A. Riecken: Migration und Gesundheitspolitik

Cover
Titel
Migration und Gesundheitspolitik. Flüchtlinge und Vertriebene in Niedersachsen 1945-1953


Autor(en)
Riecken, Andrea
Reihe
Studien zur Historischen Migrationsforschung 17
Erschienen
Göttingen 2006: V&R unipress
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 46,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dagmar Ellerbrock, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – obgleich schon lange, ein gut bestelltes Forschungsfeld – finden seit einiger Zeit mit bisher vernachlässigten Themen neues Interesse. Untersuchungen etwa über Bombenkrieg und Flüchtlingsschicksale beleuchten kollektive Erfahrungen, die innerhalb der deutschen Zeitgeschichtsforschung lange eine randständige Existenz fristeten. Das Terrain ist schwierig, und nur die reflektierte Platzierung in größeren Forschungskontexten sowie sorgfältige methodische Reflexion bewahren davor, in den Sog eines ungewollten und unproduktiven Aufrechnungs- oder Opferdiskurses zu geraten. Diese Klippen umschifft die Osnabrücker Diplom-Psychologin und Historikerin Andrea Riecken souverän, indem sie ihre Untersuchung kenntnisreich an Kontexte der Migrationsgeschichte anbindet.

Die 2003/04 am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück entstandene und von Klaus J. Bade betreute Dissertation fragt nach dem Zusammenhang von Migration und Gesundheit von 1945 bis 1953. Die Beziehung zwischen Flucht, Vertreibung und Gesundheit wird aus der Perspektive der niedersächsischen Gesundheits- und Sozialverwaltung rekonstruiert, sowie am Beispiel des Regierungsbezirks Osnabrück mit seinen neun Gesundheitsämtern konkretisiert. Damit gelingt es Riecken, zwei Forschungsfelder miteinander zu verknüpfen, die sich bislang kaum wahrnahmen. Dass bisher – rund 60 Jahre nach Kriegsende – noch immer nicht untersucht war, welche gesundheitlichen Probleme Flüchtlinge hatten und wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft diese Herausforderung meisterte, überrascht nicht nur angesichts der Dimensionen der Problemstellung, die immerhin etwa 12 Millionen Flüchtende betraf, sondern ist auch angesichts der grundlegenden Bedeutung gesundheitlicher Versorgung bemerkenswert. Diese Forschungslücke schließt Rieckens Arbeit nun und vermag dabei mit einigen grundlegenden Erkenntnissen aufzuwarten.

Riecken beginnt ihre Untersuchung mit Erörterungen über den Zusammenhang von Flucht und Krankheit aus Sicht des zeitgenössischen medizinischen Diskurses. Daran anschließend skizziert sie die Konzepte und Reaktionen des niedersächsischen Sozialministeriums. Da viele Medizinalbeamte den wissenschaftlichen Diskurs innerhalb der einschlägigen Fachzeitschriften maßgeblich mitprägten, ergeben sich einige Doppelungen. Neu und interessant ist im dritten Kapitel insbesondere die Frage, inwieweit und mit welchem Erfolg gesundheitspolitische Argumente funktionalisiert, das heißt für institutionelle Interessen im öffentlichen Gesundheitsdienst und in der Gesundheitsgesetzgebung nutzbar gemacht wurden.

Die folgenden drei Kapitel beschäftigen sich mit der Konkretisierung und Umsetzung der gesundheitspolitischen Planungen in Form von Gesundheitskontrollen, Lagerroutinen und -inspektionen. Riecken verfolgt die Entwicklung und Begründung gesundheitspolitischer Richtlinien und Erlasse. Ergänzend betrachtet sie die Überwachung der auf die Kreise und Gemeinden verteilten Flüchtlinge im Spiegel der einschlägigen Ministerialerlasse. Abschließend geht Riecken nochmals zurück zur hygienischen Kontrolle der Flüchtlingslager und stellt diese – beginnend mit dem „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ von 1934 – in eine systemübergreifende Perspektive. Die hier aufgezeigten Verbindungslinien zu Gesundheitspraktiken der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges sind interessant und stützen überzeugend die These, dass die Gesundheitspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg und die Bewältigung der Flüchtlingsströme in vielfacher Hinsicht vom Erfahrungswissen der Kriegsjahre profitierten. Riecken betont, dass Flüchtlinge von der niedersächsischen Gesundheitspolitik primär als potenzielle Seuchenquellen klassifiziert wurden. Darauf reagierte die Gesundheitsbürokratie mit Zwangsuntersuchungen, Kontrollen und mit dem Rückgriff auf Verwaltungswissen, das während des Krieges unter anderem in Polen erworben wurde.

