Politik (Aristoteles)

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Politik, Buch 2,1262b (OCT-Zeilen 8 πόλεσιν – 25 γινόμενα τέκνα) in der von Theodoros Gazes geschriebenen Handschrift Udine, Biblioteca Arcivescovile, 258, fol. 24r (Mitte des 15. Jahrhunderts)

Die Politik (altgriechisch Πολιτικά Politiká „die politischen Dinge“[1]) ist die wichtigste staatsphilosophische Schrift des Aristoteles. Das in acht Bücher aufgeteilte Werk behandelt hauptsächlich verschiedene real existierende und abstrakte Verfassungen.

In diesem Werk stellt Aristoteles vier Thesen auf, die „jahrhundertelang widerspruchslos anerkannt“[2] wurden. Sie lauten:

  1. der Mensch ist ein Zoon politikon – ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen
  2. die Polis ist die vollkommene Gemeinschaft
  3. die Polis ist natürlich
  4. die Polis „ist von Natur aus früher als das Haus und die Individuen.“[3][4]

Inhaltsübersicht

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Buch Inhalt[5] (Hinweis)
I Staatsentstehung, Anthropologie (Grundlagen des politischen Aristotelismus), Ökonomie.
II Kritik bekannter Verfassungen, insbesondere der Politeia Platons.
III Politische Grundbegriffe: Bürger, Verfassung; (6–8) sogenannte erste Staatsformenlehre, (14–17) Monarchie.
IV Verfassungen: (4, 6) Demokratie (inkl. Typologie der Demokratie), (5, 7–6) Oligarchie, (7) Aristokratie, (8–9, 11–12) Politie, (10) Tyrannis.
V Verfassungswandel und -erhalt; (10–12) Tyrannis.
VI Verfassungen: (4–5) Demokratie, (6–8): Oligarchie.
VII–VIII Der beste Staat und die Erziehung seiner Bürger.
(Hinweis) 
Die Zahlen beziehen sich auf die Kapiteleinteilung

Der Mensch als zoon politikon

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Aristoteles bezeichnet darin den Menschen als zoon politikon (ζῷον πολιτικόν, „gesellschaftliches Wesen“, in Politika I, 2 und III, 6). Dieser Begriff ist zu einem Grundbegriff der abendländischen Anthropologie geworden. Die Grundbestimmung des Menschen ist das Zusammenleben mit anderen. Nur so verwirklicht er seine Natur, die ihn im Gegensatz zu den Tieren mit Sprache und Vernunft ausgestattet hat und damit mit der Möglichkeit, sich Vorstellungen von Recht und Unrecht zu machen und mit anderen auszutauschen. Wer von Natur, also nicht aufgrund von Verbannung oder Schicksal, außerhalb des Staats lebt, der ist, so Aristoteles, „entweder ein Tier oder aber ein Gott“,.

Der teleologische Naturbegriff

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Aristoteles glaubt wie Platon, dass Ordnung nicht durch Zufall entsteht. Ebenso entsteht sie nicht durch eine göttliche Intelligenz. Die Natur ist nach einem in sich stimmigen Plan aufgebaut, der sich dann erfüllt, wenn jedes Ding den in ihm enthaltenen Zweck verwirklicht und so sein Wesen vollbringt und seine Funktion im Ganzen erfüllt.

Definition des Staates

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Der Staat ist für Aristoteles der Zusammenschluss kleinerer Gemeinschaften zu einer großen, die das Ziel der Glückseligkeit erfüllt. Entstanden aus der logischen Folge wachsender Gemeinschaften (Familie und Herr+Sklave – Hausgemeinschaft – Dorf – Polis), besteht der Staat als natürliche Einheit zur Ermöglichung eines vollkommenen Lebens. Nur in der Polis ist die vollendete Selbstgenügsamkeit (Autarkie) möglich.

