Aus den Papieren eines Asiaten (1)
Aus den Papieren eines Asiaten
Ich möchte den Baikal den Bodensee Asiens nennen; wegen seines klaren, durchsichtigen Wassers, seiner unergründlichen Tiefe, seiner malerischen Lage verdient er in der That diesen Namen. Spricht oder sprach der Amerikaner vom „fernen Westen“ als von etwas Geheimnißvollem, Unerschlossenem, so können die Europäer, wenn sie nach Nordasien hinüberblicken, mit noch besserem Recht vom „fernen Osten“ sprechen; denn er liegt noch in Märchennebel gehüllt – und dies sogar für seine nächsten Nachbarn, die Russen. Vom Russen wissen wir ja, daß er alles „Russische“, somit auch sein eigenes Land, mißachtet; er kennt weder das südliche, russische Asien, noch Sibirien, noch den Kaukasus, noch das herrliche Finnland; geht der Russe auf Reisen, so ist sein Ziel „Paris“. Engländer und Amerikaner besuchen zwar schon längst Finnland, um dessen hochromantische Natur zu bewundern; Speculanten dringen zwar bis zum Kaukasus vor, aber das übrige eigentliche reisende Publicum hält sich von Rußland fern, und Sibirien ist ja wohl noch bis heute der Inbegriff aller Schrecken in Deutschland. Um so mehr fühlt sich der Kenner dieser Gegenden gedrängt, von diesem fernen Osten zu erzählen; so läßt sich vielleicht manches Vorurtheil beseitigen und etwas für ein Land thun, das viel besser ist, als sein Ruf.
Circa 6000 Werst (1 Werst = 1,067 Kilometer) östlich von Petersburg liegt das heilige Meer der Burjaten, dessen heutiger Name das corrumpirte mongolische Bai-kal (reicher See) ist. Steigt schon ganz Ostsibirien terrassenförmig an, so thut sich endlich in der Höhe von über 496 Meter ein mächtiger Felsenkessel auf; wie ein greiser Herrscher erhebt der schneeige Chamár-Daván sein ragendes (1950 Meter hohes) Haupt, und ich kann dem alten Herrn es wahrlich nicht verdenken, daß er nun schon viele Jahrhunderte hindurch sich an dem unter ihm ausgebreiteten Panorama nicht satt sehen kann: es ist zu schön; den Felsenkessel füllt der Baikal (gebildet durch die Angará wie der Bodensee durch den Rhein), umgeben von fast steil abfallenden Felsen, die wiederum von schwarz-grünen Cederwäldern dicht bedeckt sind. Ich habe den Baikal im Sommer und im Winter, bei Sonnenlicht und Mondschein, bei Sturm und Nebel gesehen, und er war immer schön, hinreißend schön, imposant und doch unwiderstehlich anziehend. Ich begreife es, daß die anwohnenden Burjaten und Tungusen ihn das Dalai-Nor (heilige Meer) nennen; denn wie er, milde, reiche Gaben spendend, in seiner majestätischen Ruhe ein zürnender, strafender Gott ist, so begraben seine Wellen, wenn sie sich im Sturme schaumgekrönt thürmen, alles Nichtige, Irdische in ihren unermeßlichen Tiefen. Wenige giebt es der sichern Ankerplätze, die in solcher Zeit Schutz gewähren, so weit sich auch das mächtige Meer[1] (so nennen es auch die anwohnenden Russen) ausdehnt. Der Baikal hat eigentlich nur zwei Häfen, Listwenitschnaja und Possolsk, und in diese will ich auch den freundlichen Leser führen.
