Sieben auf einen Streich

Gerhard Köpf hat sich zum Fünfundsiebzigsten mit dem wunderbaren Erzählband „Die Souffleuse“ selbst beschenkt – und uns obendrein

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Lesesucht“, heißt es in der Erzählung Die Reise nach Manderly, zeige sich „in jenem Reisefieber“,

das nur solche Reiseziele auszulösen vermochten, die nicht in Atlanten standen, sondern sich zwischen den Zeilen von Romanen verbargen. Lesen heißt ja immer, nicht nur das Gelesene, sondern vor allem sich zu verstehen. / Und dieses Fieber wiederum verlockt dann zu den schönsten Reisen, die man kühn aus seinem Lesestuhl heraus unternehmen kann.

Kann man schöner sagen, worin der Zauber bei der Begegnung mit Literatur – Literatur! – besteht? Jener Zauber, der gleichermaßen Fernweh und Fremdbegegnungen und Innewerden und Selbsterkenntnis umfasst und der in ein Seelenleben und in Denkwelten versetzt, denen der nötigende Alltag mit seinen Verpflichtungen, Trivialitäten, Sorgen, Routinen und Mäßigungen abhold ist.

Schöner sagen: Wie bei seinen letzten Veröffentlichungen Palmengrenzen (2020) und Die Legende von Montecassino (2021), drängt sich auch angesichts von Die Souffleuse – der Band übernimmt den Titel der ersten hier in einer Neufassung wiedergegebenen, 2012 in Köpfs Die Zeit auf alten Uhren. Ein Album abgedruckten Erzählung – bei aller Unterschiedlichkeit den genannten Vorgängern gegenüber die Frage auf, ob es eigentlich mit all jenen von Saison zu Saison gefeierten erzählerischen Innovationen etwas auf sich habe. Jenen Innovationen, die vom literarischen Betrieb aus wohl eher sachfremden Gründen wie jene berüchtigte Sau durchs Dorf getrieben werden, nur um in nicht allzu ferner Zukunft, dead ends und filiationslos die bzw. wie sie meist sind, in aller Stille dem Vergessen anheimfallen.

Dass unter jenen Abweichungen vom Gewohnten dabei auch solche sind, die tatsächlich die Bezeichnung Innovation verdienen und die von daher das Erzählen bereichern, soll damit keinesfalls bestritten werden – Beispiele aus der Moderne und der Gegenwart legen davon beredt Zeugnis ab. Aber den ebenso gediegenen wie sprachvirtuosen, den zugleich kreativ und behutsam beerbenden erzählerischen Traditionalisten Gerhard Köpf zu lesen, eröffnet eben die Einsicht, dass der zusehends in Vergessenheit geratene, von Dogmatismusverdacht freilich nicht frei zu sprechende Georg Lukács mit seinem programmatisch auf Zukunft gerichteten Hohelied auf die realistischen Meister des 19. Jahrhunderts auch heute noch Gültiges gesagt hat.

Der Band Die Souffleuse enthält neben der genannten gleichnamigen Erzählung sechs weitere Erzähltexte, von denen drei hier erstmals veröffentlicht werden: Der Tod zu Wolgast, Die Legende vom Kronkorkenesser und Der Drachenelch. Bei den anderen Erzähltexten handelt es sich wie im Fall der Erzählung Die Souffleuse um eine Neufassung – Der Frack – oder – Die Reise nach Manderley, Einführung in die Vorhangkunde – um Wiederabdrucke von Privatdrucken aus den späteren 2010er Jahren. Seitengenaue Hinweise auf Primär- und Sekundärliteratur, die in die Erzähltexte und in die vorangestellten Motti eingeflossen ist, bereichern das Quellenverzeichnis. Aus dem deutschsprachigen Raum fallen u. a. die Namen Gottfried Benn, Werner Bergengruen, Wilhelm Busch, Heimito von Doderer, Emanuel Geibel, Wolfgang Hildesheimer und Dölf Steinmann, aus dem internationalen Agneta Blomqvist, Lars Gustafsson, Per Olov Enquist, Siri Hustvedt, Daphne du Maurier und Ovid.

