Rezension über:

Heinz Schilling: Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach, München: C.H.Beck 2020, 457 S., 3 Kt., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-74899-8, EUR 29,95
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Rezension von:
Christine Roll
Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Christine Roll: Rezension von: Heinz Schilling: Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach, München: C.H.Beck 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 1 [15.01.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/01/34109.html


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Heinz Schilling: Karl V.

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Mit der Biographie über Kaiser Karl V. hat Heinz Schilling nach der Luther-Biographie 2012 und der Weltgeschichte des Jahres 1517 in rascher Folge das dritte Buch über herausragende Gestalten und Ereignisse der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geschrieben.[1] Im Ergebnis liegen damit nun drei Bücher vor, einander inhaltlich wie konzeptionell zu einer Trias ergänzend, in denen Schilling seine Auffassung von der maßgeblichen Rolle seiner beiden Protagonisten für den Beginn der Neuzeit aus verschiedenen Blickwinkeln darstellt: Martin Luther, den Rebellen, und jetzt Karl V., dessen "weltgeschichtlichen Gegenspieler" (12). In die Logik des "Gegenspielers" gehört die hier zu besprechende Biographie.

Wie bei den anderen beiden Büchern verdeutlicht auch hier der Untertitel Botschaft und Programm: Karl ist der Kaiser, dem "die Welt zerbrach". Ihm ist es nicht gelungen, das zu bewahren, was ihm am wichtigsten war, die Einheit der lateinischen Christenheit. Doch selbst wenn das Scheitern Karls gleichsam über dem Buch zu schweben und darauf zuzusteuern scheint - mitnichten ist nur davon oder von Abschied und Sterben die Rede, so einfach ist es nicht! Vielmehr hat Heinz Schilling eine sehr schön zu lesende, ansprechend gestaltete, erzählerisch komponierte, in den vielen Details enorm kenntnisreiche und in der Gesamtwürdigung ungemein anregende Biographie geschrieben.

Die Durchdringung des gewaltigen Stoffs und seine Organisation hin auf eine Herrscherbiographie stellt indessen eine große Herausforderung dar. Die Geschichte Karls V. ist ja nicht nur immer auch europäische Geschichte, sondern zudem - und zwar nicht erst seit der Kaiserwahl von 1519 - die Geschichte vielfacher Wechselwirkungen. Schauplätze können nicht mehr isoliert gedacht, Konflikte nicht mehr einzeln für sich behandelt werden, weder von den Zeitgenossen noch von der Geschichtswissenschaft. Schilling hat daraus die überzeugende Konsequenz gezogen, eine Kapitelgliederung nach der Chronologie vorzunehmen. Er benennt dafür jeweils ein wichtiges Ereignis durch Ort und Jahr, nicht selten ergänzt um das Tagesdatum, und setzt dahinter eine programmatische Überschrift mit hohem Wiedererkennungswert.

Die erste Kapitelüberschrift lautet folglich: "Gent 24. Februar 1500 - Kind der Freude und der Stolz Burgunds". Nach Valladolid 1517 "ein Europa und die Welt umspannendes Erbe" folgt als drittes Kapitel "Frankfurt 23. Juni 1519; Aachen 23. Oktober 1520 - Deutscher König und Erwählter Römischer Kaiser". Das Inhaltsverzeichnis lesend, folgt man also in gewisser Weise den Reisen des Kaisers zu den wichtigen Schauplätzen seines Lebens: über Worms 1521, Pavia 1525, Bologna und Augsburg 1530 zunächst bis nach "Tunis 1535 - Auftakt zum Kreuzzug gegen die Türken?". Das 9. Kapitel, das als "Leyes Nuevas 1542" den "Streit um die Seelen und das Gold der Indios" behandelt, fällt plausiblerweise ein wenig aus dieser Reihe heraus, bevor im 10. Kapitel, dann wieder nach dem beschriebenen Muster, nämlich an einem markanten Ort, ein entscheidendes Ereignis für Schillings Buch zur Sprache kommt: "Mühlberg 24. April 1547" und anschließend gleich "der geharnischte Reichstag von Augsburg 1547/48". Über "Villach Mai 1552 - Herabgeschleudert vom Rad der Fortuna" und "Brüssel 1555/56 - Zeremoniell des Rückzugs" erreicht man schließlich "Yuste 21. September 1558 - Sterben in Christo".