Von Natur aus existiert nach Aristoteles Herrschendes und Beherrschtes. Herrschend sei derjenige, der vorausschauen kann. Freie Männer sollen die Staatsangelegenheiten je nach Regierungsform bestimmen. Freie Frauen und Kinder werden von Sklaven unterschieden.

Staatsformenlehre

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Erste Staatsformenlehre

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Staatsformenschema nach Aristoteles[6] (Pol. III, 6–8)
Anzahl der
Herrschenden
Gemeinwohl Eigennutz
Einer Monarchie Tyrannis
Wenige Aristokratie Oligarchie
Viele Politie Demokratie

In der Politik wird zum ersten Mal eine systematische Analyse von Staatsformen unternommen. In der sogenannten ersten Staatsformenlehre (Pol. III 6 ff.) werden insgesamt sechs Grundtypen von Regierungen gezählt.[7] Diese gruppieren sich zu jeweils Dreien: einmal als „richtige“ Staatsformen und einmal als deren drei „verfehlte“ Abweichungen.

Die drei „guten“ Verfassungen, die alle auf das Wohl der Allgemeinheit bzw. des Staates ausgerichtet sind (Monarchie, Aristokratie[8] und Politie), werden den drei „entarteten“ Verfassungen gegenübergestellt, die nur dem Wohl der Herrschenden, ihrem Eigennutz, dienen (Tyrannis, Oligarchie und Demokratie). Die Demokratie gilt ihm dabei als Herrschaft der vielen Freien und Armen im Staate, die zu Lasten der Tüchtigen und zum Schaden der Wohlhabenden erfolgt. Auch ist es für Aristoteles nicht zulässig, dass die Armen mächtiger als die Reichen sind. Da sie zahlreicher sind und in der Demokratie die Mehrheit maßgeblich ist, bewirke die Demokratie eine Dominanz der Armen.

Dies warf er gerade der extremen Form der Demokratie vor, die nicht dem Wohl der Allgemeinheit dient. Die drei schlechten Staatsformen verfehlten damit alle den Zweck, das „vollkommene Leben“ in der Polis-Gemeinschaft zu ermöglichen.

Zweite Staatsformenlehre

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Der Demokratie widmet Aristoteles im IV. Buch der Politik besonderes Augenmerk. Die sogenannte zweite Staatsformenlehre des 4. Kapitels untersucht die verschiedenen Formen demokratischer Verfassungen auf empirischer Basis und kommt schließlich zu einem deutlich milderen Urteil diese Regierungsform betreffend, was allerdings nicht für ihre extreme Form gilt (vgl. Pol. IV und VI). Bezüglich der Unterarten der Volksherrschaft nennt er an einer Stelle fünf (IV. Buch), an anderer Stelle vier (VI. Buch). Erweitert man die Angaben der ersten Stelle mit denen der letzteren, ergibt sich folgendes Bild:

Formen der Demokratie nach Aristoteles (Pol. IV 4; VI 4)[9]
Typ: an der Regierung haben teil: ohne Rechte sind: Regierungsweise:
I
Politie
Arm und Reich zu gleichen Teilen Besitzlose, Fremde, Nichtbürger, Unfreie gesetzlich
II die Reichen und alle
Besitzenden (Zensus)
Besitzlose, Fremde, Nichtbürger, Unfreie gesetzlich
III alle einheimischer Herkunft Fremde, Nichtbürger, Unfreie gesetzlich
IV alle Bürger Nichtbürger, Unfreie gesetzlich
V
extreme
Demokratie
alle freien Einwohner Unfreie (Sklaven) ungesetzlich,
willkürlich
  • Die erste Form beschreibt eigentlich die Politie, so wie sie Aristoteles definiert. In ihr haben die Armen und Reichen im jeweils gleichen Maße an der Regierung anteil, keiner hat Vorrang und es gilt, „dass kein Teil über den anderen regiert, sondern beide vollkommen ebenbürtig sind.“[10]
  • Die zweite Form beruht nicht mehr auf der paritätischen Gleichheit der Armen und der Reichen (als wesentlichen Teilen der Stadt) bei der Regierung, sondern geht vom Besitz des Einzelnen aus. Aufgrund des niedrigen Zensus ist jedoch die überwiegende Mehrheit an den politischen Rechten beteiligt. Allerdings werden die Ämter (in oligarchischer Manier) nur an die Wohlhabenden vergeben, während alle (mehr oder weniger) Besitzenden wählen und die Amtsträger kontrollieren dürfen.[11]
  • In der dritten Form der Demokratie darf jeder an der Regierung teilhaben, der einwandfreier Abstammung, also Einheimischer, ist, ungeachtet seiner materiellen Umstände.
  • In der vierten Form der Demokratie zählt nur noch der bloße Bürgerstatus. Neben Reichen und Besitzenden können auch Arme, Besitzlose und Ausländer mit Bürgerrecht an der Regierung teilnehmen.
  • Die extremste Form der Volksherrschaft, die fünfte, beteiligt alle an der Regierung, die keine Sklaven sind. Aristoteles kritisiert damit wohl indirekt die Athener Demokratie in ihrer radikalen Phase, jedoch erscheint diese Beurteilung klar überzogen.[12]

