Rezension über:

Henning P. Jürgens: Johannes a Lasco in Ostfriesland. Der Werdegang eines europäischen Reformators (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe; Bd. 18), Tübingen: Mohr Siebeck 2002, 428 S., ISBN 978-3-16-147754-6, EUR 69,00
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Rezension von:
Cornel Zwierlein
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Cornel Zwierlein: Rezension von: Henning P. Jürgens: Johannes a Lasco in Ostfriesland. Der Werdegang eines europäischen Reformators, Tübingen: Mohr Siebeck 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/03/2765.html


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Henning P. Jürgens: Johannes a Lasco in Ostfriesland

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Bis in die 1990er-Jahre war es relativ still um Johannes a Lasco gewesen. Doch dann erregte der polnische Hochadlige, der wohl von allen Reformatoren der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts der am weitesten gereiste war, wieder Aufmerksamkeit. Er hat ein relativ schmales Werk hinterlassen und hat zwar an vielen Orten, aber nirgendwo so langdauernd und nachhaltig gewirkt - zumal in keiner Universitätsstadt mit der entsprechenden Möglichkeit, eine Gedächtnis-Gemeinde von Schülern heranzubilden -, dass er zu den ganz Bedeutenden gezählt würde. Doch vielleicht ist dieser Pole, der Ungarn, Italien, Deutschland, Frankreich, die Schweiz und die Niederlande, England sowie kurz und unglücklich auch Dänemark bereiste, schon aufgrund der äußeren Biografie eine dermaßen transnational-europäische Figur, dass er in einem zusammengerückten Europa neue Faszination ausübt. Schließlich steht hinter dem neu erwachten Interesse auch die Impulsgebung von "Klein-Wolfenbüttel", der 2001 zur wissenschaftlichen Bibliothek des Jahres gekürten Johannes-a-Lasco-Bibliothek in Emden, die in der einstigen Wirkstätte des Reformators, der um- und ausgebauten Großen Kirche, untergebracht ist. Henning P. Jürgens hat nun eine Biografie Lascos für die Zeit von seiner Geburt bis zum Weggang aus Emden vorgelegt, die für diese Periode die bis dahin vorliegenden Arbeiten insbesondere Hermann Daltons und Oskar Bartels verzichtbar werden lässt. Das Buch ist entsprechend der Biografie und der Quellenlage in zwei große Abschnitte geteilt, in die Zeit von der Geburt 1499 bis 1542 und in die Emder Zeit bis zum Fortgang nach England infolge der Einführung des Ostfriesischen Interims 1549/1550.

Lasco wurde 1499 als männlicher Zweitgeborener wohl in Łask geboren, dem Stammsitz seiner Familie, die als Woiwoden von Sieradz zum polnischen Senat und damit zur Magnatenschicht gehörten. Der Onkel Jan (1456-1531) wurde 1503 königlicher Kanzler und 1510 Erzbischof von Gnesen und als solcher polnischer Primas. Dieser protegierte Johannes und seinen älteren Bruder Hieronimus und nahm sie so auch 1513/14 nach Rom mit, wo sie studierten, während der Onkel am V. Laterankonzil teilnahm. Anschließend studierte Lasco - welches Fach ist ungewiss - in Bologna und Padova, kehrte dann nach Polen zurück, wo er 1521 zum Priester geweiht und zum Gnesener Dekan gewählt wurde. Im Frühjahr 1524 brachen Johannes, Hieronimus und der jüngste Bruder Stanislaw zu einer diplomatischen Reise Hieronimus' an den französischen Königshof auf und reisten über Basel, wo Lasco erstmals Erasmus begegnete, "einer der ersten direkten Kontakte zwischen Erasmus und Polen" (47). Lasco reiste dann von Paris wieder zurück nach Basel, wo er vom Frühjahr bis Oktober 1525 mit Erasmus zusammenwohnte, zu dessen Lieblingsschülern er gehörte und dessen Bibliothek der polnische Adlige kaufte und sie nach dem Tod des Erzhumanisten erhielt (61-77). Nach Polen zurückgekehrt wurde er nach 1525 ein Kristallisationspunkt für die dort zunehmend bedeutende Erasmus-Rezeption (80-91).

