Rezension über:

Samuel D. Kassow (ed.): In Those Nightmarish Days. The Ghetto Reportage of Peretz Opoczynski and Josef Zelkowicz (= New Yiddish Library), New Haven / London: Yale University Press 2015, LII + 309 S., ISBN 978-0-300-11231-3, USD 35,00
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Rezension von:
Andrea Löw
Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Löw: Rezension von: Samuel D. Kassow (ed.): In Those Nightmarish Days. The Ghetto Reportage of Peretz Opoczynski and Josef Zelkowicz, New Haven / London: Yale University Press 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/29205.html


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Samuel D. Kassow (ed.): In Those Nightmarish Days

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"Falls keiner von uns überlebt, soll wenigstens das bleiben." Diese Worte schreibt Emanuel Ringelblum Anfang 1944 über das Untergrundarchiv des Warschauer Gettos und dessen Sammlungen an seinen Freund Adolf Berman. [1] Wenig später wird sein Versteck verraten und entdeckt. Ringelblum, seine Familie und die übrigen dort Untergetauchten werden ermordet. Im Getto Litzmannstadt (Lodz, Łódź) notiert der Mitarbeiter des dortigen Archivs Oskar Singer im Juli 1942 in einer seiner Reportagen: "Schon jetzt hört man immer wieder die dumpfe Frage: Wird je ein Mensch der Nachwelt sagen können, wie wir hier gelebt haben und gestorben sind?" [2]

Emanuel Ringelblum, Oskar Singer und viele andere überlebten nicht, um "der Nachwelt" davon zu berichten. Doch Menschen in Gettos versuchten, Zeugnisse für diese Nachwelt zu hinterlassen, ihr Leben und ihr Leiden zu dokumentieren, und dies nicht nur in privaten Aufzeichnungen: Während es in Litzmannstadt innerhalb der jüdischen Administration ein Archiv gab, gründeten Wissenschaftler im Warschauer Getto ein Untergrundarchiv. Eine jenseits aller Vorstellungskraft liegende Realität wollten diese Menschen beschreiben und dokumentieren. Sie wollten, falls sie nicht überlebten, nicht auch noch die Erinnerung an sich und ihr Leiden den Tätern überlassen.

Ungeheuer beeindruckende Reportagen aus den Gettos sind von zwei Mitarbeitern dieser Archive, Kollegen von Ringelblum und Singer, überliefert, von denen eine Auswahl nun in englischer Übersetzung vorliegt: Perec Opoczyński und Józef Zelkowicz. Mit Samuel D. Kassow ist einer der größten Kenner des Ringelblum-Archivs der Herausgeber dieser Edition, die in der "New Yiddish Library" der Yale University Press erschienen ist. Aus seiner Feder stammt eine beeindruckende Darstellung der Geschichte dieses Untergrundarchivs und seiner Autoren. [3]

Große Teile der hier publizierten Quellen liegen bereits veröffentlicht vor, die Reportagen von Perec Opoczyński jedoch mit wenigen Ausnahmen nur auf Polnisch. [4] Die Texte von Józef Zelkowicz hingegen sind mit zwei Ausnahmen bereits in der von Michal Unger verantworteten 2002 erschienen Edition zu finden. [5] Sie wurden für diese Edition neu aus dem Jiddischen übersetzt. Der eindrucksvolle Text von Zelkowicz über die traumatischen Tage der "Allgemeinen Gehsperre" im September 1942, während derer Kinder, alte und kranke Bewohner des Gettos Litzmannstadt zusammengetrieben und in das Vernichtungslager Kulmhof (Chełmo) deportiert wurden, liegt zudem seit 2015 in einer deutschen Übersetzung vor. [6]

Trotzdem war es durchaus sinnvoll, die Reportagen (bzw. eine Auswahl daraus) hier noch einmal in einer gemeinsamen Edition zu veröffentlichen und sie damit gemeinsam zu betrachten, obwohl der eine Autor Leben und Sterben im Getto in Warschau dokumentiert, der andere in Litzmannstadt. Opoczyński und Zelkowicz hatten einiges gemeinsam. Vor dem Krieg hatten beide bereits u.a. als Journalisten gearbeitet. Sie setzten dies im Getto unter vollständig veränderten Bedingungen fort - und sie wussten nicht, ob ihre Texte jemals gelesen werden und wenn ja, wer die Leser sein würden. Wie Kassow in seiner Einleitung bemerkt: "But they continued to write 'as if'." (IX). Und so schrieben die beiden genauen Beobachter ihre eindrucksvollen Reportagen, die uns späten Lesern intensive Einblicke in das Leben in den Gettos geben und uns die Menschen und ihre Schicksale näher bringen, wie Kassow betont: "In these writings, the Jews have names, not numbers." (VIII).

