Heinrich Kanz (Hg.): Josef Gieles: Studentenbriefe 1939-1942. Widerständisches Denken im Umfeld der Weißen Rose, 2., durchgesehene Auflage, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2013, 370 S., ISBN 978-3-631-64271-9, EUR 59,95
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Auch noch siebzig Jahre nach dem studentischen Aufstand der Weißen Rose gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und der Hinrichtung ihrer Hauptakteure Alexander Schmorell, Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Willi Graf und Professor Kurt Huber erregt ihre Geschichte die Gemüter. Die Weiße Rose gilt bis zum heutigen Tag als Symbol für "den" deutschen bürgerlichen Jugendwiderstand im Nationalsozialismus und steht daher für ein "anderes" helleres Deutschland. Vor diesem Hintergrund macht die vorliegende Briefedition des Medizinstudenten Josef Gieles während der Kriegsjahre 1939 bis 1942 neugierig. Bisher liegen von der Zentralgruppe der Weißen Rose die Briefe der Geschwister Scholl, die Tagebuchnotizen und Briefe Willi Grafs, der Briefwechsel Sophie Scholls mit ihrem Freund Fritz Hartnagel und die im Jahre 2011 veröffentlichten gesammelten Briefe Alexander Schmorells und Christoph Probsts vor. Erstmals haben wir nun eine interessante und äußerst umfangreiche Briefsammlung eines Angehörigen des weiteren Freundeskreises der Weißen Rose [1], der aber nicht an ihren Widerstandsaktionen in den Jahren 1942/43 beteiligt war.
Der 1918 geborene Josef Gieles stammte aus einer deutsch-nationalen, katholischen und dem NS-Regime gegenüber ablehnend eingestellten Pädagogen-Familie aus Kleinauheim, einem kleinen hessischen Ort bei Offenbach am Main. Er studierte seit Herbst 1939 in München Medizin. Als leidenschaftlicher Musiker wurde er schnell Mitglied des Münchner Bachchores, dem auch sein Offenbacher Schulfreund Otmar Hammerstein und später auch Hubert Furtwängler angehörten, die ebenfalls zum weiteren Freundeskreis der Weißen Rose gehören sollten. Ab Mai 1941 war Gieles Angehöriger der Studentenkompanie, wo er Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf kennenlernte. Da er gleich nach dem Abitur 1937 das Medizinstudium begann und nicht erst den Wehrdienst absolvierte, konnte er nach zehn Semestern Ende 1942 sein Staatsexamen ablegen. Im Januar 1943 wurde er als Arzt an die russische Front versetzt. Nach der Verhaftung der Geschwister Scholl fand die Gestapo bei ihnen seine Adresse. So wurden auch er und seine Post durchsucht. Aber man konnte ihm nichts Verdächtiges nachweisen. Er schickte seinen Eltern eine Warnung, die mit Hilfe seiner Schwester Agnes die Briefe Josefs in Blechdosen im Garten vergruben. Josef Gieles fiel am 27. Januar 1945 im Alter von 26 Jahren als Oberarzt in Guben an der Neiße.
Alle erhaltenen Briefe Josef Gieles aus seinen Münchner Studentenjahren, insgesamt 191, richten sich an seine Eltern und Geschwister. Sie werden ungekürzt und unverändert veröffentlicht. Warum sind diese Briefe so interessant? Sie liefern vor allem neue Einsichten in das katholische kulturelle Milieu Münchens, besonders des Hochlandkreises um den Publizisten Karl Muth, ein Umfeld, in dem sich auch Hans und Sophie Scholl bewegten. So gewinnen wir erstmals einen authentischen Einblick in die Art der Diskussionen, die die jungen Medizinstudenten mit Karl Muth führten, auch über die militärisch-politische Situation im Jahre 1942 und die Frage, was zu tun sei. Das Besondere dabei ist: Gieles blickt von außen auf diese Lebenswelt: distanzierter und kritischer als die Scholls. Ferner werden in seinen Briefen eine ganze Reihe von Kritikpunkten gegen den Nationalsozialismus angesprochen, die auch schon 1941 Hans Scholl und Alexander Schmorell bewegten: beispielsweise die nationalsozialistischen Aktionen gegen die katholische Kirche, wie die Aufhebung der Klöster und die Vertreibung ihrer Insassen oder auch die Schließung der theologischen Fakultäten an den Universitäten. Bei Gieles werden diese Vorgänge und ihre Folgen sehr drastisch und konkret gezeichnet, geradezu wie herangezoomt. Damit werden einige Gründe für die Entwicklung der Widerstandsbereitschaft der Medizinstudenten offener dargelegt. Ferner werden in seinen Briefen nicht nur die Struktur und Lebensbedingungen der Studentenkompanie, sondern auch ihre Atmosphäre sehr viel unverschlüsselter und detaillierter nachgezeichnet als wir es aus den Briefen von Hans Scholl oder Alexander Schmorell kennen. Auch dadurch gewinnen wir neue präzisere Einsichten in einige der Ursachen, die zur Entwicklung des Widerstandswillens der Weißen Rose führte. Wir können daher mit Hilfe dieser Briefe einige Aspekte der Vorgeschichte der Weißen Rose, ihrer Motive und des Ablaufes ihrer Ereignisgeschichte ergänzen.