Die Erzählung Die Souffleuse spielt in Frankreich. Sie schreibt sich in eine Tradition von Texten ein – Feuchtwangers Die hässliche Herzogin oder Stifters Brigitta wären hier beispielsweise zu nennen –, die von unschönen Frauen handeln. In virtuoser Verdichtung von Gegenwart und Vergangenheit eines langen Lebens und einem sich dem Erzählten wunderbar anschmiegenden Ton – den unterbrechen an ein, zwei Stellen allerdings etwas irritierende, vielleicht als ironische Brechung gemeinte launige Bildungseinschübe – wird auf knappen fünfzehn Seiten von der Apothekerstochter Elodie Winter erzählt. Die hat das Schicksal mit einem „hässlichen Buckel“ beschwert, „der ihr zartes Elfenwesen auf das Bizarrste entstellte.“ Schon als Kind hat sie lernen müssen, „ihren Träumen und Wunschvorstellungen mehr Gewicht zuzubilligen als der Wirklichkeit“. Nach Enttäuschungen, darunter eine in der Liebe, sucht sie Zuflucht in der Kunst. Hugos Notre-Dame de Paris wird ihr zu einem Erweckungserlebnis, in der Welt des Theaters will sie fortan Erlösung finden. Als hingebungsvolle, hochgeachtete Souffleuse – sie nennt sich nunmehr Paulette – erfährt sie über viele Jahre so manches Glück. Gekrönt wird dieses Glück, „als sich, man mochte es schier nicht mehr glauben, ein Mann in das alterslose bucklige Wesen verliebte“, der Theaterarzt Dr. med. Vitus Strand.

Aus der über fünfzig Seiten langen, mit breitem Kulturwissen etwas überfrachteten Erzählung Der Frack ließe sich vermutlich auch ein Roman oder eine Novelle entwickeln. Von Anfang an gilt es hier sehr genau zu lesen, gibt es doch Andeutungen auf spätere Enthüllungen, die der in München spielenden Erzählung Dimensionen einer tragödienhaften Detektivgeschichte verleihen. Der Ich-Erzähler, ein im Ruhestand lebender Arzt von einiger Behäbigkeit, erzählt reflektierend von einem ihm nur flüchtig bekannten, bereits verstorbenen genialen Schneider von „ausgezeichnetem Ruf“ mit Namen Harry Randel als Vertreter einer untergegangenen adlig-großbürgerlichen Kultur. Randel, von „ausgesucht antiquierten Umgangsformen“, umgeben von einer „Aura von Distinguiertheit“ und dem „britischen Stil“ verpflichtet, ist „absolut diskret und von jener noblen Zurückhaltung, die ebenso wohltuend wie geheimnisvoll“ ist. Über seine Vergangenheit verbreitet er allerdings, so der Ich-Erzähler schon nach wenigen Seiten, ein „frommes Märchen“. Als ein abgeschieden lebender Münchner überraschend den Nobelpreis für Medizin erhält – bei aller sonstigen Faktenfülle kommt hier wie bei Randel selbst wohl keine historische Person als Vorbild in Frage – und sich von Randel einen Frack anfertigen lässt, springt dessen Leben aus dem Gleis.

In Die Reise nach Manderley ist es Gerhard Köpf selbst, der in poetisch unaufdringlichem, doch bestrickendem Ton über gut fünfundzwanzig Seiten von einer wohl länger zurückliegenden Reise nach Cornwall erzählt – „angeregt von Hildesheimers geheimnisvollem Satz: Cornwall ist an seinen drei Meerseiten von einem Möwengürtel umgeben“ aus Zeiten in Cornwall. Weite Teile des ebenso sachverständigen wie einfühlsamen Textes gelten dem Leben und Schreiben der häufiger abgewerteten Daphne du Maurier, deren Roman Rebecca im Gepäck mitreist. Dabei gelingt es Köpf, der insbesondere anhand dieses Romans eine Lanze für „jenes meist zu Unrecht belächelte, gering geschätzte und vielfach verachtete Genre“ des Melodramatischen und für du Mauriers Lebensmotto „Niemandes Herr und niemandes Knecht sein“ bricht, auch, die Aura Cornwalls heraufzubeschwören.

Der Tod zu Wolgast knüpft insofern an Die Reise nach Manderley an, als mit der Novellensammlung Der Tod von Reval des Balten Werner Bergengruen zunächst auf ein weiteres Werk Bezug genommen wird, das „gemeinhin weit unterschätzt“ wird. Über die nächsten zehn Seiten dann – es geht um das übergeordnete Thema „Kunst und Tod“ – wird anhand einer Reise die Geschichte der Stadt Wolgast seit den Tagen der Hanse erzählt. Im Zentrum stehen dabei im früheren 18. Jahrhundert eingewanderte Protestanten aus dem Salzburger Land und hier der Reeder Caspar Siegmund Niederecker. Der beschloss nach katastrophischem Familiengeschehen im Zuge einer Pestepidemie, um der Erlösung von seelischen Qualen willen und anderen zur Mahnung halber, Tafeln mit Totentänzen zu schaffen. Ob diese bewirkten, dass Wolgast in den folgenden Jahrhunderten wieder erblühte und auch beide Weltkriege „ohne nennenswerten Schaden“ überstand?