Es folgte eine im Leben eines späteren Reformators ungewöhnliche Episode: Der ältere Bruder Hieronimus Łaski schaltete sich in die Wirren um die ungarische Thronfolge auf der Seite des Woiwoden von Siebenbürgen Johann Zapolya ein, teils weil er die verbreiteten habsburgfeindlichen Tendenzen des polnischen Adels teilte, teils weil er sich eigene Vorteile erhoffte. 1534 geriet er aber in Konflikt mit Zapolya und wurde von ihm gefangen gesetzt. Bei dem Condottiere-Abenteuer war Johannes a Lasco zeitweilig an der Seite des Bruders. Er erhoffte sich mehrfach die Berufung zum Bischof in verschiedenen Diözesen, wurde aber - wohl auch wegen der dem polnischen König unliebsamen Politik seines Bruders - nie berücksichtigt.

Im April 1537 reise Lasco nach Wittenberg zu Melanchthon, und nach Jürgens' nicht unplausiblem Vorschlag wäre er dann über Frankfurt, wo er den Melanchthonschüler Albert Hardenberg kennen lernte, direkt weiter nach Löwen gereist. Dort betrieb er mit diesem Studien und heiratete schließlich Anfang 1540 seine Frau Barbara, eine Flämin, die aus einfachen Verhältnissen stammte. Lasco war damit der erste Geistliche Polens, der offen den Zölibat brach. Wohl um der Inquisition zu entgehen, musste er Mitte 1540 nach Ostfriesland flüchten. Graf Enno II. Cirksena bot ihm sofort die Übernahme des Amts eines Superintendenten an, aber Lasco lehnte noch ab. Vielleicht war er tatsächlich noch nicht "neugläubig". Nachdem er in Polen mittels eines Bekenntnisses zum alten Glauben ("Reinigungseid") noch einmal versucht hatte, seine dortigen Möglichkeiten nicht zu verspielen, nahm er dann aber Mitte 1542 den Ruf der Witwe Ennos II., der Regentin Anna von Oldenburg, in das Amt eines Superintendenten an. In Ostfriesland hatten zu dieser Zeit altgläubige mit lutherischen sowie vor allem auch mit starken täuferischen Tendenzen bislang weitgehend ohne politische Steuerung konkurriert. Entsprechend waren die Konfliktfronten für Lascos Tätigkeit die Auseinandersetzung mit den noch praktizierenden Mönchen, mit den Täufern und nicht zuletzt auch mit verschiedenen ihm nicht wohlgesonnenen Mitgliedern des Regentschaftsrates. Lasco kämpfte in der Anfangszeit insbesondere für die Beseitigung der Bilder in den Kirchen. Diese Idolatrie-Auffassung zeigt, dass von Anbeginn sein Referenzpunkt eher die schweizerische und hier wohl die Basler Reformation war als Wittenberg. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Täufern (David Joris und Menno Simons) entstand 1545 seine erste Publikation, die in Bonn gedruckte 'Defensio adversus Mennonem Simonis'. Lasco zeichnete dann verantwortlich für die Neugestaltung des ostfriesischen Kirchenwesens, insbesondere mit der Ausformung von Kirchenrat und Kirchenzucht, die - aufgrund der von Heinz Schilling herausgegebenen Kirchenratsprotokolle aus der Zeit nach Lascos Wirken - zu einem paradigmatischen Untersuchungsgegenstand der Sozialdisziplinierungsforschung geworden sind, und der besonderen Einrichtung der hochfrequent tagenden Predigersynode zur Abstimmung von Disziplin, Predigt und Lehre, dem bis heute existierenden Coetus. Schließlich wurden diese institutionellen Reformen begleitet von den typischen Merkmalen regionaler "Konfessionsbildung", indem Lasco vermehrt an der Ausbildung der Emder Theologie arbeitete, die in der "Moderatio doctrinae", in Abendmahlsschriften und Katechismen ihren Ausdruck fand. Das im Schmalkaldischen Krieg neutral verbliebene Ostfriesland beugte sich dann dem Interim (Ostfriesisches Interim vom 16.VII.1549), und damit war Lasco, der dogmatisch keine Kompromissbereitschaft zeigte, als Superintendent nicht mehr haltbar. Er wurde entlassen und brach Ende September nach England auf, wohin ihn der Reform-Erzbischof von Canterbury, Thomas Cranmer, gerufen hatte und wo er die Londoner Flüchtlingsgemeinde als "first puritan", wie ihn Diarmaid McCulloch charakterisiert hat, leiten sollte. Hier bricht Jürgens' Biografie ab; die Londoner Zeit Lascos ist zuletzt von Dirk W. Rodgers behandelt worden [1], eine vertiefte Studie seines Wirkens nach der erneut erzwungenen Flucht aus London nach dem Tod König Edwards VI. über Dänemark nach Deutschland und schließlich nach Polen, wo er noch einmal fünf Jahre lang den Beginn der polnischen Reformation vorantrieb, steht noch aus.

