Zum Inhalt springen

ADB:Thümmel, Moritz August von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Thümmel, Moritz August von“ von Richard Rosenbaum in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 171–177, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Th%C3%BCmmel,_Moritz_August_von&oldid=- (Version vom 16. November 2024, 08:51 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Thumm, Theodor
Band 38 (1894), S. 171–177 (Quelle).
Moritz August von Thümmel bei Wikisource
Moritz August von Thümmel in der Wikipedia
Moritz August von Thümmel in Wikidata
GND-Nummer 118622358
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|38|171|177|Thümmel, Moritz August von|Richard Rosenbaum|ADB:Thümmel, Moritz August von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118622358}}    

Thümmel: Moritz August v. Th., ein begabter deutscher Dichter, dessen angeborene heitere Lebensauffassung, getragen von günstigen äußeren Verhältnissen, in seinen wenigen Werken wiederklingt. – Die Familie der v. Th. läßt sich bis ins 15. Jahrhundert als Besitzerin etlicher Güter in Leipzigs Nähe nachweisen. Moritz August v. Th. war der zweite Sohn unter neunzehn Kindern. Er wurde auf dem väterlichen Rittergute Schönefeld, dem letzten Reste des einstigen Familienbesitzes, am 27. Mai 1738 geboren. Sein Vater, Karl Heinrich v. Th., war königlich polnischer und kursächsischer Landkammerrath, die Mutter, Ludemile Charlotte Sabine, entstammte dem Geschlechte der v. Böhlau. Aber schon 1745 fiel das väterliche Stammschloß als ein Opfer des Krieges in preußische Hände, so daß sich Vater Thümmel mit einem geringen Vermögensreste nach Zwickau zurückziehen mußte. Hier erhielt der Knabe den ersten Unterricht durch einen Hauslehrer. Nach zweijährigem Besuche der Klosterschule zu [172] Roßleben (1754–1756) bezog er bei Ausbruch des siebenjährigen Krieges die Leipziger Universität. Wie so viele andere ward auch er seinem Berufsstudium, der Rechtswissenschaft, gar bald untreu und fühlte sich besonders wohl in dem Kreise junger Litteraten, die sich um Gellert scharten, unter denen er wieder vornehmlich zu Kleist, Rabener, Weiße und Bose in Freundschaftsbeziehungen trat. Gottsched, der als Prorector ihm das akademische Gelöbniß abnahm, scheint keinen Einfluß mehr auf ihn ausgeübt zu haben; desto freundschaftlicher gestaltete sich sein Verhältniß zu Gellert, der seinem talentvollen Schüler zeitlebens in gleich herzgewinnender Weise gegenüberstand. Die Sorge um einen Erwerb ließ Th. einen Augenblick daran denken, nach Beendigung seiner Studien sardinische Kriegsdienste zu nehmen. Gerne gab er den Plan auf, als seine Berufung zum Kammerjunker an den Hof des Erbprinzen, nachmaligen Herzogs Ernst Friedrich von Sachsen-Coburg, erfolgte (1761). Hier fand er seinen Jugendfreund Bose wieder, seit 1760 dort als Regierungsrath angestellt. Trotz seines geradezu demokratischen Sinnes und der ungeheuchelten Abneigung gegen jedes höfische Etiquettenwesen lebte sich Th. ziemlich rasch in dem neuen Wirkungskreis ein und half sich nach außen hin mit Humor, innerlich mit ironischer Verleugnung seiner Denkart über die Klippen des formelhaften Hofdienstes