel etwa vertritt in ihrer 2020 erschienenen Publikation Glitch Feminismus: Ein Manifest die Meinung, dass die Anwendung von Glitch in der Kunst als feministische Praxis zu verstehen sei, die eine Störung in einem weißen, binär gedachten und strukturierten System auslösen könne.

Der Katalog Glitch. Die Kunst der Störung (2023) und die zugehörige Ausstellung, die von Dezember 2023 bis März 2024 in der Pinakothek der Moderne zu sehen war, erforschen die Historie des Scheiterns in der Bildproduktion, insbesondere in Hinblick auf die Fotografie und digitale Medien, bis in die moderne und zeitgenössische Kunst. Genau wie die Ausstellung ist der Katalog in vier Kapitel aufgeteilt, die mit Künstler*innenkommentaren und reichlich Bildmaterial durchzogen sind. Als Einführung dienen ein sogenannter "Streifzug durch die Ausstellung" und eine größtenteils etymologisch orientierte Einleitung von Franziska Barth und Markus Rauschenberg.

Das erste Kapitel Born to Glitch befasst sich mit der Geschichte fotografischer Unfälle und Missgeschicke, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts präventiv in Fotofehler-Büchern dokumentiert wurden, sowie der absichtlichen künstlerischen Manipulation des Mediums als Widersetzung von Darstellungskonventionen durch Künstler*innen von Man Ray 1929 bis Gottfried Jäger 1992. Eine Bilddiskussion aus 1966 zu Alex J. Kovaleffs Fotografie Caroline bietet zudem einen spannenden Einblick in das vornehmlich konservative ästhetische Verständnis der Zeit. Den zweiten Abschnitt des Katalogs eröffnet Rosa Menkmans Glitch Studies-Manifest von 2011 - ein bedeutender Leitfaden für Glitch Art, der ähnlich Donna Haraways Cyborg-Manifests für die Auflösung von Dualismen wie real und virtuell sowie die Anerkennung von Fehlern in der Kultur und Technologie plädiert. Justyna Janik rundet das Kapitel Loss of Control mit einem Artikel zur Relevanz von Glitches in Computerspielen und der Autonomie des Nichtmenschlichen als rebellischen Akt ab.

Im darauffolgenden Teil, der dem übergreifenden Thema der Dekonstruktion von Bild- und Klangwelten (Twisted Worlds) gewidmet ist, werden zwei willkommene kreative Interventionen in den Katalog eingeführt: Ein ungezwungenes Tutorial zu databending von Künstler Nick Briz, welches die im Genre der Glitch Art beliebte Technik der Zweckentfremdung von Technologien durch Datenmanipulation beschreibt, und ein Gedicht von Mame-Diarra Niang zu der Fotoserie Call Me When You Get There (2020) umrahmen Ute Holls Artikel über den Glitch als Verweis auf die Ökologien und Materialitäten physischer und physiologischer Umgebungen und bringen damit eine spielerische Note in die ansonsten sehr anspruchsvolle Textsammlung.

Die essenzielle politische Dimension des Glitchs wird schließlich im letzten Kapitel (Critical Disruptions) anhand zweier Texte von Doris Gassert und Agnieszka Roguski verdeutlicht, die den Glitch als Instrument gegen diejenigen 'Störungen' untersuchen, die keinesfalls als Glitches missverstanden werden sollten; diskriminierende und sexistische Körperauffassungen, die als visuelle Machtsysteme in Technologien einkodiert sind und so die Kontrolle bestimmter Körper über andere verstärken und zementieren. Die hier vorgestellten Arbeiten von Sondra Perry und Jake Elwes reflektieren zeitgenössische Ängste und Perspektiven bezüglich Menschlichkeit, dem physischen Körper, Rasse und Sicherheit in unserer technologischen Gesellschaft und beleuchten die einzigartige Fähigkeit des Computer Glitchs Fehler in Akte des Widerstands zu verwandeln.

Der Katalog besticht vor allem durch seinen faszinierenden Ansatz, die Wurzeln der Glitch Art in frühen fotografischen Fehlern zu verorten und damit die avantgardistischen Tendenzen von Glitch als kreative Antwort auf die Herausforderungen der industriellen Moderne zu betonen. [2] Das Buch verfügt über eine durchdachte Struktur, die einen Einblick in verschiedene Aspekte des Themas bietet, sowie über eine innovative Gestaltung.

Ich möchte darauf hinweisen, dass die feministische und vor allem identitätsbildende Dimension des Glitchs, wie sie in Legacy Russels Manifest dargelegt wird [3], trotz der bemerkenswerten Bemühungen, verschiedene Perspektiven einzubeziehen, möglicherweise nicht ausreichend gewürdigt wurde. Ebenso scheinen grundlegende Informationen, wie die Diskussion konkreter ästhetischer Merkmale des Glitchs oder die Geschichte der Glitch Art in den 1990er-Jahren, zugunsten übermäßig theoretischer Ansätze vernachlässigt oder nur gelegentlich gestreift worden zu sein. Die Ausstellung und der begleitende Katalog mögen zwar nicht alle Facetten dieses faszinierenden Genres abbilden, doch markieren sie einen bedeutenden Schritt in Richtung einer Zukunft, in der herkömmliche Vorstellungen von Perfektion und Kontrolle herausgefordert werden können.


Anmerkungen:

[1] Vgl. hierzu Iman Moradi: Glitch Aesthetics, unv. Diss., School of Design Technology, Huddersfield 2004; Rosa Menkman: The Glitch Moment(um), Amsterdam 2011; Michael Betancourt: Glitch Art in Theory and Practice. Critical Failures and Post-Digital Aesthetics, New York 2017.

[2] Vgl. Carolyn L. Kane: Compression Aesthetics: Glitch From the Avant-Garde to Kanye West, in: InVisible Culture: An Electronic Journal for Visual Culture (IVC) 21 (2014), https://doi.org/10.47761/494a02f6.8aebfcc0 (22.07.2023), Abs. 13.

[3] Vgl. Legacy Russel: Glitch Feminismus. Ein Manifest, Leipzig 2021 [Zuerst erschienen als: Legacy Russel: Glitch Feminism. A Manifesto, London 2020].

Olivia Liesner