Rezension über:

Wolfgang von Hippel / Bernhard Stier: Europa zwischen Reform und Revolution 1800-1850 (= Handbuch der Geschichte Europas; Bd. 7), Stuttgart: UTB 2012, X + 574 S., 13 Karten, 4 Abb., 8 Tabellen, ISBN 978-3-8252-3585-7, EUR 24,99
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Rezension von:
Andreas Fahrmeir
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fahrmeir: Rezension von: Wolfgang von Hippel / Bernhard Stier: Europa zwischen Reform und Revolution 1800-1850, Stuttgart: UTB 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/07/21031.html


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Wolfgang von Hippel / Bernhard Stier: Europa zwischen Reform und Revolution 1800-1850

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Mit dem vorliegenden Band findet das Handbuch der Geschichte Europas seinen Abschluss - und Theodor Schieders Handbuch der europäischen Geschichte hat einen umfassenden, konziseren und moderneren Nachfolger. In den 1960er und 1970er Jahren war der Blick auf die "europäische Geschichte" noch kein selbstverständliches Unterfangen. Vor dem Hintergrund der Teilung Europas, die mit der Zeit intensiver zu werden schien, war es beinahe unvermeidlich, europäische Geschichte überwiegend als Kompendium der europäischen Nationalgeschichten in ihrer Verflechtung zu verstehen. Der Titel des letzten Bandes des alten Handbuchs - "Europa im Zeitalter der Weltmächte" - markierte vor allem den Abtritt "Europas" von der Weltbühne, nachdem es im "Zeitalter der Nationalstaaten" vor dem Ersten Weltkrieg noch eine "europäische Weltpolitik" gegeben hatte. [1] War somit allein die Entscheidung, an Europa als Kategorie festzuhalten, als Gegenposition zu einer nationalhistorischen Perspektive in gewisser Weise automatisch innovativ, so hat sich die Position Europas als historischer Forschungsgegenstand seither deutlich verändert. Inzwischen scheint einer europäischen Fokussierung angesichts des überall zu spürenden Aufbruchs ins Globale, der Kritik am Eurozentrismus und am Verlauf des europäischen Einigungsprozesses fast schon etwas Konservatives anzuhaften. So klingt die Passage des Vorworts des Handbuchs der Geschichte Europas, in der die Untersuchung der Vorgeschichte des modernen Europa als Dienst am "Verständnis der europäischen Integration" (10) beschrieben wird, in einer Zeit der Krise des politischen "Europa" einerseits nostalgisch, andererseits teleologisch-normativ.

Das Handbuch der Geschichte Europas entzieht sich freilich der Gefahr der politischen Instrumentalisierung strukturell bereits dadurch, dass es dort aufhört, wo die Geschichte der institutionellen Einigung Europas beginnt, inhaltlich durch den Charakter eines neutralen Handbuchs, das allenfalls auf einer sehr vermittelten Ebene politische Folgen oder Intentionen haben kann, da es Elemente der Pluralität in Europa ebenso hervorhebt wie solche der Homogenität - also Differenzen und Gemeinsamkeiten gleichermaßen (und nur das kann ja ein sinnvoller Beitrag zum Verständnis der europäischen Integration mitsamt ihrer Risiken und Chancen sein).

Dass diesem Band eine teleologische Perspektive ebenso fern liegt wie dem Projekt insgesamt wird immer wieder an überraschenden Details deutlich, die Erwartungen von Kontinuitäten aufrufen, um sie gleich zu relativieren. So wählt die Gliederung von Teil 2 zwar bisweilen moderne statt zeitgenössischer Grenzen als Einheiten (Italien, Polen), doch der Text dekonstruiert das sofort durch den Hinweis auf die 90 Staaten Europas (staatsrechtlich korrekt wird jeder Schweizer Kanton getrennt gezählt), durch das differenzierte Panorama der diversen Staatstypen, die das Europa des frühen 19. Jahrhunderts prägen und durch eine komplette Systematisierung, die eben auch Andorra, San Marino und Monaco als charakteristische Elemente der europäischen Staatserfahrung sieht.

Die Autoren begründen die Zäsuren der Epoche, die ihr Band behandelt, damit, dass 1799 und 1850 zwei Revolutionen endeten: die große Französische Revolution von 1789 und die Revolutionen von 1848. In den dazwischen liegenden Jahren sehen sie politische, ökonomische und kulturelle Entwicklungen am Werk, die sie "in einem undogmatisch gehandhabten Konzept der 'Modernisierung'" bündeln (15). Diese Modernisierung erscheint hier nicht als systematischer, vorhersagbarer Prozess mit einem klaren Ziel, sondern als Folge einer Kombination politischer Diskussionen und Erfahrungen, in denen Schlüsselbegriffe wie Revolution, Restauration oder Reform ihre seither gültigen Bedeutungen erhielten, sowie einer Reihe explizit als 'modern' beschriebener Prozesse wie Staats- und Nationsbildung (21), Ideologisierung (23) oder Parteibildung (24). Zwar betonen die Autoren auch die Elemente ökonomischer Dynamisierung und die Verbesserung der Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse, aber sie verweisen im Einklang mit dem Forschungsstand darauf, dass die Rhythmen dieser Ebene der Dynamisierung die Grenzen der 50 Jahre zwischen 1800 und 1850 je nach Land in die eine oder andere Richtung deutlich überschritten.

