Rezension über:

Matthias Braun: Von Menschen und Mikroben. Malaria und Pest in Stalins Sowjetunion 1929-1941 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte; Bd. 87), Wiesbaden: Harrassowitz 2019, VI + 290 S., ISBN 978-3-447-11189-8, EUR 39,00
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Rezension von:
Ulrike Eisenberg
Berlin
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Ulrike Eisenberg: Rezension von: Matthias Braun: Von Menschen und Mikroben. Malaria und Pest in Stalins Sowjetunion 1929-1941, Wiesbaden: Harrassowitz 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/34568.html


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Matthias Braun: Von Menschen und Mikroben

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Das vorliegende Buch beruht auf der 2012 an der Berliner Humboldt-Universität verteidigten Dissertation des Historikers Matthias Braun. Anhand der Geschichte der Bekämpfung von Malaria und der Pest im östlichen Transkaukasien in der sowjetischen Republik Aserbaidschan zeigt Braun auf, welche politischen, kulturellen, klimatischen und sozialen Aspekte die sowjetische Hygienepolitik einrahmten und bestimmten. Waren es tatsächlich die umfangreichen hygienepolitischen Maßnahmen, mit denen es der jungen Sowjetunion gelang, diese Seuchen einzudämmen? Nach dem Sturz des Zaren wurden neben Ministerien auch zahlreiche Institutionen wie Krankenhäuser, Ausbildungsstätten für Gesundheitsberufe sowie Forschungsinstitute gegründet. Gerade auf die Gesundheits- und Hygienepolitik war man besonders stolz. Mit diesen Neuerungen wurden in den 1930er Jahren die Grundlagen für Jahrzehnte der Gesundheitspolitik geschaffen. Auf diese Weise konnte man außerdem die "Zivilisation" auch in die entlegensten Republiken des riesigen Reiches bringen, wie in das ländlich geprägte, tropische Aserbaidschan - und damit die imperiale Eroberungspolitik des Zarenreiches unter anderen Vorzeichen fortsetzen. All diese Maßnahmen ließen sich außerdem auf der internationalen Bühne gut verkaufen und hinterließen selbst in westlichen Ländern Eindruck, trotz der Skepsis gegenüber der bolschewistischen Revolution (247). Ein objektiverer Blick war erst nach Öffnung der russischen und aserbaidschanischen Archive in den 1990er Jahren möglich, deren Quellen der Autor neben einer umfangreichen Liste internationaler Sekundärliteratur genutzt hat.

Braun gelingt es, die komplexen Aspekte der sowjetischen hygienepolitischen Maßnahmen am Beispiel Aserbaidschans zu differenzieren und gleichzeitig in einen historischen Zusammenhang zu stellen. Dabei war der Beginn der bolschewistischen Maßnahmen nicht die propagierte "Stunde Null" (248). Anders als zarische Kolonialisten hatten allerdings die bolschewistischen Revolutionäre den Anspruch, alle Bevölkerungsgruppen mit ihrer "Zivilisierungsmission" (10) zu erreichen, selbst diejenigen, die als im "Schmutz" (11) lebende Barbaren galten. Doch ungebrochen zogen auch die Bolschewisten eine Parallele zwischen dem Ausbruch der Seuchen und dem "kulturellen Niveau" (250) der Bevölkerung. Ergebnisse der eigens für die Erforschung der Malaria angestellten Wissenschaftler wurden nicht akzeptiert, wenn sie politischen Interessen entgegenstanden. So wurde etwa die "gewaltsame Kollektivierung" (96) mit dem Ziel eines groß angelegten Baumwollanbaus durch die massenhafte Erkrankung der umgesiedelten Arbeiter erheblich behindert. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die gegen solche Massenumsiedlungen von nicht immunen Arbeitern in die Seuchengebiete sprachen, blieben damit wirkungslos.