hinweg. Seine scharfe Beobachtungsgabe ging dabei auch nicht leer aus. Ihn befriedigte vor allem das Bewußtsein einer dauernden Stellung, in der es ihm möglich ward, seiner Familie materiell beizustehen, was er in anerkennenswerther Weise zeitlebens that. Wie ernst es ihm bei alledem um seine Pflichten gegen den fürstlichen Herrn war, geht zur genüge aus dem besonderen Vertrauen hervor, das man ihm bei häufiger Verwendung in diplomatischen Sendungen schenkte. Sein Interesse am Verwaltungswesen bekundete sich vollends durch die Gründung eines industriellen Unternehmens auf dem herzoglichen Kammergute Oeslau, einer Steinschneidemühle, die nach sechsjährigem Bestande in seinen Besitz überging (1771). Die Fabrik ward für die Bevölkerung eine Quelle des Erwerbes und zufolge der schönen Lage ein Lieblingsaufenthalt des alternden Dichters, den er sich im J. 1805 an den früheren Besitzer abzutreten genöthigt sah. Herzog Ernst Friedrich belohnte die treuen Dienste seines Kammerjunkers nach Uebernahme der Regierung durch dessen Ernennung zum geheimen Hofrath und Hofmeister, womit eine bedeutende Gehaltszulage verbunden war. Im J. 1768 machte er ihn zum wirklichen geheimen Rath und Minister. Aus dieser Stellung schied Th. im J. 1783 eines Mißverständnisses wegen auf eigenes Ansuchen aus und lebte von da an mit seiner ihm am 18. October 1779 angetrauten Gattin abwechselnd in Gotha oder auf seinem Gute Sonneborn. Seine Gemahlin war die Wittwe seines jüngeren Bruders Friedrich Christian (1745 bis 1778). In erster Ehe war sie, eine geborene Friederike v. Wangenheim, mit dem Oberkammerherrn v. Wangenheim verheirathet, der ihr seine beträchtlichen Güter im Gothaischen und in Surinam vererbt hatte, die aus der Hinterlassenschaft seiner ersten Frau auf ihn gekommen waren. Schon im J. 1776 hatte Thümmel’s Vermögen auf seltene Weise einen ansehnlichen Zuwachs erfahren. Th. wurde zum Universalerben des 24 000 Thaler betragenden Vermögens eines alten Leipziger Rechtsgelehrten eingesetzt. Balz, so hieß der Mann, hatte den Studenten Th. wegen seiner Pünktlichkeit beim Begleiche von Schulden – wol als seltene Ausnahme unter seinen akademischen Genossen – derart ins Herz geschlossen, daß er ihm so hochherzig vergalt. Immerhin ein deutlicher Beweis für die einnehmenden Eigenschaften des Dichters, dessen klare, schalkhaft blickende Augen zu den heiteren Gesichtszügen vortrefflich passen und gleicher Weise wie die behagliche Fülle des Leibes zufriedene Gemüthlichkeit in einem beschränkten Wirkungskreis andeuten. Diese irdische Glückseligkeit eignete dem [173] Dichter ungetrübt bis zum Tode seiner Gattin (1799), die ihm zwei Söhne und eine Tochter geboren hatte. Den Rest seiner Jahre verlebte er in gleicher Abgeschiedenheit, unterbrochen durch kleine Reisen (1807 in Berlin), theils auf seinem Gute Sonneborn, theils in Gotha. Hoffeste führten ihn in seinem letzten Lebensjahre nach Coburg, wo er am 26. October 1817 sein Leben still und zufrieden beschloß. Seinem Wunsche, in freier Natur beerdigt zu werden, willfahrten seine Angehörigen. Sein Leichnam ruht in einem reizenden Plätzchen Erde bei Neuses, einem Dorfe in der Nähe Coburgs.

