1988 erschien in einem Band zur Göttinger Lokalgeschichte ein schmaler Aufsatz des am Max Planck-Instituts für Geschichte tätigen Historikers Jürgen Schlumbohm über die ehemalige Entbindungsanstalt der Universität Göttingen unter dem Titel „Ledige Mütter als ‚lebendige Phantome‘“.1 Darin wendete sich Schlumbohm einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an verschiedenen Orten in Deutschland entstehenden Einrichtung zu, über die man bis dahin nur wenig wusste, weder im Göttinger, noch in anderen lokalen Kontexten. 24 Jahre später legte er die hier zu besprechende, über 500-seitige Monographie über die Göttinger Entbindungsanstalt vor. Es sagt schon viel über die Faszination, die von der Einrichtung „Entbindungsanstalt“ ausgeht, dass sie einen vielseitig interessierten Historiker wie Schlumbohm über einen so langen Zeitraum in ihren Bann ziehen konnte. In den deutschen Entbindungsanstalten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts trifft die akademische Wissenschaft auf die Lebenswelt der Unterschichten: es geht um das Verhältnis der Geschlechter, um Unzucht und Moral, um Leben und Tod, um „Menschenliebe“ und Verbrechensprävention, um „sanfte“ Heilkunde und medikale Kultur, um „Natur“ und „Kunst“. Diese faszinierende Melange hat inzwischen zu einer ganzen Reihe von Studien in diesem Themenfeld und zu einzelnen Entbindungsanstalten geführt, nachdem Schlumbohm 1988 noch zu den „Entdeckern“ der historischen Wurzeln der Krankenhausgeburt gehört hatte.2
Die Göttinger Entbindungsanstalt ist für Historiker vornehmlich aus drei Gründen zweifellos von besonderem Interesse. Sie ist, erstens, mit ihrem Gründungsjahr 1751 die älteste Universitätsentbindungsanstalt in Deutschland. Dies ist auch insofern von Bedeutung, weil bei den deutschen Entbindungsanstalten bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die Ausbildung von Ärzten in der Geburtshilfe ihre primäre Funktion ausmachte, während bei den Entbindungsanstalten in anderen europäischen Ländern der Fürsorgezweck stärker im Vordergrund stand. Zweitens stand der Göttinger Entbindungsanstalt über lange Jahre (zwischen 1791 und 1822) mit Friedrich Wilhelm Osiander einer der umstrittensten Geburtshelfer seiner Zeit vor. Er galt als besonders exponierter Vertreter einer ärztlichen Entbindungskunst, die mit Hilfe von Instrumenten – besonders der Geburtszange – in den Geburtsverlauf intervenierten, um so die Entbindung für Mutter und Kind (vorgeblich) bequemer und sicherer zu machen. In der Person des „Zangendoktors“ Osiander verbanden sich somit schon zeitgenössisch in besonders prägnanter Weise sowohl die sich mit dem Aufkommen ärztlicher Geburtshilfe verbindende Hoffnung, die für Mutter und Kind noch oft lebensbedrohliche „Natur“ zu besiegen, als auch die damit verbundene Kritik, durch übertriebenen medizinischen Interventionismus Mutter und Kind erst in Lebensgefahr zu bringen. Drittens und vor allem ist die Quellenlage für die Göttinger Entbindungsanstalt besonders günstig. Insbesondere ist das Kliniktagebuch erhalten, das von Anfang an äußerst sorgfältig geführt wurde und nicht nur jeden Geburtsverlauf sehr ausführlich dokumentiert, sondern darüber hinaus oftmals Informationen über die Lebenshintergründe der Gebärenden etc. bereit hält.