Während in den ersten vier Formen der Demokratie mittels Gesetzen regiert wird, ist dies bei der fünften Form nicht der Fall. Dazu Aristoteles weiter: „Wo die Gesetze nicht entscheiden, da gibt es die Volksführer (griech. Demagogen). Denn da ist das Volk Alleinherrscher, wenn auch ein aus vielen Einzelnen zusammengesetzter. […] Ein solches alleinherrschendes Volk sucht zu herrschen, weil es nicht von den Gesetzen beherrscht wird, und wird despotisch, wo denn die Schmeichler in Ehren stehen, und so entspricht denn diese Demokratie unter den Alleinherrschaften der Tyrannis.“[13]

Die beste Staatsform ist für Aristoteles letztendlich die Politie, wobei die Identität dieser Staatsform (beschrieben in Pol. IV 8–9 ff.) mit der gemäßigten Demokratie (siehe oben, Typ I) unklar bleibt. Die Politie ist eigentlich eine gemischte Verfassung und setzt sich aus Elementen der Oligarchie sowie der Demokratie zusammen:[14] Von der Oligarchie übernimmt sie beispielsweise, dass die Beamten durch Wahlen bestellt werden und von der Demokratie, dass die Partizipation an der Volksversammlung von keinem – oder einem nur sehr niedrigen – Zensus abhängig ist. In der Politie besteht die – richtig verstandene – Gleichheit der Staatsteile, sodass diese Verfassung wirklich gerecht ist und nur dem Allgemeinwohl dient, ohne zu Lasten eines Staatsteiles zu gehen.

Der Oikos, die Hausgemeinschaft, ist „die Gemeinschaft des edlen Lebens in Häusern und Familien um eines vollkommenen und selbständigen Lebens willen.“ (Pol. 1280 b 33) Aristoteles geht es nicht um eine Wirtschaftstheorie im modernen Sinne, sondern um die Stellung des Oikos als festes, natürliches Element in der vorwiegend agrarisch strukturierten Polis. Die Polis ist die Einheit gesellschaftlichen Lebens, die in der Lage ist, autark alle Lebensbedürfnisse zu decken. Der Ort des Wirtschaftens ist die Hausgemeinschaft. Diese ist durch natürliche Herrschaftsbeziehungen bestimmt. „Wo immer Eines aus Mehreren zusammengesetzt ist und ein Gemeinsames entsteht, da zeigt sich ein Herrschendes und ein Beherrschtes, und zwar findet sich dies bei den beseelten Lebewesen aufgrund ihrer gesamten Natur.“ (Pol. 1254 a 29–32) Hiermit rechtfertigt Aristoteles die Unterordnung von Frauen und Kindern unter den Herren des Oikos, aber auch die natürliche Existenz von Sklaven.