Th. begann seine litterarische Laufbahn mit einer Recension der Schrift Moser’s: Der Herr und der Diener in der Bibliothek der schönen Wissenschaften, eingeführt durch Weiße. Moser nimmt in dem Schriftchen Stellung gegen Nepotismus und Junkerthum an den deutschen Höfen jener Zeit und findet bei seinem Kritiker Beifall für die Form und vollste Zustimmung für die Sache. Ja man darf annehmen, daß die Gedanken Moser’s es waren, die für den jungen Höfling in der ersten Zeit seines Dienstes katechetische Bedeutung gewannen. Von diesem Standpunkt aus beurtheilt er sich und seine Umgebung. Das zeigen seine Briefe an Weiße deutlich. Und als er im Spätherbst des Jahres 1762 seinen Freund Bose durch ein Beispiel davon überzeugen wollte, daß die deutsche Sprache wie die französische für poetische Prosa verwendbar sei, griff er ungescheut nach dem überkommenen Grundgedanken Moser’s und paßte ihn, mit eigenen Beobachtungen verquickt, der gegebenen Form an. So entstand das heroisch-komische Gedicht in Prosa: „Wilhelmine“, das in der ersten Fassung im Titel den Beisatz hat: oder der vermählte Pedant. Den Druck besorgte Weiße 1764. Der gewiß nicht seltene Vorgang, daß eine bescheidene Dorfschöne nach längerer Dienstleistung am Hofe sich an ihren hohen Protector mit der Bitte um Versorgung wendet und in ihrer peinlichen Lage sich ihres einstmals verschmähten Liebhabers erinnert, der Einfalt genug besitzt, sich, den in den Netzen erlernter Koketterie Gefangenen, für den Eroberer zu halten, bot den Rahmen für die reizende Dichtung. Die Rolle des naiven Liebhabers ist dem Pastor Sebaldus zugetheilt. Luther, der ihm im Traum erscheint, regt die im Ersterben begriffene Sehnsucht des guten Pedanten nach seiner Angebeteten in schulmeisterlicher Rede an. Die ruhig fortschreitende Handlung läßt Raum für satirische Meisterzüge, die ohne strafende Bitterkeit das Halbdunkel von gutmüthiger Beschränktheit und Frivolität zu einem fesselnden Sittengemälde aufhellen. Auf der gelungenen Darstellung beruht der Werth des Ganzen. Sie verhalf dem Namen des Dichters zu dauernder Anerkennung. Dem einmüthigen Antreiben der Freunde brachte Th. die Figur Luther’s zum Opfer und legte deren charakteristische Worte in der Neubearbeitung für die zweite Auflage dem farblosen Amor in den Mund. Dem Dichter selbst blieb der dadurch entstandene Widerspruch nicht verborgen; er bereute seine Nachgiebigkeit noch in späten Jahren. Doch es versöhnte ihn die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, die man seinem Erstlingswerk in Deutschland und bald nachher in ganz Europa entgegenbrachte, auch mit dieser Fassung, die allen späteren Drucken bis auf die neueste Zeit zu grunde liegt. Nicolai machte sich die Volksthümlichkeit der Wilhelmine zu nutze. Er schloß den Roman von Sebaldus Nothanker an die Handlung der Thümmel’schen Dichtung an. Für die Geschichte der deutschen Litteratur im 18. Jahrhundert ist das Gedicht von symptomatischer Bedeutung. Es trägt den Stempel eines kecken Wurfes an sich, mit dem ein jugendlicher Verfasser im Beginne seiner Laufbahn die neue Richtung seines Strebens zu eröffnen sucht, aber noch zu tief im Althergebrachten wurzelnd auf halbem Wege stecken bleibt. Sein ringendes Trachten schreckt die Nachahmer nicht ab. Sie verflachen die Kunstgriffe der zufahrenden Hand zur Manier. Und so ging’s [174] der Wilhelmine gewissermaßen wie dem Götz. Aber Th. blieb doch nur der Pfadsucher. Der Pfadfinder wurde Wieland, dessen Comische Erzählungen (1765) erst die neue Richtung der zeitgenössischen Epik deutlich inaugurirten.

