M. Uhl u.a. (Hrsg.): Die Organisation des Terrors

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Title
Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943–1945


Editor(s)
Uhl, Matthias; Holler, Martin; Leleu, Jean-Luc; Pohl, Dieter; Pruschwitz, Thomas
Published
München 2020: Piper Verlag
Extent
1.152 S.
Price
€ 42,00 (DE); € 43,20 (AT); CHF 51.90 (freier Preis)
Reviewed for H-Soz-Kult by
Wolfgang Schroeter, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Hüllhorst

Niemand verkörpert den Holocaust und die Verbrechen des „Dritten Reiches“ so wie Heinrich Himmler. Der nach Hitler fast allmächtige Reichsführer SS war Chef der deutschen Polizei, Herrscher über alle Konzentrations- und Vernichtungslager, Reichskommissar der NS-Volkstumspolitik und Hauptautor des Generalplans Ost mit dem geplanten Hungertod von 30 Millionen Menschen und der millionenfachen Umsiedlung von „Volksdeutschen“ sowie Befehlshaber der Waffen-SS und später auch Teilen der Wehrmacht. Persönlich war dieser Großinquisitor des „Dritten Reiches“ berüchtigt für seinen bürokratischen Pedantismus, einen Führungsstil des mittelalterlichen Paternalismus und obskure Ideen wie den NS-Ahnenkult, in dem er Kaiser Heinrich I. zu dessen tausendjährigem Todestag exhumieren ließ.

Deshalb wurde er auch in der Forschung lange unterschätzt. Erst mit dem Generations- und Perspektivwechsel zu den millionenfachen Opfern des NS-Regimes gerieten deren Verantwortliche in den Fokus einer quellengestützten Historiografie. Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte das 1946 in 2.600 Kisten nach Moskau abtransportierte und später dem KGB übergebene Archivmaterial für die Editionen der Goebbels-Tagebücher und der Dienstkalender Heinrich Himmlers von 1941 und 1942 sowie des Taschenkalenders von 1940 und der privaten Briefe Himmlers ausgewertet werden. Seit letztem Jahr steht die Edition des Dienstkalenders 1941/42 auch als Download auf der Website der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg zur Verfügung.1

2013 fand dann Matthias Uhl bei der vom Deutschen Historischen Institut Moskau (DHI) und dem russischen Verteidigungsministerium vereinbarten Digitalisierung der Wehrmachtsunterlagen in Podolsk zwei dicke Ordner mit den bis dahin verschollenen Terminblättern der zentralen Jahre 1943-44. Sie wurden vom Team des DHI sorgfältig mit den Tischkalendern und allen sonstigen zur Verfügung stehenden Quellen abgeglichen und ausführlich kommentiert.

Das umfangreiche Werk dokumentiert auf 1.152 (!) Seiten die nahezu lückenlosen Tagespläne vom 1. Januar 1943 bis zum 14. März 1945. Nach einem einführenden Kommentar von 52 Seiten wird jedem der neun Quartale ein etwa fünfseitiger Einführungstext zur Kontextualisierung vorangestellt und jeder Tag zusätzlich auf ein bis zwei Seiten hinsichtlich der besprochenen Themen und Entscheidungen kommentiert. Der Kalender verdeutlicht durch die Auflistung seiner Treffen und Kontakte sowie der Telefonnotizen, Terminblätter und der stichwortartigen Redekonzepte Himmlers Entscheidungsfindung und gibt damit einen einzigartigen Einblick in sein Tagesgeschäft und die Machtstrukturen des „Dritten Reiches“. Zugang und Post zu ihm regelte Dr. Rudolf Brandt als Leiter des Persönlichen Referats, während Werner Grothmann neben der Hauptabteilung Adjutantur Waffen-SS auch die Reiseplanung und den Kalender führte.

Buchtitel und einleitender Kommentar beschreiben treffend Himmlers Strategie nach dem Wendepunkt Stalingrad: Die Ausweitung des KZ-Wesens und der generellen Repression in den besetzten Gebieten mit dem Ziel, sowohl Zwangsarbeiter für die Rüstung zu beschaffen als auch den Holocaust auf West- und Südosteuropa auszuweiten, nachdem der holocaust by bulletts durch die Einsatzgruppen in der Sowjetunion sowie die industriellen Tötungen der „Aktion Reinhardt“ in Polen abgeschlossen waren. Deren Spezialisten und neu angeworbene SS-Mitglieder durchkämmten unter dem Kommando der Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) die besetzten Gebiete auf dem Balkan und in der Sowjetunion vorgeblich zur Partisanen- und Bandenbekämpfung, doch in Wirklichkeit ging es um die Erschießung der jüdischen und Versklavung der übrigen arbeitsfähigen Bevölkerung.

Im Kalender dokumentiert sind zwei Fälle, in denen Himmler persönlich die Ermordung in den Gaskammern der Vernichtungslager inspizierte. Als sich dabei der Zug mit den vorgesehenen Opfern verspätete, wurde spontan Ersatz gefunden. Genauso wird belegt, dass Himmler die „medizinischen“ Menschenversuche zum Beispiel mittels Unterkühlung grundsätzlich persönlich anordnete. Außerdem zeigt sich die ungeheure ökonomische Bedeutung des Holocausts als gigantischer Raubmord.2 Himmler sinnierte über die Verwendung des Diebesguts aus den KZ von 127.000 Uhren und 25.000 Füllfederhaltern, davon 5.000 „aus purem Gold“ (S. 272). Nach Abschluss der „Aktion Reinhardt“ und bereits erfolgter Bereicherung auf allen Ebenen wurden immer noch 180 Millionen RM auf das Staatskonto der Reichsbank eingezahlt (S. 601). In der modernen Täterforschung verdichten sich diese ökonomischen Faktoren mit ideologischen, geographischen, generationellen und situativen Faktoren zu einem Motivgeflecht von Antisemitismus und Gewaltradikalisierung durchden und unter dem Deckmantel des Krieges.

