RE:Adler
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Vogelart, in waldigen Bergschluchten und an Seen nistend, göttlich | |||
Band I,1 (1893) S. 371 (IA)–375 (IA) | |||
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Adler. Aristoteles (h. a. IX 32), den Plinius n. h. X 6ff. ausschreibt, unterscheidet sechs Arten: 1) πύγαργος oder νεβροφόνος: hält sich in der Ebene und der Umgebung von Städten auf. 2) πλάγγος, in der Ilias XXIV 316 μόρφνος und περκνός genannt, auch νηττοφόνος: an Grösse und Stärke der zweite, in waldigen Bergschluchten und an Seen nistend. Plinius fügt ausser einer Schilderung seines Kampfes mit Wasservögeln (§ 9) hinzu (7) Phemonoë Apollinis dicta filia dentes esse ei prodidit mutae alias carentique lingua .... consentit et Boio (corr. Pincianus, codd. boethuius). Darnach scheint es, als ob gerade er in der Auguralkunde (vgl. unten) eine besondere Rolle gespielt hat. Er soll es auch gewesen sein (Plin.), der dem Aischylos die Schildkröte auf den Kopf geworfen hat (= Pandion Haliaetus ’Flussadler‘?). 3) μελανάετος oder λαγωφόνος: der kleinste, aber (mit Ausnahme von 6) der stärkste und mutigste, schweigsam und von gutem Charakter, der einzige A., der seine Jungen aufzieht, lebt in Bergen und Wäldern (= aquila minuta?). 4) περκνόπτερος oder ὀρειπέλαργος oder ὑπάετος: dem Geier ähnlich, sehr gross mit weissem Kopf und kurzen schwarzen Flügeln, voll übler Charaktereigenschaften, wird von Raben und anderen Vögeln verfolgt. Er lebt von Aas, ist stets hungrig und schreit. 5) ἁλιαίετος: mit dickem Hals, gekrümmten Flügeln und breitem Schwanz, lebt am Meere von der Jagd auf Seevögel (= Haliaetus albicilla ’Seeadler‘). Aristoteles h. a. IX 34 fin. sagt, dass er mit seinem scharfen Gesicht die unter dem Wasser schwimmenden Vögel verfolgt, um sie im Augenblick, wo sie auftauchen, zu fangen; er zwingt seine Jungen in die Sonne zu schauen und tötet die, deren Augen thränen (Arist. a. O. Plin. a. O. und XXIX 133. Antigonus hist. mir. 52 aus Aristoteles). Gewöhnlich wird diese Sage so gewandt, dass er damit die Legitimität seiner Brut prüft; Aelian. n. a. II 26. IX 3. Dionys. ixeut. I I. Lucian pisc. 46. Iulian p. 495, 2. 540, 11 H. Paroemiogr. graeci II 252, 26. 550, 11. Ekphantos ap. Stob. flor. 48, 64. Ps. Dionys. Areop. col. 361b Migne; vgl. 337a. Tzetz. Chil. XII 711ff. Lucan. IX 901ff. Tertull. de anima 8. Ennod. ep. I 18 p. 30, 3 H.; vgl. carm. II 150, 1. Claudian c. VI 1ff. Nach Boio bei Antoninus Liberalis 11 hatte das Erscheinen des ἁλιαίετος für Schiffer eine gute Vorbedeutung. 6) οἱ καλούμενοι γνήσιοι: [372] die einzige Vogelart, welche sich durchaus rein erhält, einundeinhalbmal so gross wie die übrigen Adler, braungelb und nur selten erscheinend und dann des Nachmittags (= Aquila fulva oder Aquila chysaetos ‚Steinadler‘ oder ‚Goldadler‘). Eine nur einigermassen sichere zoologische Bestimmung der von Aristoteles unterschiedenen Arten, mit Ausnahme von 5 und 6, ist bisher nicht möglich gewesen; vgl. Aristoteles Tierkunde hrsg. v. Aubert und Wimmer I 82ff. Gar nichts anzufangen ist mit den sonstigen Notizen über andere Adlerarten. Nach Aufzählung der Aristotelischen Klassen schliesst Plinius X 11 quidam adiciunt genus aquilae quam barbatam vocant, Tusci vero ossifragam, vgl. u. d. W. Aelian II 36 erzählt (mit einem in der uns vorliegenden Tiergeschichte nicht vorhandenen Citat aus Aristoteles), wie der A. χρυσαίετος oder ἀστερίας auf Kreta die Stiere erjagt. Da er μέγιστος ἀετῶν heisst, wird er mit Nr. 6 bei Aristoteles identisch sein. Einen weissen Schwanadler κυκνίας will Pausanias VIII 17, 3 selbst gesehen haben; von ihm soll Pythagoras ein gezähmtes Exemplar besessen haben (Aelian. v. h. IV 17. Jamblich vit. Pyth. 132).