Wieland’s freiere Weise ermuthigte Th. sein nächstes Gedicht „Die Inoculation der Liebe“ (1771) von dem discreten Tone der Wilhelmine zu befreien. Der etwas plumpe Scherz, einem Mädchen von einem Ritter statt der Blattern die Liebe „einimpfen“ zu lassen, ist durch gewandte und beredte Darstellung zu einer zierlichen Erzählung gediehen. Der geringe Bodensatz von Frivolität vermengt sich darin mit dem Schaume feiner Tücke in den satirischen Anspielungen zu einem prickelnden Trunke labenden Humors. Die Pointe des Werkes knüpft an einen Gedanken Simon Favart’s an und weist auf den Verkehr des launigen Dichters in dem Hause der verwittweten Kriegsräthin v. Würzburg hin. Unter den ständigen Mitgliedern der Gesellschaft, die sich dort versammelte, nennt, oder besser gesagt, verschweigt Thümmel’s Biograph eine Karoline v. K****, die auf unseren Dichter den meisten Eindruck gemacht habe. Der Name der Heldin in der Inoculation der Liebe, die gleichfalls Karoline heißt, dürfte wenigstens eine dankbare Reminiscenz an das freundschaftliche Verhältniß zu jener andeuten, wovon in den Briefen an Weiße offen Bekenntniß abgelegt ist. Diesem Leipziger Freunde ist die komische Erzählung zugeeignet. Der Erfolg der Dichtung war ein ungetheilt guter. Wieland, der berufenste Beurtheiler auf diesem Gebiete, rühmt die Eleganz, die Leichtigkeit und den guten Ton des Ganzen. Im gleichen Jahre (1771) brachte der zweite Theil der Anthologie der Deutschen Sinngedichte Thümmel’s, die zuvor schon im Göttinger Musenalmanach waren gedruckt worden. Sie tragen ganz das Gepräge ihrer Zeit und können ebenso wie die wenigen lyrischen Erzeugnisse des Dichters zu den gewöhnlichen Gelegenheitsdichtungen gereiht werden. Satire in jenen, kecker Humor in diesen verrathen den Dichter der Wilhelmine und Inoculation.

Es bleibt auffällig, daß Th. zwei Jahrzehnte hindurch dem regen Getriebe unserer Litteratur nur von ferne zusah. Eine Reise nach Wien, die er im Auftrage seines Hofes (1771) unternahm, bot ihm allerdings nicht Gelegenheit, mit den dortigen wahlverwandten Litteraten in die erwünschte Berührung zu kommen. Und schon im folgenden Jahre trat er in Begleitung seines Bruders und seiner späteren Gattin eine Reise nach Holland und Paris an. Er gab darüber ausführlichen Bericht in Briefen an den damaligen Erbprinzen Franz und seinen Freund Weiße. Zwei Jahre später (1775) besuchte er Holland neuerdings und hatte sogar die Absicht von da nach England zu reisen, wandte sich aber mit der gleichen Gesellschaft nach Frankreich, durchstreifte Burgund, drang bis Lyon vor und bereiste die am Rhone gelegenen Gegenden. Namentlich Avignon, Vaucluse und Montpellier fesselten ihn länger als die übrigen zahlreichen Ortschaften Südfrankreichs, das ihn bis zum Frühjahr 1777 beherbergte. Auf dem Rückwege von Paris nach Straßburg übersetzte er Marmontel’s Oper „Zemire und Azor“; die Kritik stellte seine Uebertragung hoch über die beiden bereits vorhandenen. Der Druck geschah ohne sein Wissen (1776). Kleinere Reisen in Deutschland, die ins Jahr 1778 fallen, seine Verheirathung, der Rücktritt vom Staatsdienst und die vergebliche Bemühung, wiederum eine politische Stellung zu erlangen, nahmen neben der Bewirthschaftung seiner Güter die Folgezeit in Anspruch, bis er sich endlich entschloß, dem Drängen der Freunde nachzugehen und die Erfahrungen seiner französischen Reise öffentlich vorzulegen. Die gangbare Form der Beschreibung