Hart am Ufer der Angará und des Baikal zieht die in Felsen gehauene Straße hin; den Hintergrund bilden die senkrechten cedergekrönten Felsen, deren malerisches Zickzack ihren vulkanischen Ursprung deutlich erkennen läßt. Hier liegt das Dorf Listwenitschnaja, und abgesehen vom Bau der Häuser glaubt man sich plötzlich in die Schweiz versetzt, wenn man, den letzten Abhang hinabfahrend, die weite Wassermasse der Bucht vor sich ausgebreitet sieht; die Abendglocke ruft zur Kirche, die sich wie schutzsuchend an die Schamanenfelsen (Zauberfelsen) schmiegt, als fürchte sie, daß die Wellen des Sees auch einst in diese stille Bucht ungestüm hineinstürzen und Alles mit sich zurück in den See entführen könnten. Die schmucken Häuser deuteten auf Reichthum; ein kleiner Mastenwald begrüßt uns freundlich. Der Wagen hält vor einem europäisch eingerichteten Gasthause mit einladenden Zimmern und Gesellschaftsräumen, und ein verhältnißmäßig reiches Büffet winkt uns zum Imbiß und weckt in uns um so angenehmere Gefühle, als die Gasthäuser in Sibirien, sogar in den großen Städten, schmutzige, [97] elende Kneipen sind. Die Ausnahmen an den beiden Ufern des Baikal machen es einem um so leichter, zu glauben, man sei plötzlich Asien entrückt. Bis zum Jahre 1879 vermittelte nur ein Dampfer, „Sinelninoff“, die Ueberfahrt über den Baikal; ich habe diesen würdigen Veteranen noch gesehen und benutzt; jetzt wird er wohl bald den wohlverdienten Platz im sibirischen Museum erhalten, und werden spätere Reisende beim Besuch desselben sich wundern, wie das Modell der Arche Noah nach Sibirien gekommen und wozu unser würdiger Vorahn den riesigen Schornstein, der eher einem Maste vergleichbar ist, auf sein von Gottes Hand geleitetes Fahrzeug gepflanzt hat.
Es wird Abend; wir treten auf die Veranda hinaus. Ich habe es stets den Malern auf die Rechnung geschrieben, wenn auf ihren Bildern der Abendhimmel östlicher Landschaften in mir damals unmöglich erscheinenden lila Tinten schwamm; in den Steppen Asiens, hier am Ufer des Baikal, habe ich den Meistern mein Unrecht im Herzen abgebeten. Es waren wunderbare Reflexe im Wasser, das, aus der Ferne azurblau erscheinend, in der Nähe von krystallener Durchsichtigkeit ist, als jetzt der Mond hinter den dunkelgrünen Waldkuppen hervortrat. Ich habe es empfunden, daß es überwältigende Natureindrücke giebt, empfunden im Herzen Asiens.
Hier blüht die Erdbeere roth; der feinste weiße und schwarze Sand deckt das Ufer, welches wilde lilafarbige, Lilien schmücken. Höchstens ist’s der grüne russische Douanesoldat, der den poetischen Zauber dieses Abends bricht, wenn er den Reisenden mit prüfendem Auge betrachtet oder sich mit einer geschäftsmäßigen Frage an denselben wendet. Doch sind das nur prosaische Minuten, die bald vergessen sind, während die Poesie solcher Stunden uns eine einzig holde Erinnerung bleibt. Solche Nächte müssen verträumt werden, und das that ich auch; die milde Nachtluft umfächelt uns; dünne Nebel entsteigen dem Meere und ballen sich zu wunderlichen Gebilden.
Als schon der Morgen graute, bestieg ich mit meiner plappernden Reisebegleitung das Schiff, und schnell wurde der Anker gelichtet. Bald lag die schöne Bucht hinter uns, und wir schwammen mitten auf dem schönen See, dessen Ufer uns bald im sonnigen Nebel entschwanden.
Höher und höher steigt die Sonne; man glaubt bis auf den Grund sehen zu können – so durchsichtig ist das Wasser, in welchem eine ungemein große Menge von Fischen sich tummelt, deren Hauptvertreter der „Omul“ (Salmo Omul), der sibirische Häring, ist. Für unseren Gaumen ist dieser gesalzene Omul kaum zu empfehlen; der echte Sibirier hält ihn dagegen für einen durch nichts zu ersetzenden Leckerbissen. Die höchste Freude, die man einem Sibirier, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, in der Fremde bereiten kann, ist die Bewirthung mit jener landesüblichen Delikatesse.
