Rezension über:

Sören Brinkmann: Milch für die Tropen! Lebensmittelkontrolle und Ernährungspolitik am Beispiel der städtischen Milchversorgung in Brasilien (1889-1964) (= Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte; Bd. 111), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 210 S., 22 Tbl., 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12791-2, EUR 46,00
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Rezension von:
Georg Fischer
Aarhus Universitet
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Georg Fischer: Rezension von: Sören Brinkmann: Milch für die Tropen! Lebensmittelkontrolle und Ernährungspolitik am Beispiel der städtischen Milchversorgung in Brasilien (1889-1964), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 11 [15.11.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/11/35283.html


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Sören Brinkmann: Milch für die Tropen!

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Das Buch "Milch für die Tropen!", das auf Sören Brinkmanns Habilitationsschrift beruht, führt tief hinein in mehrere zentrale Themenbereiche der Geschichte der ersten brasilianischen Republik (1889-1930) sowie der mal demokratisch legitimierten, mal autoritären Entwicklungsregime zwischen 1930 und 1964. Urbanisierung, Infrastrukturentwicklung, Verwissenschaftlichung staatlichen Handelns, Spannungen zwischen regionaler Autonomie und nationaler Zentralisierung sind einige der Grundprozesse, mit denen die brasilianische Milchpolitik eng verflochten war. Hinzu kommen internationale Einflüsse wie etwa ernährungswissenschaftliche Paradigmen oder landwirtschaftliche Organisationsformen. Schnell wird deutlich, welch komplexes Terrain eine Studie zur staatlichen Milchpolitik im Kontext massiver politischer und wirtschaftlicher Veränderung betritt.

Brinkmanns Interesse gilt zuvorderst zwei Dimensionen der "Milchfrage", nämlich zum einen den Versuchen der Herstellung von Produktsicherheit und zum anderen dem Imperativ der Konsumsteigerung (14). Neben knapp gehaltenen Einleitungs- und Ausblickskapiteln umfasst das Buch sechs Kapitel. Kapitel 1 bettet die Untersuchung in einen längeren zeitlichen Kontext ein und zeichnet die Grundmatrix der "Milchfrage": Es beschreibt die Präsenz von Milchkühen in rasch wachsenden Metropolen, die wichtigsten Verwendungsformen der Kuhmilch sowie die zentralen gesundheitspolitischen Probleme und Kontroversen, die sich im späten 19. Jahrhundert mit der Kuhmilch verbanden - darunter beispielsweise das Problem der Milchpanscherei und die Frage, ob die hohe Säuglingssterblichkeit mit der schlechten Kuhmilchqualität zusammenhing. Die nächsten Kapitel konzentrieren sich auf die Städte Rio de Janeiro und São Paulo, die als alte Bundeshaupstadt (Rio) und als aufstrebende Wirtschaftsmetropole (São Paulo) ganz unterschiedliche Positionen im System der brasilianischen Städte einnahmen. Die Konfliktlinien, die den Aufbau einer stetigen Versorgung mit gesundheitlich unbedenklicher Trinkmilch prägten, ähnelten sich dennoch: auf der einen Seite die verbrauchernahen Milchviehställe in den Städten, die sich staatlicher Kontrolle entzogen, auf der anderen Seite Milchimporte aus dem Hinterland, die eine logistische und organisatorische Herausforderung blieben. Insbesondere das föderale Prinzip der Ersten Republik stellte die staatlichen Behörden vor gewaltige Herausforderungen, wie der Abschnitt über die Milchversorgung Rios aus dem Nachbarstaat Minas Gerais (der als wichtiger Milchproduzent insgesamt mehr Beachtung verdient hätte), eindrucksvoll zeigt. Doch wie das Beispiel São Paulos zeigt, war auch die Kontrolle der Lieferkette innerhalb eines Bundesstaates schwierig, da sich Produzenten gegen eine Zentralisierung der Milchabfüllung zur Wehr setzten. Und selbst wo moderne Produktionsverfahren halbwegs flächendeckend eingeführt werden konnten, bestanden aufgrund der prekären Logistik weiterhin Qualitätsdefizite.