Jedes Kapitel enthält eine Reihe von Unterkapiteln, die das jeweils im Mittelpunkt stehende Ereignis um weitere Aspekte ergänzen und in den historischen Kontext einordnen. Die Unterkapitel sind ebenfalls mit sprechenden Überschriften versehen; das jeweils erste wird meistens durch ein einschlägiges und anschauliches Quellenzitat eingeleitet. Gerahmt werden die insgesamt 13 Kapitel von einem kurzen "Prolog" und einem längeren, 17-seitigen "Epilog". Der Band enthält 40 Abbildungen, neben einigen einschlägigen auch überraschende und weniger bekannte. Im umfänglichen Anhang (391-457) finden sich außer den Anmerkungen, die ganz überwiegend die Quellenzitate und Literaturreferenzen dokumentieren, eine genealogische Übersicht, ein Personenregister und das Quellen- und Literaturverzeichnis sowie darüber hinaus zweieinhalb Seiten zur "Forschungslage und Positionsbestimmung".

Die Gliederung der Biographie ist folglich übersichtlich, eingängig und damit auch für ein breites Publikum hoch attraktiv. Sie bietet dem Autor ferner die große Chance, die Komplexität des Geschehens dynamisch darzustellen, also, wo erforderlich, weiter auszuholen, an anderen Stellen zu raffen, auf eine konkrete Situation hin zu fokussieren, zu argumentieren, zu akzentuieren und damit der Erzählung eine individuelle Note zu geben. Und Schilling nutzt diese Chance! Sein umfassendes Wissen über die Epoche kommt hier glänzend zur Geltung. Ganz wunderbar zu lesen sind zum Beispiel die Kapitel über den jungen Herzog von Burgund, dessen Jugend, Erziehung und kulturelle Prägung in der Welt der Dynastien, des Rittertums und des Glaubens, über das Zeremoniell des Herrschaftsantritts dort wie über die erste Begegnung mit Spanien, mit der Mutter und dem Bruder - alles ausgesuchte und sehr detailliert dargestellte Szenen, interpretiert auf dem neuesten Forschungsstand.

Ebenso souverän geht Schilling mit den vielen Ereignissen um, bei denen Karl persönlich nicht zugegen war. Je nach dem, wie er akzentuieren will, berichtet er darüber ausführlich oder erwähnt sie nur kurz am Rande. So kommen etwa die Reichstage der 1520er Jahre und die Protestatio genauso wie die Wiener Türkenbelagerung, die Thronfolge Ferdinands in Böhmen und Ungarn wie auch seine Wahl zum Römischen König nur in wenigen Sätzen zur Sprache. Gleiches gilt für die Religionsgespräche der 1540er Jahre. Sogar der Augsburger Religionsfriede ist Schilling nur eine kurze Erwähnung wert (322) - während er dem Besuch des Kaisers in Mantua bei den Gonzaga im Februar 1530 als "Paradebeispiel für die Absicherung der kaiserlichen Herrschaft in Oberitalien" (172) über drei Seiten widmet.

Allerdings erschließt sich bei der Lektüre nicht immer, an welchen Stellen strukturelle Ergänzungen, Einschübe und Erklärungen in die chronologische Erzählung eingefügt werden. Einige Rück- und Vorblenden erscheinen assoziativ, früher Geschildertes findet man mitunter nur nach längerem Blättern wieder. Haben die Vorblenden und hat der Ausblick ins weitere Geschehen nicht doch Grenzen in den Gesetzen der Chronologie? Müssen nicht erst, um ein Beispiel zu nennen, der Augsburger Reichstag von 1530 und der Schmalkaldische Bund 1531 vorgekommen sein, bevor man die "Anstände" (1532 und 1539) sinnvollerweise erwähnen kann? In manchen Kapiteln gerät die thematisch orientierte Erzählstruktur der Kapitel mit der Chronologie innerhalb der Kapitel in Konflikt; das ist z.B. im Tunis-Kapitel mit dem Unterkapitel "Rückkehr in den mächtepolitischen Alltag" (249-251) der Fall, weil Schilling an den Tunis-Feldzug 1535 gleich das Desaster von Algier 1541 anschließen möchte, dazu aber vorher doch den Kontext der Verträge von Aigues-Mortes und Nizza 1538 braucht. Der recht freie Umgang mit der Chronologie innerhalb der Kapitel verlangt dem Leser/der Leserin also recht viel ab. Andererseits: Die Mühe lohnt sich in der Regel, zumal Schilling seine "Rückkehr" von solchen Ausflügen in entferntere Kontexte zumeist sehr gut gelingt und man ihm gerne wieder in seinen Haupterzählstrang folgt: "wir kommen zurück zu..."

