Alina Laura Tiews: Fluchtpunkt Film. Integrationen von Flüchtlingen und Vertriebenen durch den deutschen Nachkriegsfilm 1945-1990 (= Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert; Bd. 6), Berlin: BeBra Verlag 2017, 368 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-95410-092-7, EUR 32,00
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Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs aus den ehemaligen Ostgebieten zählt zu den wichtigsten Themen der medialen Erinnerungskultur in Deutschland. Das gilt keineswegs erst seit den immens erfolgreichen TV-Produktionen in der jüngeren Vergangenheit (u.a. "Die Flucht" von 2007), sondern - in wechselnder Intensität - bereits seit den 1950er Jahren. Anders als häufig behauptet, wurde über die Erfahrungen der geflüchteten Deutschen nicht jahrzehntelang geschwiegen. In der Bundesrepublik stand das Thema von Beginn an auf der politischen Agenda und wurde kontrovers diskutiert. Nicht nur das eigens dafür geschaffene Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte kümmerte sich um die Angelegenheiten der Vertriebenen, auch in den Medien stand ihr Schicksal häufig im Fokus des Interesses. Fiktionale Kino- und Fernsehfilme, in denen Flucht und Vertreibung als Themen aufgegriffen wurden, stießen mitunter auf ein bemerkenswertes Publikumsinteresse. In der DDR war das Thema zwar deutlich größeren Tabus unterworfen. Die "Befreiung vom Faschismus" durch die "Rote Armee" überlagerte als Narrativ die Opfererfahrungen der Flüchtlinge, die zudem verharmlosend als "Umsiedler" bezeichnet wurden. Aber auch in der DDR griffen zahlreiche Filme die Erfahrungen der am Kriegsende geflüchteten Deutschen auf, wenngleich mit anderen politischen und ideologischen Implikationen als in der Bundesrepublik.
Das deutsch-deutsche Spannungsverhältnis in der filmischen Rezeption von Flucht und Vertreibung hat Alina Laura Tiews in ihrer Dissertation für den Zeitraum von 1945 bis 1990 im Detail untersucht. Ihre Studie reiht sich ein in eine inzwischen recht umfangreiche Forschungsliteratur, die die deutsche Film- und Mediengeschichte der Nachkriegszeit nicht mehr mit einem genuin ost- oder westdeutschen Blick betrachtet, sondern anhand von konkreten Untersuchungsfeldern eine gesamtdeutsche, integrative Perspektive auf die kulturellen Entwicklungen in den Jahren der Teilung einnimmt. Inhaltlich bezieht sich Tiews primär auf jene Spielfilme und Fernsehmehrteiler, die beim Publikum besonders erfolgreich waren - und zwar unabhängig vom konkreten Genre, da das Thema "Flucht und Vertreibung" nicht nur in den signifikanten Trümmer- und Heimatfilmen der unmittelbaren Nachkriegszeit eine wichtige Rolle spielte, sondern später auch in Komödien, Kriminalfilmen oder Familienserien aufgegriffen wurde. Insgesamt hat Tiews zehn umfangreiche Fallstudien erarbeitet, die in der Untersuchung chronologisch angeordnet sind. Die Aufteilung in "Gegenwartsfilme" (für den Zeitraum von 1946 bis 1964) und in "Historienfilme" (für die Zeit von 1965 bis 1989/90) ist zwar nicht immer trennscharf, erscheint aber dennoch plausibel, da sich mit dem Generationswechsel der 1960er Jahre auch der mediale Diskurs über Flucht und Vertreibung veränderte. Während die Filme das Thema in der Nachkriegszeit noch vor dem Hintergrund der individuellen Erfahrungen der Zuschauerinnen und Zuschauer aufgriffen, setzte ab Mitte der 1960er zunehmend eine Historisierung von "Flucht und Vertreibung" ein.
Methodisch verschränkt Tiews in ihrer Arbeit medien- und geschichtswissenschaftliche Ansätze auf eine sehr produktive Art und Weise. In Anlehnung unter anderem an die konzeptionellen Arbeiten von Astrid Erll und Stephanie Wodianka, die sich in theoretischer Hinsicht mit der Bedeutung filmischer Narrationen für die Erinnerungskultur befasst haben, zielt die Untersuchung darauf ab, die "plurimedialen Netzwerke" der Filme zu analysieren. Tiews beschränkt sich dementsprechend nicht auf eine inhaltliche Interpretation der Filme und die Analyse ihrer ästhetischen Mittel, sondern erörtert zugleich auf einer breiten Quellenbasis die Hintergründe ihrer Entstehung, die jeweiligen Produktionsbedingungen und die zeitgenössische Rezeption in den einschlägigen Medien bzw. durch die Zuschauer selbst, sofern es hierzu empirisches Material gibt (beispielsweise Leserbriefe und Zuschriften an Sendeanstalten etc.). In vielerlei Hinsicht ist die Arbeit damit ein Paradebeispiel für ein interdisziplinäres Forschungsverständnis, das sowohl geschichts- wie medienwissenschaftliche Erkenntnisinteressen bedienen kann.
