Für die historischen Erfahrungen der Juden spielten Fragen der Sichtbarkeit von jeher eine herausragende Rolle. Gleichsam wie in einem Brennglas zeigt sich in ihnen das Verhältnis zur umgebenden Bevölkerung. Unterschiedliche Selbstverständnisse und Zugehörigkeitsgefühle von Juden manifestierten sich in der Wahl der Kleidung, der Sprache und des Verhaltens im öffentlichen Raum. So war die Entwicklung von Selbst-, aber auch Fremdbildern unauflöslich mit Praktiken des sichtbaren Zeigens oder Verdeckens jüdischer Zugehörigkeit sowie mit Projektionen über jüdische Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verbunden.
Kerry Wallach greift gerade diesen Themenbereich auf und legt mit ihrem Buch „Passing Illusions“ eine innovative Studie dazu vor. Intensiv widmet sie sich den innerjüdischen Perspektiven auf Fragen der jüdischen Sichtbarkeit in der Weimarer Republik und untersucht, wie und in welchen Kontexten Juden ihre jüdische Zugehörigkeit zeigten, wann dies nicht als erstrebenswert oder sogar gefährlich erachtet und wie dies in unterschiedlichen Medien diskutiert wurde. Somit stellt sie die situationelle Bedingtheit jüdischer Sichtbarkeit ins Zentrum ihrer Arbeit. Um die spezifischen sozialen Praktiken und damit verbundenen Vorstellungen zu ergründen, bedient sich Wallach einer Vielzahl unterschiedlichen Quellenmaterials, darunter Zeitungsartikel, Romane, Dramen und Filme. So entsteht eine vielschichtige und breit angelegte Kulturgeschichte des Visuellen.
Die Fokussierung auf die situationelle Bedingtheit jüdischer Sichtbarkeit erweitert die bisherige Forschung, die im Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte seit den wegweisenden Studien von Sander L. Gilman vor allem das Verbergen jüdischer Zugehörigkeit zum Gegenstand hatte.1 Mit ihrem genuin interdisziplinären Ansatz und dem spezifischen Augenmerk auf Fragen der Geschlechtergeschichte knüpft die Autorin an eine Tendenz in den jüdischen Studien an, die sich in den letzten zwei Dekaden vor allem in den Vereinigten Staaten etabliert und sich mittels methodischer Erweiterungen auch zunehmend Themen jüdischer Körperlichkeit und Sichtbarkeit angenommen hat.2
In der Einleitung stellt die Autorin die enorme Bedeutung von Fragen der Sichtbarkeit für Juden in der Weimarer Republik heraus. Vor dem Hintergrund der Akkulturation im 19. Jahrhundert und der hohen Verbreitung des Antisemitismus war es für viele selbstverständlich, sich im Alltag nicht explizit als Juden zu erkennen zu geben. Allerdings existierten zahlreiche Beweggründe und Anlässe, sich offen als Jude zu zeigen – Praktiken des situationellen Zeigens und Verbergens jüdischer Zugehörigkeit waren schlichtweg die Norm.
Der Hauptteil des Buchs besteht aus vier thematischen Kapiteln. Das erste, grundlegende Kapitel ist visuellen Codes gewidmet, anhand derer Juden wie Nichtjuden meinten, jüdische Zugehörigkeit erkennen zu können. Dabei konstatiert die Autorin, dass deutsche Juden in Literatur und Presse oftmals dieselben Markierungen bemühten, die auch in antisemitischen Schriften verwendet wurden. So bedienten sich jüdische Schriftsteller etwa der Vorstellung einer vermeintlichen gelblichen Hautfarbe der Juden, die sich auch in judenfeindlichen Publikationen findet. Derartige Projektionen über jüdische Körper entwickelten sich aus dem Rassedenken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Auch wenn diese mitunter geschlechterspezifische Unterschiede konstruierten – etwa die Vorstellung des effeminierten männlichen Juden gegenüber der exotischen jüdischen Frau –, blieb die Ansicht, dass sowohl Männer als auch Frauen jüdischer Herkunft anhand körperlicher Merkmale erkannt werden könnten, unter Juden wie Nichtjuden weiterhin wirkmächtig. Dabei spielten vor allem Projektionen über das Aussehen von Juden aus dem östlichen Europa eine herausragende Rolle. So wurde eine dunklere Hautfarbe als Zeichen östlicher Herkunft erachtet. Sogenannte „Ostjuden“ galten als sichtbarer, fremder und insgesamt unfähiger ihre jüdische Zugehörigkeit zu verbergen.