Auch bei der Platzierung von strukturellen Erläuterungen auf der Ebene von Unterkapiteln leuchtet nicht alles ein. "Warum hier?", möchte man den Autor dann fragen. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, warum Schilling die beiden Unterkapitel "Logistische Probleme eines überspannten Herrschaftsraumes" und "Regieren als Familienunternehmen" (105-114) zwischen die Kaiserwahl und den Wormser Reichstag klemmt. Im erstgenannten Unterkapitel wird mit der Vielzahl, Weiträumigkeit und Unterschiedlichkeit der einzelnen Länder Karls V. eines der strukturellen Kernprobleme seiner Herrschaft vorgestellt, im zweiten werden die Lösungen der Habsburger für diese Herausforderungen skizziert. Vielleicht hätte dieser Fragenkreis ein eigenes Kapitel verdient; auf jeden Fall aber müsste davon die Rede sein, dass die Lösung - die Praxis des Regierens durch dynastische Regentschaften und die Kommunikation der Beteiligten über ein ausgefeiltes Korrespondenzsystem - erst nach der tentativen Phase der 1520er Jahre ihre bleibende Ausprägung fand. Zu den Voraussetzungen für das erstaunlich gute Funktionieren dieser Praxis seit den 1530er Jahren gehörte neben dem außergewöhnlichen Familienethos der Habsburger, das Schilling zu Recht immer wieder betont, zudem die Einbindung der Regentinnen und Regenten in die eben dadurch stärker - oder überhaupt erst - institutionalisierte Zentralverwaltung der einzelnen Länder; und dazu gehörte ferner die Kaiserkrönung Karls V. durch den Papst, weil aus Karls Sicht erst danach die Wahl Ferdinands zum Römischen König und damit reichsrechtlich anerkannten Vertreter des Kaisers im Reich erfolgen konnte. Um das Strukturproblem als politische Herausforderung und das Regentschaftssystem als einen Lösungsweg der Habsburger zu kennzeichnen, wäre den beiden Unterkapiteln folglich ein Platz nach dem Augsburger Reichstag von 1530 zuzuweisen gewesen.

Um eine dritte und grundsätzlich andere Art von Einschüben in den Erzählstrang handelt es sich bei den zahlreichen Vorblenden, die immer wieder und scheinbar unvermittelt auf das letztendliche "Scheitern" des Kaisers verweisen. Zum Beispiel wird man im Pavia-Kapitel "Triumph über Franz I." nicht nur darüber und über den weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen um Oberitalien und Burgund bis in die 1540er Jahre hinein informiert, sondern am Ende sieht man sich plötzlich konfrontiert mit einem Ausblick auf den kaiserlichen Sieg über die Protestanten bei Mühlberg, der - "allein, Göttin Fortuna blieb auch dem Kaiser nicht treu" (183) - jedoch ebenfalls nicht von Dauer gewesen sei. Heinrich II. sei es 1550-1552 gelungen, die Niederlagen seines Vaters wettzumachen, und Karl "war der Weg nach Brüssel und zum Verzicht auf Herrschaft und Kaisertum gewiesen" (184). Das Pavia-Kapitel, das einen der größten Erfolge des kaiserlichen Militärs zum zentralen Thema hat, steht bei Schilling also schon im Schatten der "Niederlage des Kaisers und seines universalistischen Ordnungskonzepts" (184). Weder Pavia noch Tunis noch Mühlberg, keiner der kaiserlichen Triumphe, kann in Schillings Narrativ auch nur vorübergehend als solcher stehen bleiben. Denn, so darf man wohl mit Schilling formulieren, die Zeichen der Zeit standen auf Herausbildung der Konfessionen und der Staatenpluralität, weshalb das universalistische Konzept Karls V., in macht- wie in religionspolitischer Hinsicht, sein Scheitern schon in sich trug.