Jürgens hat eine sehr sorgfältige, ja akribische biografische Arbeit vorgelegt, die sich dadurch auszeichnet, Lascos Lebensstationen auch in den breiteren Kontext zu stellen - mit entsprechenden Passagen zu den, angesichts der atemberaubenden geografischen Spannbreite von Lascos Wirken, sicher nur wenigen Lesern gleichermaßen vertrauten Verhältnissen in Polen, in Ostfriesland, in Ungarn. Die entsprechenden Passagen zu Gräfin Annas Regierung bieten, auch vor dem Hintergrund neuerer Arbeiten, einen echten Kenntnisfortschritt für die ostfriesische Regionalgeschichte. Neben den direkt einschlägigen Quellenpublikationen wurden auch solche systematisch durchgesehen, die in diesem Zusammenhang oft wenig beachtet wurden, sodass sich an vielen Punkten kleine Korrekturen oder neue Erkenntnisse ergaben. Aufgrund der, jedenfalls für und in Ostfriesland, spärlichen archivalischen Quellenlage kamen freilich keine ganz umstürzenden Funde zu Tage. Mit großer Sorgfalt und mit offensichtlicher Sympathie für den Gegenstand werden Datierungsfragen in der oft dünnen Überlieferung abgewogen, um den Ereignisverlauf zu rekonstruieren. Hervorzuheben ist auch die umfassende Zurkenntnisnahme der einschlägigen Sekundärliteratur, insbesondere auch der polnischen. Jürgens' Arbeit ist keine Intellektuellen-Biografie in dem Sinne, dass man in das geistige Weltbild Lascos eingeführt würde, das hätte insbesondere eine stärkere Vertiefung in die theologische Dogmatik erfordert. Sehr wohl wird die kommunikative Arbeit des Intellektuellen, insbesondere sein Bezug zu den Büchern, untersucht. Ein Verzeichnis aller erhaltenen und erschließbaren Briefe ist in einem wertvollen Anhang beigegeben. Denkbar wäre auch gewesen - zumal angesichts der indexlosen Werkausgabe Kuypers -, einmal die erhaltene Werk- und Briefüberlieferung auf die zitierten Autoren durchzugehen, um so systematisch eine "mental map" der Referenztexte Lascos erstellen zu können. Immerhin bestätigt Jürgens auf dieser sonst vielleicht etwas blass bleibenden Ebene der Inhalte und Diskurse, wie die Emder Reformation in ihren Anfängen sehr viel eher an die Reformation Oekolampads in Basel, dann an Bucer und Zwingli anknüpft, weniger aber an Calvin, dessen Bemühungen zu dieser Zeit eher ein Parallelereignis sind und noch nicht die ungemeine Ausstrahlungskraft haben, die ihnen später zukommen. Alles in allem bietet die Arbeit jedenfalls einen hochwillkommenen, sicheren Halt für weitere Studien zu Lascos Wirken.

Anmerkung:

[1] Dirk W. Rodgers: John a Lasco in England, New York u.a. 1994.

Cornel Zwierlein