Ein kunstreicher Wortschmied heißer Eisen und feinsinniger Bedenker existentieller Grundthemen

Gerhard Köpf schreibt in „Die Legende von Montecassino“ über die Schlacht um Montecassino (1944)

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie mit seinem letzten Roman Palmengrenzen, der im Wesentlichen von dem sich ausbreitenden, selbst die Ökologiebewegung betreffenden Einfluss der Mafia vor allem im Allgäu, aber auch anderenorts in Deutschland handelt, hat Gerhard Köpf auch mit seinem jüngsten, eher schmalen Roman mit entschlossenem Zugriff ein heißes Eisen angepackt: Die Schlacht um Montecassino Januar bis Mai 1944 und, damit in engem Zusammenhang stehend, die Frage, ob es sich bei der Evakuierung der im dortigen Benediktinerkloster aufbewahrten abendländischen Kunstschätze durch Wehrmachtsangehörige um einen Kunstraub in großem Stil gehandelt hat oder um den wagemutigen Versuch, diese Kunstschätze zu retten.

Doch ist der – provokante – Roman auf dieses Thema und diese Frage keineswegs zu reduzieren, bieten diese doch vielmehr neben anderem vor allem auch Gelegenheit, in teils wundervollen, der Hauptfigur Pater Remo in den Mund gelegten Sätzen voller Weisheit, Suchbewegungen und Poesie über Wirklichkeit und Wahrheit, Planen und Fehlschlagen, Erinnern und Zeitlichkeit, Vergangenheit und Geschichtsschreibung, Literatur und Wahrheit, Glück und Leidenschaft, Glaube und Kunst, Altern und Alter, Verdienst und Schuld, Lohn und Buße und anderes mehr zu sinnieren. An den betreffenden Stellen fühlt man sich zuweilen in die 1940er und 1950er Jahre und damit in die Hochphase des Existenzialismus zurückversetzt, und es verwundert nicht, dass im- oder explizit an damals einflussreiche Autoren und Titel wie beispielsweise Hans Sedlmayrs Der Verlust der Mitte (1948), Blaise Pascals Pensées (1670), Jean-Paul Sartres L’être et le néant (1943), Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) oder Dino Buzzatis Il deserto die Tartari (1940) erinnert wird.

Überhaupt ist es so, dass sich durch den Roman ein kräftiges, teils verhülltes Tauwerk an literarischen und philosophischen Verweisen und Anspielungen hindurchzieht (u.a. Jean Améry, Gabriele d’Annunzio, Samuel Butler, Robert Frost, Marilina Giaquinta, Ernst Jünger, John Keats, Henry Wadsworth Longfellow, Michel de Montaigne, Eugenio Montale, Domenico Ruffini, Percy Bysse Shelley, Adalbert Stifter, Voltaire). Das wird ergänzt durch andere rote Fäden politischer (bspw. Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi, Sandro Pertini), kultur- und insbesondere kunstgeschichtlicher Art, wobei Pieter Bruegel des Älteren Der Blindensturz ein besonderer, mit Pater Remo in Verbindung stehender Stellenwert zukommt.

Wie die Schöpfungswoche, ist auch die Binnenhandlung des formvollendet konstruierten Romans, sozusagen die Schöpfung der Legende von Montecassino mit allem ‚Drumherum‘, in sieben Tage bzw. sieben „Aufnahmen“ genannte, fünf (7.) bis gut vierzig (3.) Seiten lange Kapitel unterteilt – die meisten Kapitel (1., 2., 5., 6.) bewegen sich zwischen elf und fünfzehn Seiten, das 4. Kapitel umfasst deren vierundzwanzig. Der als Reporter tätige Icherzähler lässt sich diese Legende von einem steinalten, eigenwilligen Zeitzeugen, dem bereits genannten Pater Remo auf Band sprechen. Der lebt in der Benediktinerabtei Sacra di San Michele im Val di Susa in der Nähe von Turin – hier wurde übrigens Der Name der Rose (1986) gedreht – und hat es zur Bedingung der Begegnung gemacht, in seiner Erzählung nicht unterbrochen zu werden oder gar eine Frage gestellt zu bekommen.