Eigentum ist ein legitimer und fester Bestandteil des praktischen Lebens. „Zwei Dinge erwecken vor allem die Fürsorge und die Liebe des Menschen: Das Eigene und das Geschützte.“ (Pol. 1262 b 22–23) Für Privateigentum spricht, dass der Einzelne den Gütern mehr Fürsorge zuteilwerden lässt als die Gemeinschaft. (Pol. 1262 b 3) Durch das Vorhandensein von Eigentum gibt es klare Rechtsansprüche (Pol 1263 a 15–16) und es gibt weniger Streitigkeiten (Pol. 1263 b 22–25). Schließlich wird die Wirtschaftlichkeit durch das Vorhandensein von Eigentum verbessert. (Pol. 1263 b 28) In rechtem Maße darf man auch Eigentum genießen: „Es gehört auch zum Großartigen, sein Haus entsprechend seinem Reichtum einzurichten (denn auch dieser ist eine Zier) und vor allem für dauerhafte Werke Aufwendungen zu machen (denn diese sind die schönsten) und in allem das Angemessene zu beachten.“ (NE IV, 1123 a 6–10)

Für Aristoteles ist eine angemessene Besitzverteilung ein wichtiges Element einer angemessenen Staatsform. „Wenn nun das Maß und die Mitte anerkanntermaßen das Beste sind, so ist auch in Bezug auf die Glücksgüter der mittlere Besitz von allen der beste, denn in solchen Verhältnissen gehorcht man am leichtesten der Vernunft.“ (Pol. 1295 b 5–6) Allerdings lehnt Aristoteles einen prinzipiellen Egalitarismus ab: „So scheint die Gleichheit gerecht zu sein und sie ist es, aber nicht unter allen, sondern unter den Ebenbürtigen. Und ebenso scheint die Ungleichheit gerecht zu sein, und ist es auch, aber unter den Unebenbürtigen.“ (Pol. 1280 a 13–16) Werden diese strukturellen Unterschiede nicht berücksichtigt, entsteht Unzufriedenheit. „Wenn es heißt, ‚in gleicher Ehre steht der Gemeine wie der Edle‘, […] werden sich die Gebildeten ärgern, als verdienten sie es nicht, bloß gleich viel wie die anderen zu besitzen, und darum werden sie sich oft verschwören und Aufstände machen.“ (Pol. 1267 a 39–41)

Eine maßvolle Wirtschaftsweise im Oikos ist für Aristoteles Grundlage eines guten Lebens und einer stabilen Polis. Hierzu dient auch der Tausch von Waren und Dienstleistungen zwischen Bauern, Handwerkern und Kaufleuten. Für diesen Tauschverkehr bedarf es des Geldes, das die Funktion der Wertaufbewahrung, des Zahlungsmittels und des Maßstabes für den Wert von Gütern hat. (Pol. 1257 a 34 – b 10) In dieser Verwendung ist Geld ein Mittel für die Güterversorgung der Hausgemeinschaft und zur Herstellung der Autarkie in der Polis. Wenn aber Geld nicht mehr Mittel, sondern Zweck des Handelns ist, dann kommt es zur Gelderwerbskunst, der Chrematistik. Es geht dann nicht mehr darum, Gebrauchswerte zu tauschen, sondern um das Anhäufen von Geld. (Pol. 1257 b 29) Ein solches Verhalten betrachtet Aristoteles als unvernünftig und unnatürlich. „Denn da der Genuß in der Überfülle besteht, so suchen sie die Kunst, die die Überfülle des Genusses verschafft. Und wenn sie dies nicht durch die Erwerbskunst zustande bringen, so versuchen sie es auf anderen Wegen und benutzen dazu alle Fähigkeiten, aber gegen die Natur; denn die Tapferkeit soll nicht Geld verdienen, sondern Mut erzeugen, und auch die Feldherrnkunst und die Medizin sollen das nicht, sondern Sieg und Gesundheit verschaffen. Doch jene machen aus alle dem einen Gelderwerb, als ob dies das Ziel wäre, auf das hin alles gerichtet werden müßte.“ (Pol. 1258 a 1–14)