Wie Riecken in ihrer kenntnisreichen Skizze des Forschungsstandes darlegt, war die Perzeption von Migranten als möglichen Seuchenträgern seit Jahrhunderten international verbreitet und insbesondere auch in den USA und Großbritannien handlungsleitend. Die Fortführung dieses gesundheitspolitischen Paradigmas im Nachkriegsdeutschland war damit nicht nur wegen der nationalsozialistischen Vorgeschichte erwartbar und stellte ein Kernelement alliierter Gesundheitspolitik dar. Prinzipiell wäre eine dezidiertere Einbeziehung der britischen Besatzungsmacht wünschenswert gewesen. Stellenweise gewinnt die britische Militärregierung als ein Akteur mit eigenen gesundheitspolitischen Interessen Kontur – so wird etwa geschildert, dass sie auf die schnelle Weiterleitung der Flüchtlinge aus den Lagern drängte –, doch insgesamt bleibt ihr Profil blass.1

Rieckens Arbeit ist vor allem dort erhellend, wo sie detailgenau die Schattierungen und leisen Töne verfolgt, die den Krankheitsdiskurs begleiteten. Die Instrumentalisierung von Krankheitsgefahren zum Ausbau des Gesundheitswesens, zur Abwehr weiterer Flüchtlingseinweisungen oder zur Befestigung spezifischer institutioneller Strukturen wird überzeugend aufgezeigt. Faszinierend ist der Nachweis, wie diese Instrumentalisierung mit Praktiken der „nationalsozialistischen Ortshygiene“ verschränkt war. Auch Rieckens knappe Skizze zeitgenössischer Überlegungen zur Traumatisierung durch Fluchterfahrungen ist sehr lesenswert. Warum sich diese Überlegungen nicht in gesundheitspolitischer Praxis niederschlugen und welche Kontroversen es eventuell gab, hätte man gern detaillierter gewusst.

Der Diskurs um die Flüchtlingsgesundheit unterschied sich weder thematisch noch hinsichtlich der beschriebenen Praktiken grundsätzlich von der allgemeinen Gesundheitspolitik der Nachkriegsjahre. Dies unterstützt indirekt Rieckens These, dass die niedersächsische Gesundheitspolitik nicht auf die spezifischen Bedürfnisse der Flüchtlinge eingegangen sei. Inwieweit ihre These einer gesundheitspolitischen Diskriminierung von Flüchtlingen angesichts einer vergleichbaren Gesundheitspolitik auch jenseits der Flüchtlingslager zutreffend ist, hätte Riecken auf Grundlage einer systematischen Auswertung der vorliegenden gesundheitspolitischen Forschungsliteratur darlegen können.2

Erhellend wäre es gewesen, ergänzend nach der Wahrnehmung durch die Betroffenen selbst zu fragen. Empfanden deutsche Flüchtlingsfrauen zum Beispiel die Untersuchungen auf Geschlechtskrankheiten ausschließlich als diskriminierend, oder nahmen sie diese partiell als Fürsorge und Heilungsoption wahr? Riecken benennt zum Teil solche Ambivalenzen, die mit nahezu jeder gesundheitspolitischen Maßnahme verbunden sind. An manchen Stellen hätte man dies gern mutiger verfolgt gesehen. Offen bleibt zudem, ob die niedersächsische Gesundheitspolitik für einen erfolgreichen Integrationsprozess der Flüchtlinge eine Voraussetzung, eine Hilfe oder eher ein Hindernis war. Systematisch einbezogene Ansätze der Flüchtlingsforschung hätten hier geholfen, die von Riecken präsentierten Ergebnisse in einem größeren Zusammenhang gewichten zu können.