Den genannten „Aufnahmen“ ist jeweils ein leseanleitendes Motto mehr oder minder berühmter Schriftsteller, Dichter und /oder Philosophen – Leonardo Sciascia, Fabrizio Gatti, Marcel Proust, Leo Tolstoi, Claudio M. Mancini, Friedrich Nietzsche (weitere wie Robert Frost oder Samuel Butler werden im Text genannt) – sowie ein italienisches Sprichwort vorangestellt. Gerahmt werden die Schöpfungstage von einem sechsseitigen „Prolog“ und einer fünfzeiligen „Coda“. Diesen wiederum voran- bzw. nachgestellt sind ein literatur- und erkenntnistheoretisch dimensioniertes Zitat von Cees Nooteboom –

Wenn man vom Reich der Wissenschaft ins Reich der Mythen wechselt und dann den Schritt wieder zurücktut, um mit dem Arsenal der Mythen auf die Wissenschaft zu blicken, entstehen von selbst Fabeln.

– und die dem Vater des Autors geltende, der Vulgata (14,29) entnommene Widmung „Et si omnes scandalizati fuerint in te, sed non ego“ („Und wenn alle an dir Anstoß nehmen, nicht aber ich“), sowie ein „Nachwort“ und eine Auflistung von „Anregungen, Quellen, Zitate[n]“ inklusive einer Danksagung an unverzichtbare Ratgeber und Unterstützer.

Der „Prolog“ berichtet nicht nur von den schon genannten erweiterten Örtlichkeiten und jenen Bedingungen, unter denen der Binnenroman entsteht, sondern auch von der Anreise des Icherzählers, den Räumlichkeiten, in denen der Zeitzeuge lebt, und von basalen Eigenschaften dieses Zeitzeugen selbst. So entsteht eine dichte, zugleich abgeschieden-zeitenthobene und ‚knisternd‘-spannende Atmosphäre, und wir sind es unter der Hand bald selbst, die dem in den „Aufnahmen“ monologisierenden Pater Remo gegenübersitzen und diesem, in einen Sog geraten, gebannt zuhören.

Die „Coda“ ihrerseits greift noch einmal in konzentrierter, in das treffliche Bild eines im Stau Stehens „auf der Höhe der Brennergrenze“ gefassten Form das Thema Zeitlichkeit bzw. Vergänglichkeit bzw. des Lebens Fluss auf.

Das Nachwort schließlich klärt über jene Art von faktographischer Prosa auf, für die sich der Begriff ‚Faction‘ eingebürgert hat und für die unlängst Gert Loschütz mit seinem Roman Besichtigung eines Unglücks ein weiteres außergewöhnliches Beispiel geliefert hat. Dabei geht es um jenes „Wahrlügen[]“, das sich „der künstlerischen Freiheit der Gestaltung verpflichtet“ fühlt:

Dieses Buch ist eine Nacherzählung einer schon mehrfach erforschten historischen Begebenheit. Die beteiligten Personen Dr. Maximilian Becker oder Julius Schlegel und andere sind Figuren der Geschichte. […] Beide Männer wurden hier teil-fiktionalisiert. Tano Tancredi dagegen ist eine reine Kunstfigur, frei zusammengesetzt aus verschiedenen historischen Figuren […]. Gänzlich erfunden ist der alte Pater Remo. […] Jeder weiß, dass Literatur niemals historisch getreu erzählt, wie es war, sondern wie es hätte sein können. Sie lebt vom, ja sie lebt den Konjunktiv. Wenn sie sich dabei historischer Figuren bedient, so nur deshalb, um einen gewissen Grad an Glaubwürdigkeit einer Fiktion zu erzielen. Das gehört zu ihrem Spiel.

