Mein kleiner Bube
Sie wissen nicht, wie oft ich stehe
Des Nachts an seiner Lagerstatt,
Und wie ein seltsam-süßes Wehe
Mich jedesmal ergriffen hat,
Sich weich die seidne Wimper schmiegt,
Wenn er, in holdem Traum befangen,
In seinen weißen Kissen liegt.
Wie ruhet er in sanftem Schlummer,
Mit seiner dunklen Macht der Kummer
Dem ros’gen Schläfer nimmer nahn!
Und sanfte Laute, hörbar kaum,
Ein Vögelchen in halbem Traum.
Und wenn, des Spieles müde, leise
Der Knabe an mein Knie sich schmiegt,
Wenn still auf meiner Hand die heiße,
Wenn er mit unverdroßnem Quälen
Mein Lesen und mein Sinnen stört,
Bis seine Bitte, zu erzählen,
Dem kleinen Schmeichler ich erhört. –
Den märchenkund’gen Vater dann
In frohem, hoffendem Vertrauen
Die großen blauen Augen an!
Dann denk’ ich wohl: Er soll nicht weinen,
Und aus der Stirne streicht dem Kleinen
Die wirren Locken meine Hand.
Und kann er mir zur Seite schreiten
In Sonnenbrand und Sturmgebraus,
Ins Feld und in den Forst hinaus,
Dann will ich sorgen, daß er lerne
Der Vögel Ruf und ihre Art
Und wie das bunte Heer der Sterne
Nach ihrer Laub- und Nadeltracht
Und seine jungen Augen weiden
An unsrer Falter Farbenpracht,
Und jeden Busch im Waldrevier
Und ihre Namen soll er nennen
In wissensfrohem Stolze mir.
Wie sie mich einstmals aufgezogen
Und wie ich durstig eingesogen
Der düstren Tannenwälder Duft,
Wie ich in meinen Knabenjahren
Im Moos verfolgt des Wildes Spur,
Den vollen Zauber der Natur.
Wie sich zur treuen Mutter wendet
Ein Kind mit seinem kleinen Harm
Und wie sein bittres Weinen endet
So soll Vergessenheit er suchen
Im Leid und einen süßen Traum
Auf Bergeshöh’n, bei grünen Buchen
Und an des Meeres Dünensaum.
Der milden, gütigen Natur –
Wir haben, wenn der Menschen Treiben
Uns widert, diese Zuflucht nur.
Und leise weicht vor ihrem Lächeln
Die tiefste, herbste Bitterkeit.
Wenn er mit rechtem Ohr zu lauschen
Dem Zwitschern und Gezirp versteht,
Das durch die Föhrenwipfel geht,
Dann wird – und stürme alles Hassen
Der Erde feindlich auf ihn ein –
Er nimmer ganz und gar verlassen
Anmerkungen (Wikisource)
Ebenfalls abgedruckt in:
- Deutscher Jugendschatz, 1879 Nr.1 Titelblatt
- Edelsteine deutscher Dichtung. Sammlung bester lyrischer und lyrisch – epischer Gedichte", Bruno Geiser, 1880, Druck und Verlag der Genossenschaftsbuchdruckerei.