Die einzelnen Fallstudien beziehen sich im Detail auf die Spielfilme und Fernsehmehrteiler "In jenen Tagen" (Britische Zone 1947), "Die Brücke" (Sowjetische Zone 1948/49), "Grün ist die Heide" (Bundesrepublik 1951), "Schlösser und Katen" (DDR 1956/57), die Folge "Rehe" aus der TV-Kriminalserie "Stahlnetz" (Bundesrepublik 1964), "Wege übers Land" (DDR 1968), "Daniel Druskat" (DDR 1976), "Jauche und Levkojen" / "Nirgendwo ist Poenichen" (Bundesrepublik 1977/78), "Heimatmuseum" (Bundesrepublik 1988) und "Märkische Chronik" (DDR 1983). Die Studien sind durchweg akribisch erarbeitet und fokussieren im Kern auf zentrale Handlungsmotive, wiederkehrende Erzählmuster, Figurenkonstellationen sowie gestalterische Elemente, die in den Filmen zur Darstellung der Flucht-Thematik eingesetzt werden. Demgegenüber bleiben andere Filmbeispiele, die Tiews als "Sonderfälle" klassifiziert und zum Teil auf sehr geringem Raum abhandelt, in der Darstellung leider etwas blass, obwohl sie eigentlich einer tiefergehende Analyse bedurft hätten, wie zum Beispiel im Fall von "Jadup und Boel", dem letzten DDR-Verbotsfilm aus dem Jahr 1980, der konträr zu den anderen filmischen Erzählungen in der DDR über Flucht und Vertreibung lag.
Wenngleich die wirtschaftlichen Voraussetzungen und die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Filmproduktion in beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich waren, zeigt Tiews in ihrer Untersuchung gleichwohl, wie eng verzahnt und wechselseitig verflochten die Darstellung von Flucht und Vertreibung in den ost- und westdeutschen Filmen gewesen ist. Dies betrifft beispielsweise die harmonisierende Intention der zuschauerstarken Filme in Ost und West, insbesondere in den 1950er Jahren. Zwar blieben darin die Probleme der geflüchteten Deutschen nicht vollständig ausgespart, häufig dienten diese jedoch nur als dramaturgischer Kontrast für die letztlich erfolgreiche Integration der Vertriebenen in die ost- bzw. westdeutsche Gesellschaft. Unabhängig von den unterschiedlichen erinnerungspolitischen Diskursen in der DDR bzw. in der Bundesrepublik arbeitet Tiews den sinnstiftenden Charakter der filmischen Erzählungen heraus. Sie sollten das jeweilige Gedenken legitimieren und konsensfähig machen: "in der Bundesrepublik im Kontext deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa, in der DDR im Kontext eines antifaschistischen Neuanfangs und der Erfolgsgeschichte des sozialistischen Integrationsmodells" (324f.). Die Voraussetzung für den Erfolg der Filme beim Publikum war indes, dass die häufig komplexen historischen Zusammenhänge vereinfacht und auf zentrale Motive reduziert wurden. Dominant waren vor allem die ikonographischen Bilder des "Trecks", die sich in vielen Filmen zum Thema wiederfinden. Tiews beschreibt den "Treck" nicht nur als bedeutenden filmischen Erinnerungsort, sondern problematisiert zugleich den häufig unreflektierten Gebrauch der Bilder und die damit einhergehende Reduzierung auf den Charakter der "Flucht", während konkrete Vertreibungen oder Umsiedlungen deutlich seltener ins Bild gesetzt wurden.
Einzelne Interpretationen von Tiews im Hinblick auf die konkrete Wirkung der Filme und ihre Wahrnehmung durch das (zeitgenössische) Publikum erscheinen hingegen etwas spekulativ. So schließt die Autorin beispielsweise aus der Tatsache, dass manche Filme von einem Millionenpublikum gesehen wurden, dass sie selbst "einen äußerst wichtigen Teil zur Integration der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Umsiedler" beigetragen hätten. So plausibel das zunächst scheint, allein auf der Basis der quantitativen Rezeption lässt sich nur wenig über die individuelle (oder gar kollektive) Wahrnehmung eines Films sagen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass insbesondere die Inszenierungen im westdeutschen Fernsehen auch vom ostdeutschen Publikum rezipiert worden sind und damit als Gegenerzählungen zum erinnerungspolitischen Diskurs in der DDR wirken konnten. Hier besteht sicherlich noch größerer Forschungsbedarf. Unterm Strich mindert dies die Forschungsleistung von Alina Laura Tiews jedoch nicht. Sowohl ihre präzise erarbeiteten Filmanalysen als auch die quellenkritische Einbettung der Filme in den jeweiligen Entstehungskontext machen ihre Untersuchung zu einer Studie mit Vorbildcharakter, an der sich ähnlich gelagerte Arbeiten bestens orientieren können.
Andreas Kötzing