Mögen auch die beiden letzten Sätze dieses Autor-Bekenntnisses angesichts all des direkt oder indirekt dargebotenen Faktischen die Waagschale etwas zu sehr in Richtung Fiktion, Zeitvertreib, Unterhaltung und ‚Unernst‘ sinken lassen – auch da ist der Mensch im übrigen Mensch, wo er forscht und fabriziert, ein ganzer freilich möglicher Weise nicht –, ist doch nicht zu bestreiten, dass es dem als Autor wohl Schillersche Ganzheit beanspruchenden Köpf mit seiner erfundenen, ab und an vage an Ecos William von Baskerville erinnernden Hauptfigur Pater Remo und dessen Erzählung glänzend gelungen ist, Realgeschichte hegelisch in einer „Wahrlüge[]“ aufzuheben.

Am ersten Tag beginnt Pater Remo mit einer knappen Betrachtung des Benediktinerordens, dessen kulturgeschichtlichen Leistungen und dessen auf „ewige Gültigkeit“ zielenden „Bestimmung“, um kulturkritisch festzustellen, dass dieser „Gedanke […] spätestens im 20. Jahrhundert einem Niedergang ausgesetzt“ ist, der sich „wie Faulfraß“ in die „Klöster“ und in die „Herzen der Menschen“ eingenistet hat – „Desillusionierung und Selbsterkenntnis ermöglichen es mir, Nachsicht mit der Situation zu haben.“ Er erzählt sodann von seiner Herkunft (das Köpfsche Thulsern!), seinem Werdegang und seinem Leben jetzt, das vor allem durch eine „chronifizierte Lesesucht“ und damit verbundene „Reiseziele der Imagination“ bestimmt sei.

Auch am zweiten Tag geht es zunächst noch um den Werdegang Pater Remos, bis zu jenem Tag im Sommer 1943, an dem er die Abtei Montecassino betrat und der sein Leben „veränderte“. Im Zentrum des Erzählens steht dann aber – u.a. wird unter dem Stichwort „Gustav-Linie“ die Situation um Montecassino herum militärstrategisch genau erläutert – der Zeitraum zwischen „Herbst 1943 und Mitte Februar 1944“ und hier die Frage, ob es sich „um den größten Kunstraub aller Zeiten“ oder „die größte Kunstrettungsaktion aller Zeiten“ gehandelt habe. Dazu der in theoretischer Hinsicht an Hayden White erinnernde Pater Remo, dessen „elastisches Gedächtnis“ aus dem „Steinbruch“ von „historischen Geschehnissen und deren Quellen“ die „Geschichte zusammenzimmert“ und der das „Erzählen einer Geschichte […] als eine Möglichkeitsform der historischen Wirklichkeit“ versteht:

Es ist eine Frage des Standpunktes, denn es haben immer die Sieger das Sagen […]. Die Rettung des Archives und der Klosterschätze im Herbst 1943 durch deutsche Soldaten ist eine historische Tatsache. Während die alliierte Propaganda und jüngere Historiker von Plünderung und Kunstraub sprachen, konnten die evakuierten Güter unbeschadet dem Vatikan übergeben werden. […] alliierte Soldaten, darunter auch Offiziere, die im Kloster ein geheimes Versteck mit sakralen Gegenständen entdeckt hatten, [sind] zu Plünderungen geschritten.

Schließlich wird in diesem zweiten Kapitel mit der realhistorischen Figur des Stabsarztes Dr. Maximilian Becker – „Er saß immer zwischen den Stühlen“ – eine Person eingeführt, deren Verdienst bei der Rettung des Archives und der Kunstschätze meist zugunsten des österreichischen „Oberstleutnants“ Julius Schlegel übergangen wurde. Beide jedoch, so Pater Remo, „haben, jeder auf seine Art, zur Rettung der Kunstschätze beigetragen“, Becker als „Initiator“, Schlegel als Organisator.