Über die Lebensweise des A. teilt Aristoteles a. O. (und VI 6) ausser mehreren von der modernen Naturforschung bestätigten Zügen einige seltsame oder geradezu märchenhafte Nachrichten mit. So die, dass sich der Oberschnabel im Alter krümmt und das Tier darum Hungers sterben muss (vgl. Antigon. Car. 46. Paroemiogr. gr. ed. Leutsch I 42. Demetrius de eloc. 158. Horapollo II 96. Plin. n. h. X 15), nach einem aetiologischen Mythus (Aristot. a. O.) deshalb, weil er einstmal ein Mensch gewesen sei, der sich an seinem Gastfreund verging und nun in Vogelgestalt dafür büssen müsste. Die vom A. aus dem Nest geworfenen Jungen soll der Vogel φήνη (Geier?) aufziehen (Arist. IX 34. VI 6, wo Aristoteles beifällig den Vers des ’Musaios‘ anführt ὃς (sc. ἀετὸς) τρία (sc. ᾠὰ) μὲν τίκτει, δύο δ'ἐκλέπει, ἑν δ'ἀλεγίζει; VIII 18 tadelt er den Hesiod, dass er den A. trinken lässt, während alle krummklauigen Vögel nicht tränken). Eine andere Überlieferung (Donat zu Terent. Heautontim. 521) liess den A. im Alter zum Säufer werden, wenn er mit dem verkrümmten Schnabel nicht mehr fressen konnte. Andrerseits war von einer bis zum Tode erhaltenen Jugendkraft ἀετοῦ γῆρας sprichwörtlich; vgl. Suid. s. v. und Paroemiogr. gr. I 42 u. ö. Die christlichen Schriftsteller erzählen auf Grund von Psalm 102, 5 von einer Verjüngung des A. im Alter; vgl. Physiologus cap. 6. Er soll sich dann den krummen Schnabel abstossen (Augustinus z. d. St. ed. Benedict. IV p. 839).
Zu dem Bereich ’natürliche‘ Sympathie gehört der magische ’Adlerstein‘ (ἀετίτης, s. d.), den der Vogel angeblich in sein Nest einbaut. Auch die Pflanze ’Schönhaar‘ (καλλίτριχον = ἀδίαντον, s. d.) soll in seinem Nest sein, um die Schaben fernzuhalten (Geop. XV 1, 9). Eine andere Pflanze, σύμφυτον, tötete ihn (Aelian. n. a. VI 46). Wenn er krank war, frass er die Schildkröte, um zu gesunden (Dionys. ixeut. I 1. Pseudo-Nepualios ed. Gemoll, Striegau 1884. § 14). In der animalischen Medicin wurden – [373] wie noch heute in China; vgl. Brehm Tierleben IV² 620 – seine Körperteile verwandt: die Galle gegen Augenleiden (Plin. n. h. XXIX 123. Diosc. II 96. Marcellus Empir. 8 Helmr.), das Hirn gegen Gelbsucht (Plin. XXIX 118), die Zunge als Amulet gegen Husten (Galen XIV 505), der Magen gegen schlechte Verdauung (Marcell. Emp.), die Füsse gegen Lendenschmerzen (Plin. XXX 54). Von der Verwertung des Mistes als Heilmittel will zwar Galen XII 305 nichts wissen, empfiehlt aber X 1012 zur Vertilgung von Wanzen Adlerfedern. Diese sollten auch mit den Federn andrer Vögel zusammengethan, die letztern vernichten (Aelian. n. a. IX 2. Plutarch. quaest. conv. V 7. Plin. X 15. Theophyl. Sim. quaest. nat. 2 und andere Byzantiner).