Obwohl zahlreiche deutsche Juden einerseits derartige visuelle Stereotype verwendeten und dabei teilweise judenfeindliche Vorstellungen internalisierten, suchten sie andererseits den immer aggressiver werdenden Antisemitismus zu entkräften. Während liberale Juden die Behauptung der Existenz einer jüdischen Rasse oftmals vehement zurückwiesen, bekannten sich andere Juden zu jüdischer Differenz. Ende der 1920er-Jahre nahm zum Beispiel das Israelitische Familienblatt, Sprachrohr einer jüdisch konservativ-bürgerlichen Schicht, die Rede von der Existenz einer jüdischen Rasse auf, stellte diese jedoch positiv dar und wandte sich somit bewusst gegen die antisemitische Behauptung der „Minderwertigkeit“ der Juden. Zudem arbeitet Wallach heraus, dass sich trotz des gleichsam omnipräsenten Antisemitismus Praktiken der jüdischen Selbstidentifikation großer Beliebtheit erfreuten: Anstecker in gelber oder blau-weißer Farbe fanden weite Verbreitung und Gelb wurde mitunter als Farbe jüdischen Stolzes wahrgenommen.
Darauf aufbauend widmet sich Wallach der Rolle von Presse, Bühne und Film für Praktiken des Zeigens jüdischer Zugehörigkeit. Jüdische Zeitungen und Zeitschriften riefen etwa zum Engagement für jüdische Belange auf, warben für Orte, an denen Juden gern gesehen waren oder koschere Speisen erworben werden konnten. Aber auch das offene Mitführen und Lesen einer Publikation, die bereits durch das Titelblatt als jüdisch wahrgenommen wurde, war ein Mittel, sich als Jude zu erkennen zu geben. In zahlreichen Theatern und Filmen wurden Fragen der Sichtbarkeit sowie der Akkulturation direkt thematisiert. Wallach bezieht sich in diesem Bereich vor allem auf die Rezeption von Filmen in der jüdischen Presse. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass Filme vor allem dann wohlwollend besprochen wurden, wenn diese positive jüdische Rollenmodelle beinhalteten, die entweder jüdische Zugehörigkeit subtil zeigten oder aber mit Vorstellungen eines authentischen jüdischen Lebens übereinstimmten. Als übertrieben erachtete Darstellungen jüdischer Figuren erhielten hingegen oftmals negative Bewertungen.
Im darauf folgenden Kapitel thematisiert Wallach Kontexte, in denen Juden aus verschiedenen Gründen versuchten, nicht als solche erkannt zu werden. Dabei ergeben sich tiefe Einblicke in die sozialen Auswirkungen des Antisemitismus. Vor allem in diesem Teil zeigen sich die Stärken des geschlechtergeschichtlichen Ansatzes. Ausgehend von antisemitischen Übergriffen im Berlin der Weimarer Republik nimmt die Autorin das Phänomen der Selbstkontrolle und -überwachung innerhalb der jüdischen Gesellschaft in den Blick. Diese Tendenz bezog sich insbesondere auf das Äußere von Frauen, denn diese wurden immer wieder in Zeitungen und Pamphleten dazu angehalten, auf die exzessive Zurschaustellung von teurem Schmuck und das Tragen modischer Kleidung zu verzichten. Dabei folgten diese Aufrufe auch indirekt dem antisemitischen Bild der jüdischen Frau, die als Parvenü-Figur nur auf Reichtum aus sei und dies mittels teurem Schmuck und luxuriöser Kleidung zeige. Nur einzelne zeitgenössische Autorinnen beharrten in der Debatte darauf, dass Frauen selbst über ihre Kleidung bestimmen sollten. Das Phänomen der Selbstkontrolle weist Wallach auch in Kurbädern und Sommerfrischen nach. Denn gerade hier kam der Kontrolle über Informationen zur eigenen Zugehörigkeit eine erhöhte Bedeutung zu, da sich in diesen oft überschaubaren Orten eine spezifische Situation der gegenseitigen Beobachtung einstellte. Auch in anderen Bereichen blieb die jüdische Sichtbarkeit ein spannungsgeladenes Feld. So zeigt Wallach anhand von zwei Romanen über jüdische Tänzerinnen sowie der Karrieren von zwei jüdischen Schönheitsköniginnen, dass eine plötzliche Verkündung der jüdischen Zugehörigkeit für Einzelne zu öffentlichen Demütigungen und antisemitischen Schmähungen führen konnte.