Bald sahen wir auf unserer Seefahrt das Ufer wieder auftauchen, aber nicht nach Possolsk, dem Klosterhafen, sondern nach Bojarsk führte uns der Dampfer; denn von
[98] hier aus geht jetzt die große Straße – eine lange Brücke führt in den See hinein, aber das Schiff kann bei Sturm hier nicht anlegen; ebenso wenig können die Passagiere in Boten an’s Ufer gebracht werden; die kurzen, steilen Wellen lassen es nicht zu, sodaß oft, dank diesen Kobolden, das Schiff, wenn kurz vor dem Landen der Sturm losbricht, mit seinen Passagieren zurückkehren muß durch Wetter und Graus nach Listwenitschnaja; denn dieser Hafen allein gewahrt vollkommen Schutz, und die Einfahrt in denselben ist bei jedem Wetter möglich.
Es ist also nicht so leicht über den Baikal nach Süden zu kommen. Hier ist das Panorama übrigens ebenfalls sehr schön, wie auch die Einrichtungen im Hotel gut sind. Ebbe und Fluth giebt es hier nicht. Schon Anfangs August stellen sich leichte Morgenfröste ein; Ende Oktober, in der Regel, gefrieren die Ufer; ist der Herbst still, so reicht das Eis oft schon Mitte November bis auf zwölf Werst in den See hinein, und nun steigen aus der offenen Mitte dichte Nebelmassen auf, die sich bis Irkutsk (sechszig Werst) hinziehen und die Stadt überziehen, der Nebel ist aber auch den Uferbewohnern das Warnzeichen, sich nicht zu weit auf das Eis hinauszuwagen.
Wird das Wetter stürmisch, steigt dabei die Kälte über fünfundzwanzig Grad, sodaß die aufgewühlten Wassermassen stark abgekühlt werden, und tritt darauf ruhiges Wetter bei strenger Kälte ein (über dreißig Grad), so deckt in einer einzigen Nacht eine dünne Decke die ganz Fläche, die sich den Anwohnern plötzlich wie ein Spiegel zeigt; denn mit den offenen Stellen ist auch der Nebel verschwunden. Nach zwei Wochen ziehen dann schon die Karawanen in endloser Reihe über diese neue Straße, auf der mit Fichten zierlich die einzelnen Wege abgesteckt werden.
Die schwerste Passage zwischen diesseits und jenseits des Sees tritt dann ein, wenn eine noch dünne Eisdecke sowohl die Fahrt zu Wasser wie die zu Eis unmöglich macht; sie ist aber noch lange nicht die uninteressanteste; es gilt alsdann, per Post um den Baikal herumzufahren. Da giebt es zwei Wege: der eine, bequemere führt längs dem Ufer, wenn das Wasser nicht hoch steht und keine Eisschollen diese Passage sperren; der andere muß eingeschlagen werden, wenn diese Hindernisse eintreten; er führt über die Berge des Ufers, oft über 310 Meter über dem Spiegel des Sees. Da geht’s bergauf, bergab, und man lernt die Kraft und Ausdauer der sibirischen Pferde hier bewundern; sie klettern Berge von 155 Meter, die fast steil sind, munter hinan, und die Passagiere brauchen nicht auszusteigen. Beim Hinunterfahren mußten wir aber auch unseren Schlitten verlassen; denn ein Fehltritt des Gabelpferdes, das Abreißen eines Hemmschuhs – und Schlitten und Pferde müssen kopfüber die Berge hinunterstürzen oder seitwärts die Tiefe der Abgründe, aus denen noch nie Jemand zurückgekommen ist, erproben.
Es ist daher begreiflich, daß die Passage über den Baikal möglichst lange benutzt wird, auch wenn schon milde Frühlingslüfte klaffende Spalten in das Eis gerissen haben; der Jämtschik (Fuhrmann) vertraut blind dem Instinct seiner Pferde, die es wohl wissen, ob sie eine Spalte überspringen können oder nicht. Er zügelt daher ihren rasenden Lauf nicht und bittet nur die Insassen des Schlittens dafür Sorge zu tragen, daß sie bei dem fürchterlichen Ruck, der dem Ueberspringen einer fadenweiten Spalte folgt, sich nicht den Kopf beschädigen. Ist der Spalt zu breit, so bleibt das Gespann wie angewurzelt plötzlich stehen; auch das giebt eine ganz respektable Erschütterung; nun steigt der Rosselenker ab und bindet die lange Holzstange und das Brecheisen, die er hinten am Schlitten stets angebunden führt, los, um zu erproben, ob noch Untereis da ist. Findet er dieses, so fährt er zu; findet er es nicht, so sieht er zu, ob der Spalt sehr lang ist, vielleicht durch den ganzen See, was einen Umweg von vielen Stunden verursachen würde; in solchem Falle wählt er ein einfaches kürzeres Mittel: er hackt mit seiner Brechstange das Eis, auf dem die Pferde und der Schlitten stehen, los und setzt auf dieser abgelösten Scholle über den Spalt, was ihm die bereits erwähnte, zum Abstoßen und Steuern bestimmte, lange hölzerne Stange möglich macht, sei der Spalt auch noch so breit. Die Pferde stehen ruhig und erleichtern somit die Passage ungemein. (Hierzu unsere Illustration auf Seite 97.)