Auch die nur fünf Seiten lange Erzählung Die Legende vom Kronkorkenesser, der kürzeste Text des Bandes, lässt sich als Reiseerzählung klassifizieren. In den Nachtzug nach Göteborg steigt in der einst wichtigen Garnisonsstadt Landskrona ein junger Mann mit verwegenem Aussehen ein, wohlbemerkt in den „Waggon Erster Klasse“. Nachdem er eine Flasche Alcopops mit den Zähnen geöffnet hat, trinkt er nicht etwa, sondern kaut auf dem Kronkorken „herum wie auf Kaugummi“. Zwischen dem Ich-Erzähler – auch das dürfte Köpf selbst sein – und dem jungen Mann entspinnt sich ein kurzes, bemerkenswertes Gespräch. An der Station Varberg erhebt sich „das seltsam alte Kind“, beschenkt den Ich-Erzähler mit einer Sonderlichkeit und lässt diesen rätselnd zurück.

Mit der wohl autobiographisch eingefärbten, gut dreißig Seiten langen und vor Fabulierlust sprühenden Erzählung Der Drachenelch entführt der Autor in satirischer Absicht in das ihm wohlvertraute Universitätsmilieu. Ein ursprünglich aus Speyer stammender, als Professor an der nordschwedischen Universität Umeå lehrender und sich durch „Besonnenheit und Gelassenheit“, diplomatisches Geschick, „Wortkargheit“ und „Unerschütterlichkeit“ auszeichnender Literaturwissenschaftler mit Namen Landau hat den „hochangesehenen Schweizer Schriftsteller Carlotto Breff“ zur Lesung eingeladen. Umsichtig wie Landau ist, trifft er weitreichende Vorbereitungen für den auf Ende November angesetzten Besuch Breffs, dessen von Landau entfaltete Biographie sich wie diejenige eines wahren Tausendsassas liest. Als Landau und Breff schließlich aufeinandertreffen, zeigt sich, dass der vor Ort „kleine Gott“ Landau mit all seinen Vorbereitungen der launigen, weltläufigen Diva Breff in keiner Weise gewachsen ist. Als die dann auch noch einen Elch sehen möchte, verliert Landau die Kontrolle über das Geschehen.

Schließlich die dem Schweizer Erzähler Dölf Steinmann gewidmete, fünfzehnseitige Ich-Erzählung Einführung in die Vorhangkunde, die ein weiteres Feuerwerk an Erzählkunst abbrennt und mit Skurrilem nicht spart. Auch hier handelt es sich offensichtlich um eine Erinnerung des Autors, und auch die führt ins erheiternde Universitätsmilieu. Bei der Besetzung eines Lehrstuhls für Theaterwissenschaft hat ein Kandidat, „ein vitaler Schweizer mit gesunder Gesichtsfarbe“, für seinen Bewerbungsvortrag das „reichlich abwegige und daher ziemlich chancenlose Thema […] Einführung in die Vorhangkunde“ gewählt. Mit viel Enthusiasmus trägt der Kandidat sein stupendes Wissen vor, das in den geradezu herausgebrüllten „Kernsatz“ mündet: „,Der Vorhang markiert die Grenze zwischen Kunst und Leben.‘“ Danach leitet er – es schließt sich thematisch der Kreis zu Erzählungen wie Der Frack und Die Reise nach Manderley – zu der bislang nicht gestellten Forschungsfrage über, wer denn diese „Künstler“ seien, „die sich das Großformatige [eines Theatervorhangs] zutrauen.“ Auf diese Frage antwortet er – Erzählung in der Erzählung – mit der fesselnden Geschichte des Allgäuer Malers Franz Sales Lochbihler.

Fazit: Gerhard Köpf zu lesen ist stets ein großes Vergnügen. Mit den hier vorgelegten Erzählungen lassen sich gemäß des Eingangszitats fabelhafte Reisen in Raum und Zeit antreten. Etwas weniger Gepäck, sprich: mehr Zurückhaltung bei der Präsentation von zuweilen erschlagendem, angeheftet wirkendem Kulturwissen wäre das Tüpfelchen auf dem I.

Titelbild

Gerhard Köpf: Die Souffleuse.
Braumüller Verlag, Wien 2023.
144 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783992003501

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