Als die „Stunde Null“ schlug, tickten die Uhren im Südwesten Deutschlands unterschiedlich. Dies lag zum Teil an den verschiedenen Verwaltungstraditionen, den konfessionellen Verhältnissen und politischen Mentalitäten in Ostschwaben, Württemberg und Baden, zum Teil an den unterschiedlichen Herkunftsländern der Neubürger (nach Bayern und Württemberg-Baden kamen vor allem Böhmen und Sudentendeutsche, nach Württemberg-Hohenzollern und Südbaden besonders Ostpommern, Ostpreußen und Schlesier), vor allem aber an den differierenden Ad-hoc-Maßnahmen und gesellschaftlichen Gestaltungskonzepten der Besatzungsmächte, die den Rahmen für den Neuanfang steckten.
Dabei lagen die Besatzungszonen quer zu den seit der napoleonischen Flurbereinigung gewachsenen historischen Ländern. Die Franzosen saßen in Südbaden, Württemberg-Hohenzollern und im Kreis Lindau (Heiner Stauder), der in seiner staatsrechtlichen und ökonomischen Sonderstellung die wichtige Landbrücke zum Vorarlberg (Wolfgang Weber) bildete. Die Franzosen beabsichtigten zwar einen gesellschaftlichen Neubeginn von unten nach oben, griffen aber in ihrem traditionellen Zentralismus auf das Mittel staatlicher Lenkung zurück. Dies zeigen die langwierigen Parteilizenzierungsverfahren – außer im Vorarlberg, wo Besatzer und Besetzte sich gleichermaßen als Opfer der NS-Aggression wahrnahmen und wo die Militärregierung eine rasche Selbständigkeit der Bevölkerung anstrebte –, die späten zonalen Wahlen, die Organisation der Polizei und der Aufbau der Kommunalverwaltung mit einem von der Regierung ernannten Landrat. Die Amerikaner in Nordbaden, Nordwürttemberg und dem größten Teil bayerisch Schwabens setzten bei der Parteienzulassung, Polizei und gemeindlichen Selbstverwaltung, wie es die Legitimation des kommunalen Landrats belegt, auf einen Aufbau von unten nach oben und damit auf eine größere Eigenbeteiligung der Deutschen am Aufbau der Nachkriegsgesellschaft.
Wegen ihres unzulänglicheren Organisationsgrades mussten die französischen Besatzer aber stärker auf deutsche Stellen zurückgreifen, als ihnen lieb war. Daher behandelten sie die Entnazifizierung so nachlässig, dass ihre Zone als „Eldorado der Duldsamkeit“ galt. Die größere Einbindung Antifaschistischer Ausschüsse in die Entscheidungen auf Gemeindeebene unterstreicht dies. Die US-Militärregierung dagegen verzichtete bei der Bestrafung von NS-Verantwortlichen auf eine vergleichbare Beteiligung der Besiegten und erzielte mit ihren rigideren Grundsätzen eine höhere Zahl Internierter und härtere Urteile bei den Spruchkammerbescheiden (Christoph Strauß).
Gegenüber Wirtschaftsbetrieben zeigten beide Militärregierungen das gleiche Interesse wie die eingeschalteten Betriebsräte oder Gewerkschaften der Deutschen; ihnen allen war die ökonomische Zukunft der Firmen wichtiger als Sühnemaßnahmen, wie Wolfgang Weber für Vorarlberg und Paul Hoser für Memmingen herausarbeiten konnten. Für die Entnazifizierung der Memminger Fabrikanten konstatiert Hoser, dass diese mehrheitlich keine überzeugten Nazis waren, jedoch führte sie ihr Profitstreben und die Ausbeutung von Arbeitskräften wie der Zwangsarbeiter zu einer Interessenverschränkung mit den NS-Funktionsträgern und machte sie in den Spruchkammerverfahren zu Mitläufern. Die Franzosen wiederum kontrollierten die Wirtschaft mehr und richteten sie durch Demontagen und Produktionssteuerung an ihren Bedürfnissen aus, wohingegen die Amerikaner das unternehmerische Element stärker vorantrieben, was in der Einführung der Gewerbefreiheit (11.2.1949) gipfelte.
Der Tagungsband ist dem regional- bzw. lokalgeschichtlichen Ansatz verpflichtet und bezieht daraus seine Tiefenschärfe wie Vergleichbarkeit mit anderen Regionen, zum Beispiel im sowjetischen Sektor. In diesem Kontext entfaltet Klaus-Dietmar Henke ein brillantes Kontrastpanorama in zweifacher Hinsicht. Er charakterisiert die Regionalgeschichte als Korrektiv zur nationalhistorischen Alleinsicht und stellte die unterschiedlichen Neuanfänge nach 1945 in Ost- und Westdeutschland mit ihren bis in die Gegenwart reichenden Folgen gegenüber. Jürgen Klöckler zeichnet die autonomistischen Bestrebungen beim Neubeginn im Südwesten nach: die Alpenlandvision des Singener Bürgermeisters Bernhard Dietrich oder die Alemannienutopie des Konstanzer Stadtarchivars Otto Fegers. Doch diese illusionären Versuche der Identitätsbildung scheiterten als Elitendiskurs bereits an der fehlenden Breitenwirkung und nicht zuletzt an den Besatzungsmächten, die den Separationsplänen eine Absage erteilten und auf die Rekonstruktion der alten Länder setzten. Christoph Strauß bescheinigt den Amerikanern, dass ihr Sektor der arrestintensivste im Westen war. Unter den fast 12.000 Internierten in Württemberg-Baden seien vorrangig mittlere und untere NS-Chargen vertreten gewesen, die mehrheitlich dem Mittelstand entstammten. Das schablonenhafte Vorgehen bei der Arretierung habe allerdings kontraproduktiv gewirkt; statt individueller Schuldeingeständnisse hätten die Internierten in einem Rechtfertigungsreflex einen Opfermythos aufgebaut.
Weitere Felder des Neuanfangs thematisieren Gerhard Neumeier (Verfahren und Verteidigungsstrategien bei der Entnazifizierung des Lehrkörpers an der Technischen Hochschule Karlsruhe), Reinhold Baumann (Wiederaufbau der Polizei als dezentraler Kommunalbehörde in Bayern), Gerhard Fürmetz (Entnazifizierung und Reorganisation des öffentlichen Dienstes bei der Augsburger Stadtpolizei), Manfred Herdegen (Vertriebeneneingliederung am Beispiel der größten geschlossenen Ansiedlung von Neubürgern in Deutschland, der Gablonzer Glas- und Schmuckwarenproduzenten im schwäbischen Kaufbeuren). Ulrich Linse deutet das Verhalten Ulmer und Augsburger Kleingärtner und Stadtverwaltungen als kommunale Antwort auf die Blut- und Boden-Ideologie der Nationalsozialisten – nicht aus weltanschaulichem Dissens, sondern als Kampf für die gemeindliche Eigenständigkeit.
Der Sammelband skizziert auf verschiedenen Themenfeldern den von der französischen und amerikanischen Militärregierung gesetzten Rahmen einerseits sowie die Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen der Besiegten in der deutschen Trümmergesellschaft andererseits. Er zeigt an ausgesuchten schwäbisch-alemannischen Beispielen, wie weit das Tor des demokratischen Neuanfangs geöffnet wurde, das von den Besatzungsmächten aufgestoßen den Deutschen den Weg vom NS-Unrechtsregime in ein demokratisches Gemeinwesen wies, das seinen Platz in der westlichen Völkergemeinschaft wieder finden sollte.