Entsprechend ist auch der Zins etwas Unnatürliches. Er entsteht aufgrund der Raffgier, der Pleonexia, und ist etwas „Hassenswertes, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb zieht.“ (Pol. 1258 b 2) Eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Gelderwerbskunst lehnte Aristoteles ab. „Dies sei nun hier nur im allgemeinen besprochen. Es im Einzelnen genau zu beschreiben, ist zwar nützlich für die Unternehmungen, uns dabei aufzuhalten, wäre aber doch zu ordinär.“ (Pol. 1258 b 34–35) Insofern hat die Betrachtung der Ökonomik bei Aristoteles einen völlig anderen Blickwinkel als die modernen Wirtschaftswissenschaften. Sie ist auf das rechte Mittel und ein gutes Leben ausgerichtet und nicht auf die effiziente und ständige Mehrung des materiellen Wohlstandes.

Die drei Basis-Theoreme der Politik

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David Keyt unterscheidet drei Basis-Theoreme in der Politik des Aristoteles. Das erste bringt Aristoteles, nachdem er dargelegt hat, dass die Polis aus mehreren Dörfern besteht, ein Dorf wiederum aus mehreren Hausgemeinschaften.

1. Die Polis (der Staat) existiert von Natur aus.

Da jeder Mensch nur lebt, um den in ihm ruhenden Plan zu erfüllen (teleologischer Naturbegriff) und er dazu die Polis benötigt, da diese es ihm ermöglicht, seine Eudaimonia zu erreichen, existiert die Polis vom ersten Moment an, wo es Menschen gibt.

2. Der Mensch ist ein politisches Tier (ein geselliges Lebewesen).

Dieses Theorem enthält zwei Teile: (a) Eine zoologische Klassifizierung des Menschen als politisches Herdentier (mit den Bienen, Ameisen etc.)[15] und (b) eine Unterscheidung des Menschen von den anderen Tieren aufgrund der Sprache, die es ihm ermöglicht, Gerechtes von Ungerechtem zu unterscheiden.

3. Die Polis ist früher als der Einzelne.

Verschiedene Deutungen:

  • Der Natur nach vorgängig meint, dass eine Sache X gegenüber einer Sache Y vorgängig ist, wenn X zwar ohne Y existieren kann, Y aber nicht ohne X. Beispiel: Eltern und Kinder.
  • Der Substanz nach vorgängig meint, dass eine Sache X gegenüber einer Sache Y vorgängig ist, wenn X eine höhere Stufe der Entwicklung darstellt als Y. Die Polis ist der Substanz nach vorgängig gegenüber dem Individuum, da sie eine höhere Entwicklungsstufe darstellt als das Individuum.
  • Erkenntnistheoretisch: In der Erkenntnis ist die Polis vorgängig gegenüber dem Einzelnen, da erst die Polis den Einzelnen erkennt. Die Substanz der Polis ist der Einzelne. Der Begriff des Einzelnen erhält aber erst durch die Polis seine Bedeutung.

Otfried Höffe schätzt, dass die politische Anthropologie auch heute noch überzeugt, „allerdings muß man einschränken: nur im Grundsätzlichen.“[16] Höffe kritisiert zwei Punkte. Erstens werden die öffentlichen Gewalten beschönigt, da Aristoteles „primär ihr Ordnungspotential wahrnimmt und den Herrschaftscharakter verkleinert.“[16] Zweitens wirft Höffe Aristoteles vor, dass er keine panhellenische Perspektive habe, obwohl es entsprechende Institutionen gebe. Dass dies fehlt, ist, so Höffe, „umso erstaunlicher, als sie für beide Ziele der Politik notwendig ist: sowohl für das Überleben (zen) der einzelnen Polis, […], als auch für ihr gelungenes Leben (eu zen) […]“.[16] Höffe schließt daraus, dass eine „globale[…], die gesamte Menschheit umfassende Einheit“[17] geschaffen werden müsse.