Gemäß der Konzeption des Handbuchs gliedert sich die Darstellung in vier Teile. Der erste beschreibt Tendenzen der Epoche und liefert einen ersten konzeptionellen wie chronologischen Durchgang, in dem die militärischen und außenpolitischen Konflikte einerseits, die Beziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt andererseits besonders breiten Raum einnehmen. Hier finden sich somit Informationen zu Kriegen und Friedensschlüssen, Revolutionen und pan-europäischen bzw. überregionalen politischen Bewegungen.

Teil 2 liefert eine nach Ländern bzw. Regionen (Be-Ne-Lux, Skandinavien, Balkan) gegliederte Darstellung, in denen innenpolitische Entwicklungen im Zentrum stehen. Dieser Teil fällt im Vergleich zu Schieders Handbuch deutlich kürzer aus, so dass nicht jedes Detail behandelt werden kann, jedoch liefert jedes Staats-Kapitel einen konzisen Abriss der innenpolitischen Entwicklungen und Zäsuren sowie Hinweise auf weiterführende Literatur.

Teil 3 widmet sich in einer am Muster der Gesellschaftsgeschichte Wehler'scher Prägung angelehnten Gliederung übergreifenden Entwicklungen: Demographie, Wirtschaft, Gesellschaft, Herrschaftsausübung, Religion und Kultur. Der abschließende vierte Teil diskutiert zentrale Forschungskontroversen zur Epoche insgesamt sowie zu einzelnen Aspekten (etwa Napoleon, der Struktur von Außenpolitik, dem Nationalismus usw.). Man könnte der Gliederung vorwerfen, dass sie gewisse Duplizierungen unvermeidlich macht, denn französische Parteien spielen sowohl für die Kriege des frühen 19. Jahrhunderts wie für die innenpolitische Dynamik Frankreichs wie für die Strukturen der Herrschaftsausübung im Europa des 19. Jahrhunderts eine Rolle (und sie könnten ja sogar Gegenstand von Forschungskontroversen sein). Sie hat jedoch den großen Vorteil, dass sie das rasche Auffinden von Informationen, die eine zentrale Aufgabe eines Handbuchs ist, stark erleichtert.

Man sollte das Handbuch aber nicht so nutzen. Im Gegensatz zu den Schieder'schen Bänden kann man dieses Handbuch ja tatsächlich in einer Hand halten und jeden Band von Anfang bis Ende lesen. Erst dann wird deutlich, dass die Autoren den mehrfachen Durchgang durch die Geschichte zu einer unaufdringlichen Differenzierung der Perspektiven nutzen: Während Teil 1 notgedrungen die Gemeinsamkeiten betont (und damit gezwungen ist, 'untypische' Teile Europas bisweilen auszublenden), macht Teil 2 durch den Fokus auf die Breite der historischen Erfahrung in Europa besonders sensibel für das, was in Teil 3 in bestimmten Kapiteln steht, in anderen aber nicht: in welchen Kapiteln zu den Künsten beispielsweise spanische oder portugiesische Namen fallen und in welchen sie fehlen. Dass dies keine Überinterpretation der Anlage des Bandes darstellt, wird dadurch belegt, wie raffiniert die Gliederung als Argument genutzt wird. Denn man könnte sich ja fragen, ob eine Modernisierungstheorie, wie sensibel, zurückgenommen und pragmatisch sie auch sei, die Entwicklungen an Europas Peripherie im frühen 19. Jahrhundert (noch) wirklich gut beschreiben kann. Darauf liefert die Struktur der Erzählung eine schlagende Antwort, indem sie die Ereignisse des Jahres 1848 nicht vom revolutionären Zentrum her aufrollt, sondern von der (so deutlich weniger statisch erscheinenden) Peripherie (262-66).

Das Buch, das somit nicht nur als sehr gut lesbare Einführung und als zuverlässiges Nachschlagewerk, sondern als individuelle Interpretation der Epoche sehr zu empfehlen ist, gewinnt durch Karten, die ebenso genau wie gut lesbar sind, und durch eine Reihe von Tabellen mit übersichtlich aufbereiteten Grundlageninformationen zu Demographie, Wirtschaft, Konjunkturen sowie zur politischen Ordnung. Am Schluss stehen eine ausführliche Chronologie, eine umfassende Bibliographie und ein Register, das gleichfalls keine Wünsche offen lässt.


Anmerkung:

[1] Rudolf von Albertini (Hg.): Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1968; Rudolf von Albertini (Hg.): Europa im Zeitalter der Weltmächte, 2 Teilbände, Stuttgart 1979, 2. Aufl. 1992.

Andreas Fahrmeir