Um diesen „Akademiker mit Doppelstudium in Medizin und Kunstgeschichte“ Dr. Becker – sein Handeln, seine Konflikte mit Vorgesetzten und mit dem tatkräftigen, doch eitel-selbstgefälligem Julius Schlegel sowie sein weiteres Schicksal während des und nach dem Krieg – geht es dann hauptsächlich im langen 3. Kapitel. Doch handelt dieses auch, kunstvoll verwoben mit diesem von dem Willen zu historischer Gerechtigkeit befeuerten Hauptthema, von „[u]nbestritten“ Faktischem um Montecassino als einer der „längsten und verlustreichsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges“, vom Heiligen Benedikt („Benedetto“), davon, „dass die deutsche Führung gegenüber der italienischen Kultur grundsätzlich überwiegend positiv eingestellt war“, unter den Alliierten hingegen Kunsträuber waren, vom Verhalten der Klosterleitung, der katholischen Kirche und dem der Medien, von Pater Remo selbst und etlichem anderen mehr.

Auch im 4. Kapitel geht es um einen weiteren blinden Fleck in der Historiographie von Montecassino, um die Evakuierung von Zivilisten nämlich, zu der Dr. Becker ebenfalls maßgeblich beigetragen hat. Mit dem „Biologie- und Lateinlehrers“ Cornelio Barbaro, dem Russen Boris Markow, dem „verschlagenen“ „Hektiker“ Corrado Ruffini und der deutschen Küchenhilfe mit bewegter Vergangenheit Ingeborg Seidel werden dabei höchst unterschiedliche Figuren von außerordentlichem Interesse ‚wahrgelogen‘.

Das 5. Kapitel handelt – mit der aus realen Figuren zusammengesetzten, einem skrupellosen politischen Wetterhahn gleichenden Kunstfigur (s.o.) Gaetano Tancredi im Zentrum – von dem ‚heißen Eisen‘ Beutekunst: „Nach dem Krieg wurde durch die Alliierten der Irrglaube befeuert, jedes einzelne Kunstwerk, das in den chaotischen Jahren des Krieges nach Deutschland gekommen war, sei geraubt worden.“ Tancredi, so Pater Remo, habe von „den Deutschen“ sogar den „Verdienstorden“ bekommen, obwohl er „sie nach Strich und Faden betrogen hatte.“

Richtig spannend wird es dann im 6. Kapitel, erfahren wir doch hier etwas über den Erzähler Pater Remo (Stichwort: Der Blindensturz), das ihn in ein gehöriges Zwielicht rückt – und ihn doch dadurch zugleich glaubwürdig macht in seiner Schöpfung, in seiner ‚Legendenbildung‘ und ‚Legendenwiderlegung‘ um Montecassino,  dass er es erzählt.

Schließlich das 7. Kapitel und damit zugleich kürzeste Kapitel. Pater Remo zieht die Quintessenz aus seinem Leben, seiner Sicht auf Montecassino und überhaupt auf die Vergangenheit:

Nichts ist, wie es scheint, und nichts ist, wie es war. Verbrechen wurden im Krieg auf beiden Seiten begangen. Schließlich hatte das 20. Jahrhundert mehrfach bewiesen, dass es keine unschuldige Nation, nur unschuldige Opfer gab. Das ändert allerdings nichts an meinem vecchi peccati [hanno ombre lunghe; Alte Sünden haben lange Schatten; italienisches Sprichwort].

Dann schläft Pater Remo erschöpft ein. Seine Aufzeichnungen entgleiten ihm, und damit verliert er „die Deutungshoheit über seine Sicht auf die Geschichte“. Ob sich diejenige des Lesers nach der Lektüre von Gerhard Köpfs jüngstem Roman verändert hat?

Titelbild

Gerhard Köpf: Die Legende von Montecassino.
Braumüller Verlag, Wien 2021.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783992003112

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