Der völlig verarmte Opoczyński arbeitete im Getto als Briefträger, damit war er sehr nah dran an vielen seiner Schicksalsgenossen, erfuhr von ihren Problemen und Ängsten, wenn er ihnen ersehnte Briefe zustellte. In seiner Reportage "Der Gettobriefträger" berichtet Opoczyński davon und auch vom anfänglichen Misstrauen und Neid ihm gegenüber, der nun diese Stellung hatte und von manch einem verantwortlich gemacht wurde für diverse Missstände. Józef Zelkowicz wiederum war eine Zeit lang als Inspektor für die jüdische Administration unterwegs, um die Wohnungen bzw. Zimmer derjenigen Menschen zu überprüfen, die sich um eine Unterstützung seitens der Verwaltung bewarben. Einige der Texte, die in der vorliegenden Edition abgedruckt sind, schildern diese Besuche: In jedem Zimmer, das Zelkowicz inspizierte, sah er Trostlosigkeit, Not und Elend. Die Reportagen der beiden Chronisten zeigen eindringlich auf, wie verzweifelt das Schicksal der Gettobewohner war.

Dramatischer Schlusspunkt des Bandes sind die Aufzeichnungen, die Józef Zelkowicz im September 1942 anfertigte und die einen anderen Charakter als die Reportagen haben: Hier notiert er gewissermaßen in Echtzeit die Schrecken dieser Septembertage, nicht wissend, was jeweils noch folgen würde. Zelkowicz dokumentiert detailliert die Räumung der Krankenhäuser, die anschließende Ungewissheit und die brutalen Razzien nach Kindern und alten Gettobewohnern. Er verbindet das Kollektivschicksal des Gettos meisterhaft mit dem Schicksal Einzelner - und kann doch selbst nie wissen, ob er diese "Aktion" überleben wird: "Far from being a sagacious narrator or an inquisitive reporter, he was now peering directly into a monstrous horror that he had to struggle to understand." (XLII).

Perec Opoczyński und Józef Zelkowicz, die beiden bedeutenden Chronisten der Gettos in Warschau und Litzmannstadt, überlebten nicht. Opoczyński wurde vermutlich im Januar 1943 nach Treblinka deportiert. Zelkowicz verschleppten die deutschen Machthaber im August 1944 während der Auflösung des Gettos nach Auschwitz-Birkenau. Was bleibt, sind ihre Texte. [7]


Anmerkungen:

[1] Zitiert nach Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos, Reinbek bei Hamburg 2010, 16.

[2] Oskar Singer: "Im Eilschritt durch den Gettotag...". Reportagen und Essays aus dem Getto Lodz, herausgegeben von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke, Julian Baranowski, Krystyna Radziszewska, Krzysztof Wożniak. Berlin, Wien 2002, Eintrag vom 27.7.1942, 81.

[3] Kassow: Vermächtnis.

[4] Perec Opoczyński: Reportaże z warszawskiego getta, herausgegeben und übersetzt von Monika Polit, Warszawa 2009. Auszüge aus dem Tagebuch von Opoczyński sowie die Reportage "Jewish Postal Service in Warsaw and the Deportation" sind in englischer Übersetzung zu finden in: Joseph Kermish (ed.): To Live with Honor and Die with Honor!... Selected Documents from the Warsaw Ghetto Underground Archives "O.S." [Oneg Shabbath], Jerusalem 1986.

[5] Josef Zelkowicz: In those terrible Days. Writings from the Lodz Ghetto, edited by Michal Unger, Jerusalem 2002. Verschiedene (aber andere als die in dieser Edition veröffentlichten) Texte von Zelkowicz sind auch in englischer Übersetzung zu finden in: Isaiah Trunk: Łódź Ghetto. A History, translated and edited by Robert Moses Shapiro, Bloomington / Indianapolis 2006.

[6] Józef Zelkowicz: In diesen albtraumhaften Tagen. Tagebuchaufzeichnungen aus dem Getto Lodz/Litzmannstadt, September 1942, herausgegeben und kommentiert von Angela Genger, Andrea Löw und Sascha Feuchert, Göttingen 2015.

[7] Die Verfasserin dieser Rezension bereitet gemeinsam mit Markus Roth eine deutsche Auswahledition der Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv vor, in die auch mehrere Texte von Perec Opoczyński Eingang finden werden. Das Projekt ist eine Kooperation des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte, München, und der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Am Jüdischen Historischen Institut in Warschau entsteht eine vollständige Edition der Dokumente des Untergrundarchivs in polnischer Sprache, etwa 30 Bände sind bereits erschienen. Die Tageschronik, die im Archiv des Gettos Litzmannstadt geschrieben wurde, liegt in einer deutschen Übersetzung vor: Sascha Feuchert / Erwin Leibfried / Jörg Riecke (Hgg.): Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt, 5 Bde., Göttingen 2007.

Andrea Löw