Neuere Forschungen zur Gesundheitspolitik der Nachkriegsjahre belegen am Beispiel von Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, dass das Geschlecht der Patienten relevant war.3 Tuberkulöse waren in der Nachkriegszeit mehrheitlich Männer. Deutsche Tuberkulosepolitik privilegierte diese Patienten durch zusätzliche Zuweisung von Nahrungsmitteln, Wohnraum, Kleidung etc. Als geschlechtskrank wurden primär Frauen wahrgenommen, die zwangsuntersucht und teilweise interniert wurden.4 Wie lassen sich diese Forschungsergebnisse auf den Flüchtlingsdiskurs übertragen, in dem, wie Riecken darlegt, Tuberkulose und Geschlechtskrankheit ebenfalls eine zentrale Rolle spielten? Kehrten sich angesichts der differenten Koordinaten im Themenfeld Flüchtlingspolitik Wirkungszusammenhänge um, oder verliefen sie analog der Mechanismen, die die bisherige Forschung präsentiert hat? Anders gefragt: Trennten die Zwangsuntersuchungen in den Flüchtlingslagern die stigmatisierten Flüchtlingsfrauen von den zwangsuntersuchten einheimischen Frauen, so dass eine neue, separate Patientengruppe geschaffen wurde, oder verbanden sie beide Frauenkollektive? Umfassten die Zwangsuntersuchungen zum Beispiel auf Geschlechtskrankheiten in der Gruppe der Flüchtlinge auch Männer und konterkarierten damit „einheimische Gesundheitspolitik“, die fast ausschließlich Frauen zwangsuntersuchte, oder wurde die geschlechtliche Hierarchisierung auch in den Lagern aufrechterhalten? Ein geschlechtlich aufgeschlüsseltes Profil der untersuchten Gruppe wäre dabei hilfreich gewesen und hätte klären können, um wen es sich genau handelte und inwieweit welche Personen von den beschriebenen Zuschreibungen und Maßnahmen betroffen waren.

Insgesamt hat Riecken eine interessante Studie vorgelegt, die Gesundheit und Migration in ihrer gegenseitigen Bezogenheit und politischen Relevanz darstellt. Dabei gelingt es ihr, grundlegende Erkenntnisse über die gesundheitlichen Probleme der Flüchtlinge und ihrer Vorsorgung darzulegen und maßgebliche Ergebnisse, die die neuere historische Forschung zur Gesundheitspolitik der Nachkriegsjahre bereits vorgelegt hat, nun auch für den Bereich des Flüchtlingswesens zu bestätigen. Die von Riecken abermals belegte Krankheitsangst der Nachkriegsjahre, die jenseits aller Statistiken genährt und politisiert wurde, beweist, dass zusätzliche Faktoren wirkungsmächtig waren. Krankheitsdiskurse sind offenbar nur partiell rational – dies gilt in gesteigerter Form für Angstdiskurse. Nicht nur an diesem Aspekt wird deutlich, welches Potenzial in gesundheitsgeschichtlichen Themen steckt und welche Erkenntnisse vor allem für kultur- und geschlechtergeschichtlich inspirierte Fragestellungen hier noch zu gewinnen sind. In diesem Sinne ist Andrea Rieckens Buch eine breite Rezeption zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Grundlegend hierzu: Lindner, Ulrike, Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München 2004.
2 Dinter, Andreas, Seuchenalarm in Berlin. Seuchengeschehen und Seuchenbekämpfung in Berlin nach dem II. Weltkrieg, Berlin 1999; Ellerbrock, Dagmar, „Healing Democracy“ – Demokratie als Heilmittel. Gesundheit, Krankheit und Politik in der amerikanischen Besatzungszone 1945-1949, Bonn 2004.
3 Lindner, Ulrike, Tb Policies in West Germany and Britain after 1945, in: Worboys, Michael (Hrsg.), Tuberculosis in National Context, London 2005; Niehuss, Merith; Lindner, Ulrike (Hrsg.), Ärztinnen – Patientinnen. Frauen im deutschen und britischen Gesundheitswesen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2002.
4 Die restriktive Gesundheitspolitik gegenüber deutschen Frauen ist inzwischen breit dokumentiert. Siehe z.B.: Höhn, Maria, GIs and Fräuleins. The German-American Encounter in 1950s West Germany, Chapel Hill 2002.