sagte ihm jedoch nicht zu. Es gährte vielmehr lange in ihm, bevor sein Geist die gesammelten Erlebnisse in so origineller Weise offenbarte, wie sie in den zehn Bänden seiner „Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich“ zur größten Ueberraschung der Mitwelt [175] in den Jahren 1791 bis 1805 im Druck erschienen. Theils in Briefform, theils als Tagebuchskizzen verbrämt der „joviale“ Reisende, wie man den Dichter am treffendsten zu bezeichnen beliebt, die Aufzeichnungen wirklicher Erlebnisse während seines Aufenthaltes in der Provence mit zwanglosen Randglossen über Land und Leute, ihre Cultur und Barbarei. Romantische Situationen wechseln mit gelehrten Auseinandersetzungen ab. Ein breiter Spielraum ist dem unlauteren Getriebe des Mönchthums und dessen energischer Zurückweisung vergönnt. Mit diesem Punkte hängt das innig zusammen, was man der Dichtung nicht ganz mit Unrecht vorzuwerfen pflegt, das verführerische Ausmalen lasciver Situationen. Briefe an Weiße sowie an Garve deuten an, es sei Thümmel’s Absicht gewesen, durch derartige Beispiele das Laster zu bannen. Wer aber das Unsittliche in so verführerisch reizender Weise spiegelt, ohne auch nur mit einer Silbe es als Böses zu brandmarken, darf sich nicht wundern, wenn eine gelegentliche Abweisung des Ausschweifenden, die z. B. unser Dichter im letzten Theile der Reise als reuige Sühne in wenig ernsthafte Worte kleidet, eher als Bestärkung denn als Entkräftung seiner anfangs entwickelten Lebensanschauung aufgefaßt wird. Es geschähe jedoch Th. Unrecht, wenn unsere Worte als Verurtheilung eines moralischen Ketzers aufgefaßt würden. Nein, neckisch spielend treiben die Liebesscenen im Roman ihrer Spitze zu und da, wo es anscheinend keinen Ausweg gibt, springt des Dichters lebhafte Phantasie und des Sprachmeisters gewandte Kunst aus der zierlichsten Prosa der geschilderten Situation in ungezwungene Verse Voltaire’schen Gepräges um, die dem gespannten Leser durch einen billigen Scherz das Erröthen vor dem Autor ersparen. Erlebtes und Erträumtes, Wahres und Erdichtetes vermengt sich in Beschreibung und Charakteristik von Personen und Vorgängen. Werthvolle Documente echt dichterischer Begeisterung reihen sich an Bekenntnisse ernsten, zielbewußten Schaffens. So ist namentlich die Strophenreihe in der Mitte des vierten Bandes (Werke 1811, III, 399 ff.) ein klares Bekenntniß von des Dichters Fähigkeit, „eine offenherzige Beichte über seinen Beruf zur Dichtkunst“. Er steht weit über dem Durchschnittsmaße seiner Zeitgenossen, wenn er von sich gestehen darf, er habe sich nie anders als auf einem natürlichen Wege in das Paradies der Dichtkunst verstiegen, und man kann es dem sonst überbescheidenen Menschen Th. nicht übel deuten, wenn er, darauf gestützt, sich zu den inspirirtesten Dichtern zählt und ihn seine poetische Laufbahn und die Gunstbezeugungen der Musen mit Zufriedenheit erfüllen.

Mit wie großer Begeisterung auch das zeitgenössische Publikum jeden erschienenen Band der Dichtung aufnahm, mit seinem Lobe der Kritik vorgriff, so bemerkenswerth ist auch die Thatsache, daß gerade dieses bedeutendste Werk Thümmel’s heute nahezu vergessen ist, während die Wilhelmine auch noch in Kreisen Anklang findet, die nicht nur ein litterarhistorisches Interesse daran befriedigen wollen. Die Muße der letzten Jahre benützte Th. zur Herausgabe seiner Werke, die in sechs Bänden in Leipzig bei Göschen erschienen (1811 bis 1812).