Höffe spricht der Lehre der drei guten und drei schlechten bzw. entarteten Staatsformen eine besondere Bedeutung für das abendländische Staatsdenken zu.[18] Jochen Bleicken spricht diesen Kategorien als „gedankliche[n] Gebilde[n] einer späten Zeit, die zur Legitimierung des demokratischen Gedankens und vor allem aus einer kritischen Haltung ihr gegenüber mit mehr oder weniger Vorbedacht in der Vergangenheit aufgefunden bzw. erfunden wurden“ historischen Wert ab. Er verwirft die Vorstellung einer „radikalen“ Demokratie und betrachtet die Mitte des 5. Jahrhunderts bestehende Demokratie als die einzig historische.[19] Auch Angela Pabst bestreitet die Existenz einer „‚gemäßigte[n] Demokratie‘ der Archaik“ sowie eine „Entwicklung der einen aus der anderen Systemvariante“.[20]

Werkausgaben und Übersetzungen

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Sekundärliteratur

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  1. Wörtlich: „Dinge, die die Stadt (d. h. das Gemeinwesen) betreffen“.
  2. Aristoteles: Politik, hrsg. von Otfried Höffe, S. 22, vgl. auch Otfried Höffe, Aristoteles, 2006, S. 241.
  3. Aristoteles: Politik, hrsg. von Otfried Höffe, S. 22.
  4. Dies steht in Widerspruch zu Nikomachische Ethik 1162 a: „Die Liebe zwischen Mann und Frau besteht gemäß der Natur. Denn der Mensch ist von Natur aus ein mehr auf die Gemeinschaft zu zweien hin angelegtes Wesen als auf die Polis hin. Insofern ist das Hauswesen älter und notwendiger als die Polis.“
  5. erstellt auf der Grundlage von Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Die Griechen. Von Platon bis zum Hellenismus, Bd. 1/2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 172, 196–212.
  6. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. 4. Auflage. VS, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-531-16054-2, 1.2 Die vier Schichten der Staatsformenlehre des Aristoteles, Tabelle 1: Die erste aristotelische Staatsformenlehre, S. 31.
  7. Aristoteles nimmt Staatsverfassung und -regierung ausdrücklich in eins, vgl. Arist. Pol. III 1278 b 9 ff.
  8. In der aristotelischen Staatsformenlehre ist dies die Herrschaft der Besten, so auch die wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen. Die Besten sind die Besten der Tugend oder der Tüchtigkeit nach.
  9. erstellt auf der Grundlage von Aristoteles, Politik IV, 4 und VI, 4 sowie: Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Die Griechen. Von Platon bis zum Hellenismus, Bd. 1/2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 207.
  10. Arist. Pol. IV 4, 1291 b 33 f.
  11. Arist. Pol. VI 4, 1318 b 22 f.
  12. Vgl. Ottmann, S. 207
  13. Arist. Pol. IV 4, 1292 a 10 ff.
  14. Vgl. hierzu Arist. Pol. IV 9, 1294 a 35 ff.
  15. wobei jedoch zu beachten ist, dass Aristoteles an anderer Stelle, nämlich in der Nikomachischen Ethik 1162 a, ausführt, der Mensch sei „aufgrund seiner Natur mehr (mallon) ein zoon syndyastikón (ein für eine Gemeinschaft zu Zweien bestimmtes Lebewesen) als ein zoon politikón“.
  16. a b c Aristoteles: Politik, hrsg. von Otfried Höffe, S. 34.
  17. Aristoteles: Politik, hrsg. von Otfried Höffe, S. 35.
  18. Otfried Höffe. 2008. Kleine Geschichte der Philosophie, München: Beck, S. 60
  19. Bleicken, Jochen, 1995, Die athenische Demokratie 4. Aufl., Paderborn: Schöningh, S. 73 f.
  20. Angela Pabst, 2010, Die Athenische Demokratie, München: Beck, S. 105