Der Kalender bestätigt Peter Longerichs Befund, dass Himmler sich alle einzelnen Machtausweitungen von Hitler als seinem wichtigsten und häufigsten Gesprächspartner bestätigen ließ.3 Ihn traf er durchschnittlich sechsmal pro Monat. Die Frequenz steigerte sich dramatisch in Krisen mit 21 Treffen im August 1943 nach dem Seitenwechsel Italiens. Der von Hitler zum Innenminister ernannte Himmler schickte mit Obergruppenführer Karl Wolff den Chef seines persönlichen Stabes und der Waffen-SS auf die Apennin-Halbinsel, um neben den militärischen Aufgaben für die von Mussolini verhinderte Deportation und Vernichtung der italienischen Juden zu sorgen. In der zweiten großen Krise nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte und dem Attentat des 20. Juli 1944 beförderte Hitler Himmler zum Befehlshaber des Ersatzheeres. Die Bedeutung des Reichsführers und seiner um „Volksdeutsche", später auch andere Verbände, erweiterten Waffen-SS stieg proportional zu den steigenden Verlustzahlen an der Ostfront.

Da Hitler gerne aus Berlin auf den Berghof flüchtete und den Krieg aus seinen Hauptquartieren Winniza und Wolfsschanze führte, war sein „Hofstaat“ gezwungen, daran teilzunehmen. Es zeigt den Stellenwert und Machtwillen von Himmler und Speer, dass sie dies besonders häufig taten und ebenso ruhelos ihren eigenen Machtbereich bereisten, während Göring, Bormann und auch Goebbels eher an ihren Herrschaftssitzen verharrten. Himmler absolvierte auf dem Weg zu seinen Feldkommandostellen Hochwald und Bergwald im ersten Halbjahr 1944 16.000 Flugkilometer, 5.310 km in seinem Sonderzug und 4.835 km per PKW (S. 10). Ebenfalls dokumentiert ist sein Privatleben durch die Besuche bei seiner Tochter Gudrun und (seltener) bei seiner Ehefrau Margarete in Gmund am Tegernsee sowie häufiger bei seiner Zweitfrau Hedwig Pottharst und ihren gemeinsamen Kindern in Brückentin bzw. Schönau.

Der Kalender verdeutlicht zentrale Aspekte von Himmlers Persönlichkeit. Er belegt viele seiner absurden und menschenverachtenden Projekte wie die Erforschung von Dschingis Khans Trockennahrung und deren Erprobung an kirgisischen Kriegsgefangenen (S. 111f.). Er beweist aber auch, dass Himmler mit seinem beckmesserischen Bürokratismus die Zügel fest in der Hand hielt und die Ausweitung der Macht seines Apparats mit ideologisch begründeten, aber pragmatisch an die jeweiligen Machtverhältnisse angepassten Konzepten vorantrieb. So konnte er seine Macht nach dem Attentat auf den scheinbar unverzichtbaren und bereits als möglichen Nachfolger Hitlers gehandelten Reinhard Heydrich sogar erweitern, statt an Bedeutung zu verlieren.4

Die Schlussphase von Himmlers Karriere zeitigt mit der Erfüllung seines Jugendtraums paradoxale Folgen: Als er das Manko und Movens seines Lebens, ja der gesamten „Generation des Unbedingten“ – nämlich die so heftig ideologisch herbeigesehnte Bewährung in der Schlacht mit der Übernahme des Kommandos über die Heeresgruppe Weichsel – endlich erreichte, scheiterte er wegen kompletter militärischer Unfähigkeit und verlor mit dem Kommando auch Hitlers Vertrauen. Doch bereits vorher versuchte Himmler ein weiteres Mal seine Aufgabe neu zu definieren und Verhandlungen zu den Westalliierten aufzunehmen, zunächst mit, später dann gegen Hitlers Willen.

Der Kalender macht Longerichs epochale Biographie, die auch Struktur- und Gesellschaftsgeschichte ist, keinesfalls obsolet, sondern ergänzt und illustriert sie mit vielen neuen Beispielen. Er richtet sich bei aller Lesbarkeit hauptsächlich an Spezialisten, die seine stupende Detailfülle für weitere Forschungen nutzen können. Gespannt sein darf man auf die von Uhl angekündigte Veröffentlichung des Kalenders von 1937.

Anmerkungen:
1 Peter Witte u.a. (Hrsg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999, https://www.zeitgeschichte-hamburg.de/contao/index.php/publikation-hamburger-beitraege-zur-sozial-und-zeitgeschichte/items/quellen-band-3.html (25.06.2021).
2 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005.
3 Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, S. 769.
4 Mark Roseman, Lebensfälle: Biographische Annäherungen an NS-Täter, in: Frank Bajohr / Andrea Löw (Hrsg.), Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt am Main 2015, S. 193.

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