Mit dem Glauben an die Eigenschaft des A. als Blitzvogel (vgl. unten) hängt es zusammen, dass sein rechter Flügel in Saatfeldern und Weinbergen vergraben wurde, um diese vor Hagelschauern zu schützen (Geop. I 14, 2). Die gleiche prophylactische Kraft (auch gegen Heuschrecken) sollte ein Adlerbild auf Smaragd besitzen, Plin. n. h. XXXVII 129. Adlermist wendeten die Landwirte an, um Schlangen fernzuhalten, Geop. XIII 8, 8. Eine reale Benutzung fanden seine Federn zur Herstellung von Pfeilen bei libyschen und andern barbarischen Völkern (Aischyl. fr. 135, 4. Fab. Aesop. 4 H.), Griechen und Römer brauchten sie zu Zahnstochern (Krinag. Mytil. 5 [Rubensohn p. 68]), die Skythen fertigten aus seinen Knochen Flöten (Pollux IV 76). Bei den Indern wurde er zur Jagd abgerichtet; Ktesias b. Aelian. n. a. IV 26. Dass er oft gezähmt wurde, bezeugen die vielen Anekdoten über die wunderbare Anhänglichkeit und Dankbarkeit des Tieres. Aelian. n. a. II 40. VI 29 [Phylarch]. XVII 37 [Stesichoros]; vgl. fab. Aesop. 5. 6. 92. 120. Pausan. IV 18, 4. Pseudo-Plut. parall. min. 35. Plin. n. h. X 18: genaueres bei Marx Griechische Märchen von dankbaren Tieren, Stuttgart 1889, 29–50.
Die griechische Mythologie gab dem A. einen hervorragenden Platz. Er galt als der einzige schlechthin göttliche und himmlische Vogel (Aristot. h. a. IX 32 fin. Anthol. Pal. IX 222, 2): ein Glaube, zu welchem nach Aristoteles sein hoher Flug den Anlass gegeben hatte. Als Weissagevogel nahm er den ersten Platz ein: τελειότατον πετεηνῶν Il. VIII 247. XXIV 315; μαντείας πρόεδρος Aristot. VIII 18 fin. So lehrten auch die Etrusker (Porphyr. de abstin. carn. III 4 p. 125 Nauck. Seneca quaest. nat. II 32). Deshalb spielte er auch in der Traumdeutung eine besondere Rolle. Artemidor. II 20. Er war dem höchsten Gotte heilig und dessen ständiges Attribut; vgl. Sittl der Adler und die Weltkugel als Attribute d. Zeus i. d. griech. u. röm. Kunst (Jahrb. f. cl. Phil. Suppl. Bd. XIV). Zeus bezw. Iuppiter hält entweder ein Adlerscepter oder trägt den Vogel auf seiner Hand (Arm) oder – und dies ist ist erst der gewöhnliche Typus der römischen Plastik – hat ihm neben sich auf dem Boden sitzen. Am spätesten endlich kam das (orientalische) Motiv auf, den Zeus auf einem fliegenden A. ruhen zu lassen (Sittl 37). Schon in der Ilias heisst er ’der liebste der Vögel des Zeus‘ und der ’schnelle Bote‘ XXIV 292. 311. VIII [374] 247; vgl. u. a. Eurip. Ion 156. Arat. 522. Callimach. hymn. I 68. Nach der einen Version war er mit dem Götterkönig zu gleicher Zeit geboren (Schol. A Hom. Il. VIII 247; V XXIV 293), nach einer andern Erzählung hatte er ihm den Sieg verkündet im Gigantenkampfe (Serv. Aen. IX 564. Mythogr. Lat. I 184. II 198. Etym. M. s. ἀετός) oder in dem gegen die Titanen (Anacreon (?) fr. 132B. Aglaosthenes bei Eratosth. cat. fr. 30 p. 156 Rob. Hygin. Astr. II 16. Lact. Plac. I 12. Schol. Il. VIII 247. Serv. Aen. IX 564. Schol. Hor. c. IV 4). Er ist der Waffenträger des Donnergottes und Überbringer des Blitzes. Eine rationalistische Erklärung dieses Glaubens auf Grund eines angeblichen Naturvorganges bei Plin. X 15 (negant unquam solam hanc alitem fulmine exanimatam; ideo armigeram Iovis consuetudo iudicarit). In den Gewitterwolken sollte zudem der Schnabel des A. feurig blinken (Plin.).
