Rezension über:

Christine Roll / Matthias Schnettger (Hgg.): Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Beiheft 76), Mainz: Philipp von Zabern 2008, V + 155 S., ISBN 978-3-8053-3872-1, EUR 24,80
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Rezension von:
Katharina Weigand
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Weigand: Rezension von: Christine Roll / Matthias Schnettger (Hgg.): Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen, Mainz: Philipp von Zabern 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/14950.html


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Christine Roll / Matthias Schnettger (Hgg.): Epochenjahr 1806?

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Der vorliegende Band dokumentiert die Vorträge der gleichnamigen Sektion des Konstanzer Historikertages (2006). Gefragt wird in allen Beiträgen danach, ob das Jahr 1806, als Franz II./I. die deutsche Kaiserkrone niederlegte, tatsächlich als Zäsur, als Ende der Epoche der Frühen Neuzeit angesehen werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage werden aber nicht nur - wie von anderen Autoren schon häufiger, wenngleich vielfach unsystematisch betrieben - die Einschätzungen von Zeitgenossen, die aus dem Heiligen Römischen Reich selbst stammten, analysiert, sondern in diesem Band sollen vor allem Urteile in den Blick genommen werden, deren Urheber das Geschehen in der Mitte Europas von außen, von Italien, England, Russland aus verfolgten. Ab wann rechnete man - wenn überhaupt - mit einer möglichen Auflösung des Reiches? Welches Ereignis, welches Jahr wurde von den Zeitgenossen schließlich als point of no return interpretiert: der Friede von Campo Formio, der Friede von Lunéville, Österreichs militärische Niederlagen 1805 oder tatsächlich erst die Niederlegung der Kaiserkrone 1806? Wurde das Ende des Alten Reiches zu einem heiß diskutierten Stoff für die publizistische Auseinandersetzung? Gab es Pläne bei den politisch Verantwortlichen und den Intellektuellen, wie die Mitte Europas nach dem mutmaßlichen Ende des Reiches strukturiert und organisiert sein sollte oder könnte?

Die einzelnen Beiträge des Bandes zeigen rasch, wie vorsichtig der Historiker tatsächlich sein muss, wenn er sich darauf versteift, ein einziges Jahr als europaweite Zäsur oder gar als Epochengrenze zu stilisieren. So konstatiert Bettina Braun, indem sie unter anderem Georg Forster, Christoph Martin Wieland, Karl Heinrich Ritter von Lang, Joseph Görres, aber auch den Kölner Kurfürsten Max Franz zu Wort kommen lässt, dass für die meisten "schreibenden und handelnden Menschen im Reich" das Reich zumindest bis 1801 beziehungsweise 1803 "der entscheidende Bezugspunkt ihres Denkens und Handelns" (29) blieb. Zumindest könnte man in diesem Zusammenhang also von mangelnder Sensibilität der Zitierten angesichts der Krise sprechen.

Noch deutlicher wird die Fragwürdigkeit des Schlagwortes vom "Epochenjahr 1806", wenn man mit Lothar Höbelt nach Wien blickt. Denn für das Oberhaupt des Reiches war nicht 1806, sondern 1805 das eigentliche Katastrophenjahr, ja man hatte in Wien schon deutlich früher mit dem Verlust der Kaiserkrone gerechnet. Die verfassungsrechtlichen Umwälzungen im Reich seit 1802/1803 berührten den Kaiser und seine Machtstellung - so Höbelt - viel weniger als das "dritte Deutschland", zudem sei die Wertschätzung des Reiches aus der Perspektive des Kaisers damals schon seit langem einem "Schrumpfungsprozess" (33) ausgesetzt gewesen.

Noch stärker an Bedeutung verliert das Jahr 1806, wenn Jan Kusber über Russland und Matthias Schnettger über Italien referieren. Demnach hatte 1806 das Ende des Alten Reiches so gut wie keine Bedeutung für die russische Elite, der das Reich und seine Struktur immer fremd geblieben sei. Napoleon dagegen habe man in Russland als die eigentliche Herausforderung angesehen, außen- und - vielleicht noch mehr - innenpolitisch. Matthias Schnettger, der sorgfältig unterscheidet, wie das Ende des Alten Reiches einerseits in "Reichsitalien" und andererseits im Kirchenstaat aufgenommen wurde, kommt zu vergleichbaren Urteilen: In Reichsitalien habe man vor allem die Selbstkrönung Napoleons zum König von Italien als Zäsur empfunden; aus der Sicht des Papstes aber habe es in den Jahrzehnten seit 1789 drängendere Probleme gegeben als das Ende des römisch-deutschen Reichs. Sorgen bereitete dem Papst dagegen die Frage, wer künftig die Rolle als "Beschützer von Papsttum und Kirche" übernehmen werde; der neue österreichische Kaiser kam als vollgültiger Ersatz für den "Imperator Christianissimus" eben doch nicht in Frage.

Darüber hinaus thematisiert Cornel Zwierlein, wie Frankreich und wie Napoleon das Heilige Römische Reich wahrnahmen, nämlich geradezu als "indigene[s], im Zivilisationsgrad niedriger stehende[s] 'Verfassungsgebilde'" (94). Und Torsten Riotte nimmt sich einiger Beispiele aus der zeitgenössischen britischen Bildpublizistik zwischen 1791 und 1807 an. Zu bedauern ist in diesem Zusammenhang freilich, dass die besprochenen Karikaturen, obwohl ganzseitig, immer noch zu klein abgedruckt sind, man erkennt zwar die Bilder, doch die immens wichtigen Umschriften, Sprechblasen und sonstigen schriftlichen Bildmitteilungen sind mitunter kaum oder gar nicht zu entziffern. Abgerundet wird der Band schließlich von einer knappen Zusammenfassung aller Beiträge (Christine Roll). Ein solches Format macht Sinn am Ende einer Historikertags-Sektion. Einem Teil der von Sektion zu Sektion wandernden Zuhörer wird man auf diese Weise dann doch noch zu einem Eindruck auch der nicht gehörten Vorträge verhelfen. Am Ende eines Buches kann so etwas jedoch nicht nur zu Redundanzen führen, der Leser fühlt sich möglicherweise etwas zu sehr an der Hand genommen, hatte er den Inhalt der einzelnen Beiträge doch auch schon zuvor durchaus verstanden.

Insgesamt hebt sich dieser Band von vielen anderen Veröffentlichungen zum Jubiläumsjahr 1806/2006 wohltuend ab. Denn oft wurde nur die spezifisch landesgeschichtliche oder gar nur regional eng begrenzte Sicht der Dinge strapaziert, wenn mit 1806 die Proklamation Bayerns, Württembergs und Sachsens zu Königreichen und Badens zum Großherzogtum in den Blick genommen wird, wenn die Doppelschlacht von Jena und Auerstedt im Mittelpunkt des Interesses steht oder wenn das Ende reichsstädtischer Existenz beklagt wird. Gerade der vergleichende Ansatz, der hier in europäischen Dimensionen zur Anwendung kommt, das Nebeneinanderstellen auch von bayerischen, preußischen und sächsischen Urteilen über 1806, vor allem aber das Nebeneinanderstellen und Vergleichen, wie einerseits die Gewinner und andererseits die Verlierer der Auflösung des Alten Reiches mit der Zeit um 1800 ins Gericht gegangen sind, all dies wurde 2006 viel zu wenig praktiziert.

Katharina Weigand