Schlumbohm erzählt die Geschichte der Göttinger Entbindungsanstalt in drei Teilen. Ein erster Teil behandelt die engere Institutionengeschichte, aber immer in Verflechtung mit ihren lokalen und universitären Kontexten. So schildert Schlumbohm zwei Aufsehen erregende Fälle aus Osianders Privatpraxis, die einen Einblick geben in die Grabenkämpfe innerhalb der Stadtgesellschaft, unter den Universitätsmedizinern und in der lokalen literarisch-wissenschaftlichen Öffentlichkeit, in die der Direktor der Entbindungsanstalt verstrickt war und in denen er sich auch in seinem Amt behaupten musste. Die Entbindungsanstalt und ihr Direktor mussten beständig um ihren stets bedrohten Ruf als „medizinisches Kompetenzzentrum“, als Stätte der Fürsorge für Schutzlose und als Ort sittlichen Anstands kämpfen. Ein zweiter Teil befasst sich mit dem praktischen Unterricht in der Entbindungsanstalt, der sich vor allem an die Medizinstudenten und weniger an die Hebammenschülerinnen richtete. Die Entbindungsanstalten bedeuteten für die Ausbildung junger ärztlicher Geburtshelfer zweifellos einen erheblichen Fortschritt, zugleich blieben die praktischen Fertigkeiten, die sich die angehenden Geburtshelfer hier aneignen konnten, schon wegen der relativ geringen Geburtenzahlen begrenzt, wie Schlumbohm betont. Überhaupt war auch das ärztliche Wissen über den weiblichen Körper, über Zeugung, Schwangerschaft und Geburt begrenzt. Entbindungsanstalten waren daher nicht nur Stätten, an denen akademische Geburtshelfer ihr Wissen an den Nachwuchs weitergaben, sondern auch Orte, an denen Ärzte durch Befragungen der Schwangeren im Kontext mit der Deutung körperlicher Zeichen sich Wissen anzueignen versuchten, wie Schlumbohm in einem weiteren Abschnitt dieses zweiten Teiles überzeugend zeigt. Die Schwangeren wiederum konnten ihren Wissensvorsprung, den sie in manchen Dingen genossen, in Verhandlungsmacht umsetzen; etwa wenn es darum ging, den voraussichtlichen Geburtstermin in der Aushandlung mit dem Klinikarzt „vorzudatieren“, um frühzeitiger die kostenlose Fürsorge und Pflege der Entbindungsanstalt in Anspruch nehmen zu können.
Der dritte Teil schließlich stellt die Schwangeren und Gebärenden, ihre Neugeborenen und ihr Verhältnis zur Entbindungsanstalt in den Mittelpunkt. Natürlich ist nicht alles neu, was man hier erfährt: dass die Entbindungsanstalten zunächst fast ausschließlich für ledige Schwangere eine Anlaufstelle boten, dass diese sich zumeist in einer sozialen Notlage befanden und keine Alternative zur Gebärhausgeburt hatten, dass viele Frauen es als Belastung empfanden, für den medizinischen Unterricht herhalten zu müssen, und sich diesem möglichst weitgehend zu entziehen versuchten, dass mit der Entbindung in der Klinik keineswegs eine größere Sicherheit für Mutter und Kind verbunden war. Schlumbohm gelingt es aber, die Lebenslage und Lebenswelt der Frauen vor, während und nach der Episode in der Entbindungsanstalt tiefer auszuleuchten, als man dies in der bisherigen Literatur finden kann. Er kann dabei vor allem aus der Quelle des Anstaltstagebuches schöpfen, das eben nicht nur medizinische Fallgeschichten skizziert, sondern in vielen Fällen Einblicke in Lebensgeschichten und -schicksale gestattet. Schlumbohm rekonstruiert und verdichtet diese Geschichten mit großer Akribie – stellenweise, mag mancher Leser finden, vielleicht auch einmal mit zu großer Akribie –, aber so entsteht ein schillerndes Panorama der Alltagswelten von ledigen Schwangeren an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.
Eine große Stärke des Buches liegt also in seiner empirischen Dichte und in den Geschichten, die es erzählen kann. Eine weitere große Stärke ist sein Autor. Schlumbohm geht es nicht um (moralisierende) Urteile über ärztliche Gewalttäter oder ärztliche Retter, über weibliche Opfer oder Gerettete; er verteilt keine Sympathien, sondern begegnet allen historischen Figuren, die er vorfindet, mit grundsätzlicher Empathie und zugleich notwendiger Distanz. Er belehrt den Leser nicht mit dem Zeigefinger, sondern klärt ihn auf. Schlumbohm hat Lust am Erzählen, und er erzählt gut. So ist sein Werk nicht nur eine Erkenntnisgewinn bringende wissenschaftliche Untersuchung geworden, sondern auch ein schönes, lesenswertes Buch.
Anmerkungen:
1 Jürgen Schlumbohm, Ledige Mütter als „lebendige Phantome“ – oder: Wie die Geburtshilfe aus einer Weibersache zur Wissenschaft wurde. Die ehemalige Entbindungsanstalt der Universität Göttingen am Geismartor, in: Kornelia Duwe u.a. (Hrsg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen 1988, S. 150–163.
2 Vgl. z.B. Marita Metz-Becker, Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1997; Verena Pawlowsky, Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784–1910, Innsbruck 2001; Marina Hilber, Institutionalisierte Geburt. Eine Mikrogeschichte des Gebärhauses, Bielefeld 2012. Unter Beteiligung Schlumbohms zuletzt auch Jürgen Schlumbohm / Claudia Wiesemann (Hrsg.), Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850: Göttingen, Kassel, Braunschweig, Göttingen 2004.