Die Bolschewisten ermöglichten zwar auch Randgruppen der angestammten Bevölkerung einen Aufstieg auf der Karriereleiter der neuen revolutionären Elite, verlangten aber unbedingte Loyalität und sicherten sich so die eigene Machtbasis. Unter dem Druck, perfekte Statistiken vorzulegen, wurden "ungelernte Arbeitskräfte" (109) als Experten deklariert, Ergebnisse wurden geschönt. Es fehlte nicht nur an Personal, sondern auch an der Koordination der einzelnen Einrichtungen. Trotz des Aufbaus der neuen Strukturen war die Hygienepolitik nur eingeschränkt erfolgreich. Zwar fielen die Zahlen nach der Malariaepidemie von 1930 wieder auf das vorherige Niveau, aber die neuen Maßnahmen hatten noch nicht greifen können. Insgesamt gingen die Zahlen der Malariainfizierten bis 1945 nicht in dem Maße zurück, wie man es hätte erwarten können. Und während die Malariabekämpfung in "breit angelegten Kampagnen"(135) verlief, war die Pest - die "orientalische Seuche" (136) - ein Tabuthema. Die Pestepidemie von 1931 unterlag größter Geheimhaltung; ihre Bekämpfung war nicht nur Sache der Gesundheitseinrichtungen, sondern auch des Geheimdienstes und sogar der Armee.

Dennoch waren Malaria und Pest seit den 1950er Jahren auch in der ehemaligen Sowjetunion weitgehend ausgerottet: Das 1942 in der Schweiz entwickelte DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) und ähnliche Produkte aus eigener Herstellung wurden ab 1951 in das nationale Hygieneprogramm eingebaut und in den Wohnungen an die Wände gesprüht. Bei der Verteilung und dem Einsatz des DDT waren die hygienepolitischen Strukturen wiederum hilfreich.

Nach der Einleitung gibt Braun in seinem ersten Kapitel "Diskurse und Diagnosen" den Leserinnen und Lesern die Basis zum Verständnis der beiden Seuchen und der klimatischen Bedingungen an die Hand und erläutert den Umgang mit ansteckenden Krankheiten im zarischen Russland und der jungen Sowjetunion. Das zweite Kapitel "Menschen und Mikroben" ist den Akteuren der Seuchenbekämpfung gewidmet. Dabei spielen die politischen Voraussetzungen und Vorhaben eine entscheidende Rolle. Im dritten Kapitel "Kader und Krankenhäuser" werden die Umstände der konkreten Malariabekämpfung, die teils chaotische Organisation und der stalinistische Terror, der auch vor der Hygienepolitik nicht haltmachte, beschrieben. Im letzten Kapitel "Exkurs" zieht Braun die Malariapolitik der Vereinigten Staaten, Italiens und der Türkei zu einem Vergleich mit der "sowjetischen Medizin" (262) heran. So versuchten etwa die Sowjetunion und die Türkei, auch unter Einsatz von Gewalt die Gesellschaften zu verändern, während die Vereinigten Staaten ihren Blick auf die Umwelt, also die Malariamücke und deren Bekämpfung, lenkten. Dieser Vergleich untermauert Brauns Abschlussthese in seinem Epilog, dass die "Malariapolitiken einzelner Staaten den verbreiteten Zeitgeist [spiegelten]" (264).

Detailreich und anschaulich, mit Fotos aus den Archiven illustriert, schildert Braun die Komplexität der sowjetischen Hygienepolitik am Beispiel Aserbaidschans. Der Text ist gut lesbar, das Thema umfassend bearbeitet. Braun hat mit seinem Buch Informationen aus den Archiven nun auch denjenigen Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht, die nicht die russische Sprache beherrschen. Er berücksichtigt in der breiten Auswahl der internationalen Sekundärliteratur nicht nur aktuelle Publikationen, sondern auch Veröffentlichungen aus den 1920er und 1930er Jahren. Ausgewertet wurden auch sowjetische Zeitungsartikel aus der beschriebenen Zeit sowie Dokumente der WHO. Ganz besonders im Zeichen der aktuellen (von Braun noch ungeahnten) Pandemie ist "Von Menschen und Mikroben" unbedingt lesenswert: Es schärft den Blick für die unterschiedlichen (gesundheits-)politischen Umgangsweisen mit einer die gesamte Menschheit derart verunsichernden Situation.

Ulrike Eisenberg