Kapitel 4 widmet sich der Rolle, welche die Milch in ernährungswissenschaftlichen Debatten und nationaleugenischen Diskursen der 1920er und 1930er Jahre spielte. Trotz einiger Propagandaanstrengungen waren der Konsumsteigerung vor allem durch die hohen Preise, aber auch durch kulturelle Vorbehalte, Grenzen gesetzt. Aber auch die Produktion konnte nicht im gewünschten Maße ausgeweitet werden, was mit Zuchtpraktiken und der oft pacht- und subsistenzbäuerlichen Strukturen im ländlichen Brasilien zusammenhing. Kapitel 5 konzentriert sich auf die milchpolitischen Initiativen der Regierung Vargas. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Versuchen der Zentralregierung, die genossenschaftliche Organisationsform in der Milchwirtschaft - wie auch in anderen landwirtschaftlichen Sektoren - zu etablieren. Darüber hinaus analysiert es die Bedeutung der Milch im Rahmen der Politik der Volksversorgung im Sinne des Vargas'schen trabalhismo-Doktrin, d.h. der staatlichen Fürsorge für die Arbeiterschaft. In Kapitel 6 betreten mit internationalen Konzernen wie Nestlé, dessen Trockenmilch die brasilianische Milchindustrie aufmischte, wichtige neue Akteure die Bühne, während sich die Interventionsambitionen des Staates langsam abschwächten, was sich etwa in geringen Planungsbudgets oder einer graduellen Öffnung für internationale Märkte ausdrückte.

Die Quellenlage zu landwirtschaftlichen Themen ist in Brasilien oft schwierig, da wichtige staatliche Archive nicht vollständig erschlossen oder unvollständig erhalten sind. Die administrativen Zuständigkeiten waren häufig verschlungen, tatsächliche Resultate staatlicher Planung lassen sich zuweilen schwer nachvollziehen. Dennoch stützt sich Brinkmann auf eine Vielzahl von Expertenberichten, Zeitungsartikeln und staatlichen Dokumenten, und es gelingt ihm, die milchpolitischen Kontroversen so präzise wie detailreich zu rekonstruieren. Auch hilfreiche quantitative Daten zu Problemen der öffentlichen Gesundheit, der Milchproduktion oder der Lieferketten trägt die Studie zusammen. Brinkmanns genauer und häufig eleganter (wenngleich in einigen Passagen etwas zu detailverliebter) Stil macht, unterstützt durch zahlreichen Abbildungen, die Darstellung gut lesbar.

"Milch für die Tropen" lässt sich an der Schnittstelle zwischen Medizin-, Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte verorten. Als bisher umfassendste Forschungsarbeit zum Thema Milch bereichert es den (umfangreichen) Forschungsstand zur Geschichte der staatlichen Interventionen in den Bereichen Hygiene und Volksgesundheit. Es wirft ein facettenreiches Schlaglicht auf die Produktionsentwicklung und -bedingungen in der Milchviehhaltung und stellt eine wichtige Ergänzung dar zum klassischen Schwerpunkt der Kaffeewirtschaft im frühen 20. Jahrhundert. Ferner leistet es wichtige Pionierarbeit in Bezug auf die Entstehung staatlicher Institutionen. Am Beispiel der Milchversorgung, die auf überregionalen Lieferketten beruhte, zeigt Brinkmann, welche konkreten wirtschaftlichen oder gesundheitspolitischen Ziele hinter den häufig wechselnden Zuständigkeiten standen.

Leider wirkt sich das Fehlen von Kapiteleinleitungen, Überleitungen, Zwischenzusammenfassungen und eines Schlussfazits negativ auf das Lektüreerlebnis aus. Die übergeordneten Argumente des Buches laufen zeitweilig Gefahr, aus dem Blick zu geraten. Als kleine Stilkritik sei zudem angemerkt, dass Brinkmann an zahlreichen Stellen auf ein modernisierungstheoretisch inspiriertes Sprachinstrumentarium zurückgreift, um die "Rückwärtsgewandtheit" brasilianischer Milchproduzenten, Institutionen und Infrastrukturen zu betonen. Dies ist einerseits nachvollziehbar, wenn man an die Panschereien, die nachgewiesenen Keimmengen oder die hygienischen Zustände in den Ställen denkt, von denen die Quellen berichten. Andererseits setzt eine solche Erzählweise den brasilianischen Fall unweigerlich in einen Interpretationsrahmen, in dem eine Milchindustrie und Konsummuster nach dem Vorbild europäischer Länder oder der USA der implizite Endpunkt sind.

Ungeachtet dieser kleinen Kritikpunkte erweitert Brinkmanns Buch unser Wissen über wirtschaftliche, soziale und politische Aspekte der Geschichte Brasiliens im späten 19. und im 20. Jahrhundert in bedeutender Weise. Es ist zu wünschen, dass das Buch in Portugiesische übersetzt wird, da von Seiten brasilianischer Wissenschafts-, Medizin-, Agrar-, Umwelt- und Stadthistoriker*innen mit großem Interesse zu rechnen ist.

Georg Fischer