Das Land, außer den Stadtgebieten, gehört in ganz Sibirien den einzelnen Stämmen; es existiren daher in ganz Sibirien keine Güter, weshalb das Land nur auf eine Reihe von Jahren gepachtet werden kann. Im Westen und Süden des Sees finden wir als Hauptbevölkerung die Burjaten, die im Ganzen ein intelligentes Volk sind. Sie flechten ihr dunkles Haar wie bei den Chinesen am Hinterkopf zu einem Zopf zusammen, aber diejenigen Burjaten, die als Grenzkosaken der russischen Krone dienen, müssen ihren geliebten Zopf abschneiden, was ihnen kein geringer Kummer ist. Sie sind übrigens mit der russischen Regierung ungemein zufrieden. Ist die Dienstperiode, die sich aber bis zu den spätesten Lebensjahren wiederholt, abgelaufen, so zieht der Burjate wieder seine Nationaltracht an, die weichen langen Stiefel (nach chinesischem Schnitt) und den langen hellblauen Rock mit Sammetaufschlägen. Den Kopf bedeckt er mit dem üblichen trichterförmigen Hütchen, dessen unterer breiter Rand in die Höhe geschlagen wird; die Spitze des Hütchens krönt eine rothe Troddel, deren Gestell bei Reicheren aus Silber gearbeitet ist. (Vergleiche Abbildung auf Seite 97.)
An der Ostseite des Baikal wohnen die Tungusen. Beide Stämme haben, trotz des mongolischen Typus, angenehme Gesichtsbildung; sie stehen unter Stammesältesten, welche wieder einem Fürsten unterstellt sind; dieser verhandelt für alle seine Tributzahler mit dem russischen Gouverneur. Im Collisionsfalle mit Russen sind alle aber den russischen Gerichten und der russischen Polizei unterstellt.
Cedern, Fichten, Pappeln, Lärchen, Birken sind die gewöhnlichen Baumarten. Die Flora ist ungemein reich und die Flüsse wimmeln von Fischen, unter denen sich namentlich auch der Stör findet. Der schwarze Sand, der hier vielfach gefunden wird, ist ungemein eisenhaltig (75 Procent), wie ja ganz Sibirien reich an Eisen, außerdem noch an Kupfer und Gold ist, und dennoch sind gerade die Ufer des Sees wild und öde, was aber wohl seinen Grund in den häufigen Erdbeben hat, die große Uferstrecken in den See stürzen; so ist bereits ein großes Dorf im See versunken, was gerade nicht zur Ansiedelung am Ufer lockt. Die Gegend südlich vom Baikal ist übrigens eine reiche Kornkammer Sibiriens.
Obschon bereits die Maisonne den letzten Schnee der Ebene vertilgt, beginnt die Schifffahrt auf dem Baikal doch erst im Juni, wo dann wieder die Theekarawanen die Ufer des Sees beleben. Es sei hier noch bemerkt, daß, wer reinen chinesischen Thee trinken will, diesen in Kiachta oder Nischni-Nowgorod auf dem Jahrmarkt kaufen muß; denn der zur See importirte wird schon in den chinesischen Hafenstädten, noch mehr aber nach seinem Eintreffen in Europa verfälscht.
- ↑ Der Baikal liegt in Meereshöhe von 408 Meter; seine Längenausdehnung beträgt 623,3 Kilometer, seine Breite zwiswchen 15 bis 82 Kilometer; seinen Umfang schätzt man auf 1974 Kilometer; der Flächeninhalt mißt 32,223 Quadratkilometer.