Auf dem Wege der Inoculation liegt Thümmel’s posthumes Gedicht „Der heilige Kilian und das Liebespaar“, das F. F. Hempel in schöner Ausstattung nebst einem Anhang ungedruckter Jugenddichtungen im J. 1818 herausgab. Hier wie dort ein scherzhafter Gedanke zu einer delicaten Situation ausgesponnen, für deren Harmlosigkeit der Herausgeber im voraus mit der Kritik anbindet, ohne den erwünschten Erfolg zu erzielen. In diesem Falle läßt sich für den Dichter bloß das eine als Entschuldigung anführen, daß er das Gedicht an seinen Bruder Hans Wilhelm nur handschriftlich zu dessen Geburtsfest übersandte (1810), da er in berechtigter Scheu den Druck nicht wagte. Das konnte [176] sich der 72jährige denn doch nicht verstatten, wenn auch sein Biograph schonungsvoll eines innigen Verhältnisses des 69jährigen zu seiner verwittweten Nichte Cecilia v. Werthern, einer geborenen v. Ziegesar, gedenken muß, wovon werthvolle Documente in Briefen und lyrischen Gedichten auf uns gekommen sind. Die seltene Erscheinung eines so jugendfrischen Greises stellt der litterar-historischen Forschung noch die Aufgabe, von der Ueberschätzung der Wilhelmine zu einer gerechten Würdigung der Reise überzugehen.

Der erwähnte Bruder Thümmel’s, Hans Wilhelm, stand dem Dichter von allen Geschwistern zeitlebens am nächsten. Beide genossen die gleiche Erziehung, beide standen in Hofdiensten und beide erreichten ein hohes Alter. Hans Wilhelm v. Th. lebte von 1744–1824. Er kam als Page an den Hof von Gotha (1760), wurde 1765 Kammerjunker, 1772 Assessor beim Kammercollegium daselbst, 1783 nach Einsiedel’s Rücktritt Vicepräsident des Directoriums der Altenburger Kammer. In den Jahren 1768–69 bereiste er mit einem englischen Adeligen Deutschland, die Schweiz und Italien und wurde demzufolge zum Reisebegleiter des Prinzen August nach Italien erkoren (1773). In Rom erfreute er sich des intimen Verkehrs mit Meister Rafael Mengs und widmete seine Aufmerksamkeit vornehmlich den architektonischen Reizen des Landes. Seit 1804 war er Minister und wirklicher geheimer Rath des Herzogs August. – In den Annalen der Gothaer Geschichte füllt seine segensreiche Thätigkeit eines der ruhmvollsten Blätter. Er durchkreuzte das Land mit Straßen, nahm neue Landesvermessungen vor und ließ auf Grund eingehender Terrainaufnahmen eine wichtige militärische Karte des Herzogthums anfertigen. Auf ihn geht die Gründung der Gothaer Landesbank zurück, die er als Kammerleihbank ins Leben rief. Der in jenen Zeiten seltene Tropfen demokratischen Oeles, mit dem er gleich seinem Bruder Moritz August gesalbt war, führte ihn darauf, den Herzog zu bewegen, daß er die sogenannten ungemessenen Frohnen der Bauern aufhob und neue Steuerbücher anlegen ließ. Sein verdienstlichstes Werk jedoch ist die Durchführung der Armenversorgung, an der er trotz des Widerstandes vieler seiner Amtsgenossen mit rühmenswerther Zähigkeit durch Jahre hindurch festhielt, bis ihm die Lösung der schwierigen Frage gelang. Nicht minder glücklich war er in der Erfüllung diplomatischer Missionen, die ihn mit hohen und höchsten Persönlichkeiten zusammenführten, ohne daß Erfolg und Herrengunst seine streng bürgerliche Gesinnung ins Wanken zu bringen vermocht hätten.