Den Briefen von Josef Gieles kommt aber nicht nur im Zusammenhang mit der Geschichte der Weißen Rose eine wichtige Bedeutung zu. Sie beleuchten überdies sehr ausführlich die geistige und politische Entwicklung eines jungen katholischen Mannes im Zweiten Weltkrieg. Es ist interessant zu sehen, wie - bei allen deutsch-nationalen kulturellen Überlegenheitsgefühlen, die er noch während seines Einsatzes 1940 in Polen zeigt - seine kritische Distanz zum nationalsozialistischen Staat rasant wächst. Seine äußerst offene, ja geradezu radikale Kritik erreicht einen Höhepunkt, als er über die nationalsozialistischen Krankenmordaktionen und deren Verantwortliche nach Hause schreibt: "Die Hunde gehören an die Wand gestellt, samt und sonders. Mit Wonne würde ich sie alle erschießen. Diese Bestien bringen doch nur Unglück ins Land und ins Volk und es ist, wenn es so weitergeht, eigentlich bald eine Frage der Notwehr!" [2]
Sein Weg führt dann aber nicht, wie bei den Hauptakteuren der Weißen Rose in den politischen Widerstand, sondern verstärkt in die katholische Gegenwelt und zu dem Entschluss, der Allgemeinheit als Arzt an der Front zu dienen. Es ist dabei berührend, mit welcher Gewissenhaftigkeit Josef Gieles in seinen Familienbriefen um die richtige geistige Position ringt und darüber Rechenschaft ablegt.
Eine Kurzbiographie des Briefautors wird den Brieftexten vor- und ein Anmerkungsapparat ihnen nachgestellt. Im Anhang des Buches finden sich, neben einem Gesamtverzeichnis der Briefe, heimatgeschichtliche Veröffentlichungen über Kleinauheim und ein Bericht über Familie Gieles während des Nationalsozialismus. Im Nachwort wird die Identitätsfindung Joseph Gieles anhand seiner Briefe analysiert. Eine Literaturauswahl und ein Namens- und Sachverzeichnis beschließt die Briefedition. Zur Veranschaulichung sind ein Brief Josef Gieles in Faksimile und außerdem vier Photographien von ihm bzw. seiner Familie und seinen Freunden aus dem Bachchor in der Briefausgabe abgedruckt.
Herausgeber dieser zweiten Auflage ist der Schwager von Josef Gieles, der emeritierte Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Heinrich Kanz, der die erste Auflage gemeinsam mit seiner Frau Agnes, der Schwester von Gieles, 1992 veröffentlicht hatte. Leider ist die zweite Auflage fast unverändert, so dass der in den letzten beiden Jahrzehnten erarbeitete aktuelle Forschungsstand zur Weißen Rose unberücksichtigt bleibt. Allein ein neues erstes Vorwort und der Untertitel "Widerständiges Denken im Umfeld der Weißen Rose" sind hinzugekommen. Diese wichtige Briefsammlung hätte eine intensivere historisch-wissenschaftliche Bearbeitung verdient. Zwar wird nun zu Recht neue Aufmerksamkeit für diese Briefe geschaffen, doch ihr tatsächlicher Wert vor allem für eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Weißen Rose ist noch nicht erschlossen. Mit einer differenzierten historisch-politischen Einordnung können diese Briefe ein wichtiger Baustein für das vielfältige Mosaik der "Weißen Rose" sein.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu ausführlicher: Heinrich Kanz (Hg.): Der studentische Freundeskreis der Weißen Rose. Ausgewählte Brief- und Tagebuchauszüge, Frankfurt am Main 2011.
[2] Brief Josef Gieles an seine Eltern vom 30. Juli 1941, 166.
Christiane Moll