Dieses Narrativ basiert, wie eingangs erwähnt, auf der Logik des "Gegenspielers". Karl V. ist für Schilling vor allem in der Rolle als Gegenspieler Martin Luthers und dieser wiederum in erster Linie "als Begründer von Neuzeit und Moderne" (395) von historischem Interesse. So ist es auch vollkommen schlüssig, dass die Ausblicke auf das Scheitern der universalistischen Ansprüche Karls V. mit dem Auftreten Luthers auf dem Wormser Reichstag 1521 beginnen. Hier, "an diesem geschichtlichen Wendepunkt", begegnen sich die "Hauptkonkurrenten [ ...] Kaiser und Reformator" (127) erstmals. Ausführlich schildert Schilling die eigenhändige Stellungnahme Karls als "Bekenntnis des Kaisers" (133), mit dem dieser der persönlichen Religiosität Luthers ein anderes "Reformmodell zur Erneuerung der Christianitas aus kaiserlicher Tradition" (134) entgegengestellt habe.[2] Beide jedoch, so Schilling, sind mit ihren Programmen gescheitert (12). Aber nur als Gescheiterte kann er sie für den Beginn der Neuzeit in Anspruch nehmen.

Die Modernisierungsperspektive, die Heinz Schilling als einer der Begründer der Konfessionalisierungsthese jahrzehntelang vertreten hat, nimmt er nun auch in der Biographie Karls V. ein und schreibt so Kernthesen seines Gesamtwerks fort. Dies hat den unbestreitbaren Reiz, dass er an der Lebensgeschichte einer der maßgeblichen Herrscherpersönlichkeiten des 16. Jahrhunderts mit der Herausbildung der Konfessionen und eines europäischen Staatensystems wichtige Merkmale des neuzeitlichen Europa sichtbar machen kann. Mehr noch: Indem Schilling das Modernisierungsparadigma über die Lebensgeschichte Karls V. legt und diese kunstvoll mit dessen Scheitern verbindet, kann die Herausbildung des Pluralismus dem historischen Akteur sogar zugerechnet werden. Der aus strukturellen Gründen gescheiterte Gegenspieler Luthers braucht genau diese Biographie.

Konsequenterweise bestimmt die Fokussierung Schillings auf Karl V. als Gegenspieler Luthers auch seine Erzählperspektive und sein Selbstverständnis als Erzähler: die Unterordnung der historischen Narration nicht nur unter das umfassende Wissen des Erzählers, sondern auch unter seine Deutungshoheit. Weder das Fremde an Karl ist Schillings Thema noch das mühsame Suchen und das Unsichere; gerade auch bei der Interpretation der vielen Quellen eher nicht. Hier würde sich die Rezensentin weniger Suggestion von Vertrautheit als vielmehr Erklärung der fremden Verhältnisse wünschen. Als Handelnder in seiner Zeit, als durch höchst komplexe Kontexte Geforderter - religiös, machtpolitisch, in den Verwandtschaftsbeziehungen, den Kommunikationsstrukturen und immer abhängig von der Mitwirkungsbereitschaft vieler anderer (Papst!) - wird Karl V. nicht durchgängig erkennbar. Schilling schildert Karl V. als Programmatiker. Die Rezensentin würde sich wünschen, dass das Handeln Karls zukünftig stärker situativ gedeutet würde; nicht nur 1521 in Worms.


Anmerkungen:

[1] Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. München 2012, seither in vierter Auflage; ders.: 1517. Weltgeschichte eines Jahres. München 2017.

[2] Vgl. auch in den Überschriften der Unterkapitel die Parallelisierung von "Das in Gott gefangene Gewissen des Reformators" und "Das in Tradition und Glauben gefangene Gewissen des Kaisers" (129-136).

Christine Roll