Im vierten Kapitel der Arbeit widmet sich Wallach dem weit verbreiteten Phänomen der Falschidentifikation. Während die Mehrheit der deutschen Juden die Angst hegte, als „Ostjuden“ wahrgenommen zu werden, wurden Embleme osteuropäischer Herkunft oftmals als jüdisch gedeutet. In ihrer Diskussion der Ursachen für die häufigen Missverständnisse und Falschidentifikationen verweist Wallach zu Recht auf das verbreitete Verlangen nach Authentizität sowie den Drang, die „wahre Identität“ einer Person herauszufinden (S. 158). Den Gründen für dieses Begehren sowie dessen Bedeutung für die jüdische Erfahrung geht sie jedoch leider nicht nach.
Statt einer zusammenführenden Deutung setzt die Autorin ihre Befunde im Schlusskapitel mit Phänomenen des „racial passing“ und des „sexual passing“ in Beziehung. Dabei geht es ihr explizit nicht darum, Unterschiede zu negieren, sondern Gemeinsamkeiten hervorzuheben. So verweist sie auf ein Set von visuellen Codes unter Homosexuellen in den 1920er-Jahren, die denen der Selbstidentifikation von Juden ähnlich waren, sowie auf Affinitäten von sich einstellenden Tendenzen der Selbstüberwachung. Allerdings erschließt sich der Zweck dieses Vergleichs nicht gänzlich und so vergibt die Autorin die Möglichkeit, ihre Befunde noch stärker auszudeuten.
Insgesamt erweist sich „Passing Illusions“ als überaus spannende Lektüre, die zahlreiche neue Perspektiven für Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte eröffnet. Das in dem Buch ausgebreitete Material und die pointierten Deutungen der Autorin regen zum Nach- und Weiterdenken an. In der thematisch geordneten Struktur der Arbeit geht leider die chronologische Dimension etwas verloren. So wird an unterschiedlichen Stellen im Buch erwähnt, dass es vor dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus gegen Ende der Weimarer Republik immer gefährlicher wurde, sich offen als Jude zu zeigen. Doch wird dies leider nicht weiter ausgeführt. So bleiben Fragen nach dem Einfluss von bedeutsamen Entwicklungen – allem voran der Aufstieg der Nationalsozialisten – auf Vorstellungen und Praktiken jüdischer Sichtbarkeit leider unbeantwortet. Dies schmälert jedoch nicht die Leistung der Autorin. Vor allem durch den Fokus auf der situationellen Bedingtheit jüdischer Sichtbarkeit sowie die scharfen Beobachtungen zur Geschlechtergeschichte ist „Passing Illusions“ eine enorme Bereicherung für das Feld der visuellen Kulturgeschichte der Juden.
Anmerkungen:
1 Stellvetretend für die zahlreichen Arbeiten von Gilman seien genannt Sander L. Gilman, Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore u.a. 1986; sowie Sander L. Gilman, The Jew’s Body, New York 1991.
2 Barbara Kirshenblatt-Gimblett, The Corporeal Turn, in: Jewish Quarterly Review 95 (2005), H. 3, 447–461; Susan A. Glenn, “Funny, You Don’t Look Jewish”. Visual Stereotypes and the Making of Modern Jewish Identity, in: dies. / Naomi B. Sokoloff (Hrsg.), Boundaries of Jewish Identity, Seattle u.a. 2010, 64–90.