Bekannt sind die Sagen, dass der A. in Zeus Auftrag den Ganymed raubte und dem Prometheus die Leber zerfleischte. Nach kretischer Überlieferung (Moiro bei Athen. XI 491b) tränkte und schützte er den Zeus als kleines Kind (über die Denkmäler s. Sittl S. 8 A. 1). In Delphi standen neben dem ὀμφαλός zwei Adlerbilder, weil dort die beiden A. zusammengetroffen waren, welche Zeus von den Enden der Erde ausgesandt hatte. Pindar fr. 32 B. bei Strab. IX 419. Schol. Pind. Pyth. IV 6 u. a.; vgl. Bursian Geogr. v. Griechenl. I 176, 2. In Olympia wurde der Beginn des Wettrennens dadurch angezeigt, dass sich vom Altar des Hippodromos ein eherner Adler mittels eines Mechanismus in die Lüfte erhob, während ein Delphin zu Boden schoss; Pausan. VI 20, 12. Bei Liebesabenteuern nahm Zeus selbst die Gestalt des A. an (bei Ganymedes [vgl. oben] Lucian Dial. deor. 4. Ov. metam. X 255; bei Aigina Nonn. Dion. VI 210; bei Asteria Ovid met. VI 108; über die hierhergehörigen Bildwerke s. Sittl 8, 3 und über den ’Adler als Stellvertreter des Zeus‘ ebenda 39f.).
In den Verwandlungssagen waren es der attische König Periphas, der in den blitztragenden Vogel überging (Anton. Lib. 6) oder Merops von Kos, der als Adler dann noch unter die Sterne versetzt wurde (Hygin. Astr. II 16). In den ἁλιαίετος wurden verwandelt König Nisos von Megara (Ovid. met. VIII 145. Hygin fab. 198. Vergil. Georg. I 405) und der Ephesier Pandareos (Boios bei Anton. Lib. 11). Auch Periklymenos nahm nach einigen die Gestalt des A. an. Hesiod in d. Schol. Apoll. Rhod. I 156. Ovid. metam. XII 554. Hygin fab. 10. Astronomische Mythen über das Sternbild A., welches Aratos phaen. 313f. schildert, bei Hygin Astr. II 16. Eratosth. catast. 30 mit den Schol. Germ. Serv. Aen. I 394 (vgl. Knaack Hermes XXIII 311).
‚Der König der Vögel‘ (Aischyl. Agam. 113. Pindar Pyth. I 13; Ol. XIII 30; Isthm. VI 48. Aristoph. Ritt 1087 u. a. ö.) war bereits im Orient das Symbol der Zeusentsprossenen Könige, besonders das der Achaimeniden (Aischyl. Pers. 250. Xenoph. Cyrop. VII 1, 8. Curt. Ruf. III 3, 16), deren Stammvater von einem A. auferzogen war (Ael. n. a. XII 21), was später auf Lagos (Suid. s. v.) von den Ptolemaeern übertragen wurde. Adlersagen gingen um auch von dem babylonischen [375] Könige Gilgamos (Aelian a. O.) und dem Gründer der phrygische Dynastie Gordios (Arrian an. II 3). In Europa wurde der A. als königliches Münz- und Wappenzeichen durch Alexander den Grossen eingeführt, dem die Diadochen hierin folgten; vgl. Keller Tiere des klass. Altertums 241. 244ff. Octavian brachte ihn dann aus Ägypten nach Rom als kaiserliches Wappen. Joseph. b. Jud. III 6. Der in Rom zuerst auf der Antoninussäule erscheinende Doppeladler ist uralt und stammt aus dem Orient (Sittl 11. Keller 276). In der Apotheose fuhren die Kaiser auf einem A. gen Himmel (Artemidor II 20), was ausnahmsweise auch andere Personen thun (Sittl 38). Bei der Consecration des Kaisers auf dem Marsfelde liess man deshalb vom Scheiterhaufen einen A. in die Luft steigen (Herodian IV 2). Über den Gebrauch des A. als römisches Feldzeichen s. Signa. Vgl. im allgemeinen Keller a. O. 236–276. Viele Darstellungen des A. bei Imhoof-Blumer und O. Keller Tier- und Pflanzenbilder auf Münzen und Gemmen (s. dort d. Register S. 164 u. d. W.).