Außer einigen historisch-statistischen Schriften veröffentlichte er in den „Aphorismen aus den Erfahrungen eines Sieben- und Siebzigjährigen“ (Altenburg 1818) eine Reihe scharfer Beobachtungen seines bewegten Lebens, die klar im Inhalt und schlicht in der Form das sprechendste Zeugniß seines edlen Charakters sind. Selbstbewußt, aber ohne Ueberhebung deckt er in den wenigen Sprüchen die allgemein menschlichen Schwächen auf und besitzt Freimuth genug, die Großen dieser Welt in jeder Beziehung an erster Stelle zu lehrmeistern. Die erste Sammlung, bloß in hundert Exemplaren gedruckt, erfuhr eine kurze Fortsetzung (Nöbdenitz 1820). Beide Drucke liegen der vermehrten Sammlung von 1821 zu Grunde, die D. Jonathan Schuderoff in Ronneburg besorgte. Eine größere Anzahl sinnvoller Lehrsprüche bieten die „Nachgelassenen Aphorismen“ (Frankfurt a. M. 1827), denen eine kurze Biographie des Verfassers vorangeht. Beigedruckt ist aus dem Nachlasse des Ministers das herzlich unbedeutende „Elysium und Tartarus. Eine Fantasmagorie, eine Vision aus dem Jahre 1812“, das einer Wette des Verfassers mit Herzog August seine Entstehung verdankt. Th. wollte beweisen, daß ein Protestant auch fähig sei, eine bilderreiche Legende zu schreiben. Das ist durch die angeführte Skizze völlig mißlungen, dafür findet sich darin manches interessante Urtheil des Staatsmannes [177] über wichtige politische Persönlichkeiten der damals hochbewegten Zeit. – von 1808 bis zur Auflösung des Rheinbundes besorgte Th. die Redaction des Gothaischen Hofkalenders.

Leben M. A. von Thümmel’s von J. E. von Gruner, Leipzig 1819. – Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken. Neue Reihe. Band 1, Heft 4, S. 129 ff. – Briefwechsel Garves mit Weiße II, 168 f., 279 f., besonders 291 ff. – Schillers Briefe von Fritz Jonas III, 136. – Schillers Werke X, 478 f. – Schriften der Goethegesellschaft, VIII, Nr. 736, dazu Anmerkung S. 199 f. – Nicolai, Reisebeschreibung I, 88. – A. W. von Schlegels Kritische Schriften I, 309. – Jean Paul, Vorschule der Aesthetik, § 78. – Die sonstige Litteratur bei Goedeke. – Döring’s Biographie ist nur ein Auszug aus Gruner.
Zu Hans Wilhelm v. Thümmel: Meusel V (1827). – Eine kurze Biographie geht den Nachgelassenen Aphorismen (1827) voran. – Goethes Werke, IV. Abthlg. XII, 103 ist ein interessantes Concept eines Briefes zum ersten Mal abgedruckt.

August Wilhelm v. Th., der Sohn Friedrich Christian’s, Stiefsohn des Dichters Moritz August, ist geboren in Sonneborn bei Gotha im J. 1774, wurde Oberst der kgl. sächsischen Cürassiergarde und starb im J. 1814 an seinen bei Courtenay erhaltenen Wunden. Er blieb unvermählt. Sein zweibändiger Roman „Ferdinand“ erschien zuerst 1803. Der Held, ein Tugendbold, wird von einer Leidensstation zur anderen geschoben. So oft auch eine Potiphar seinen gewundenen Lebenspfad kreuzt, vermag sie nichts über den greisen Jüngling, der im Schneckenhause posthumer Wertherstimmungen glücklich so weit geführt wird, daß der Autor ihn für würdig erachtet, ihm das Räthsel der Abkunft zu lösen und ihn mit einem Engel von Braut zu beschenken. Die stilistische Führung fordert den Tadel oft noch mehr heraus als die Charakteristik. Die grammatischen Fehler wurden in der Neuauflage (1808) meist verbessert. Verräth dieses Erstlingswerk auch nicht einen Hauch väterlicher Genialität, so bricht sich in dem dreiactigen Lustspiele „Die kleinstädtischen Freier“ (Coburg und Leipzig 1807) das Bestreben Bahn, das Vorbild Kotzebue in der Komik der Charaktere und Situationen wie in der Plattheit der Ausdrucksweise zu erreichen. Durch nationale Gesinnung unterscheidet sich Th. vortheilhaft von seinem Muster. Die „Dramatischen Scenen zum geselligen Vergnügen“ (ebd. 1804) dürften auf derselben Linie wie das genannte Lustspiel liegen. Sie waren mir unerreichbar.

Goedeke, Grundr. V, 394. – Die biographischen Daten verdanke ich gütiger Mittheilung der Mitglieder der Familie v. Thümmel in Gotha und Dresden.