Essentialismus

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Der Essentialismus (auch Essenzialismus, von lat. essentia „Wesen“) ist in der Philosophie die Auffassung, dass Entitäten notwendige Eigenschaften besitzen.

Der Ausdruck Wesen (griechisch ousia, lateinisch essentia, quidditas) hat im philosophischen Sprachgebrauch eine Doppelbedeutung. Er bezeichnet in der Tradition des Aristoteles ein konkretes Individuum. In einem zweiten Sinn bezeichnet „Wesen“ die allgemeine und bleibende Bestimmtheit eines konkreten Individuums. Die „Entität“ steht auch für das Wesen eines Gegenstandes im Sinne eines für das Dasein und die Identität des Gegenstands notwendigen Elements.

Für unterschiedliche Gegenstandsbereiche wird eine Festschreibung auf eine überzeitliche Wesenheit bestritten, darüber hinaus stehen u. a. allgemein metaphysik-kritische Positionen einem Essentialismus entgegen, ebenso wie Auffassungen, wonach die Existenz dem Wesen vorausgeht (sogenannter Existentialismus).

In der Philosophie wird der Essentialismus bis auf Platon und Aristoteles zurückgeführt. Die aristotelische Begriffsbildung wurde maßgeblich von Thomas von Aquin in die Theologie und in die Scholastik aufgenommen. In den Begriffen von Leibniz ausgedrückt, besagt diese Lehre, dass es notwendige und kontingente Eigenschaften von Dingen gebe, und zwar unabhängig davon, wie wir die Dinge konzipieren oder beschreiben.[1]

Zuerst wurde der Ausdruck Essentialismus 1916 von Pierre Duhem (essentialisme (franz.)) als philosophiegeschichtliche Kategorie eingeführt und bezeichnet bei ihm mittelalterliche Auffassungen, nach denen den für die Erschaffung vorgesehenen Wesenheiten eine überzeitliche, essentielle Existenz zukommt. Étienne Gilson erweiterte diese Kategorie und verwandte sie für sämtliche abendländische Theorien, die vom „ontologischen Primat der essentia vor der existentia ausgehen“.[2]

Für Karl R. Popper geht der Essentialismus oder die „Wesensphilosophie“ auf die Ansicht zurück, dass eine Definition richtig oder falsch sein kann, indem sie das „Wesen“ eines Begriffes zum Ausdruck bringt.[3] Nach Poppers eigener Definitionslehre sind Definitionen prinzipiell willkürlich, da sie auf Vereinbarung gründen. Alle wirklich wesentlichen Begriffe einer Theorie sind daher für Popper die undefinierten Grundbegriffe.

Wegen des „aristotelischen Essentialismus“ meinte Willard Van Orman Quine die quantifizierte Modallogik verwerfen zu müssen.[4] Er ließ indes dabei ungeklärt, welche Position in dieser Frage Aristoteles tatsächlich zugeschrieben werden darf. Michael-Thomas Liske erörtert ausgehend von Texten des Aristoteles, inwieweit ein Art-Essentialismus zur Kennzeichnung von Individuen aufrechterhalten werden könne, und verteidigt diesen gegenüber Quines Forderung nach einer ausschließlichen Extensionalitätsbetrachtung: Der Sinnunterschied zweier extensional gleichwertiger Spezifikationen kann wissenschaftlich bedeutsam sein, weil sie ein verschiedenes Erklärungspotenzial haben können.

Sozialwissenschaften

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Innerhalb der Theoriebildung der Sozialwissenschaften spielt der Essentialismusbegriff in zeitgenössischen feministischen Diskussionen eine entscheidende Rolle. Essentialismus bedeutet darin eine verallgemeinernde Reduktion auf geschlechtsspezifische Stereotype, woraus (in Gegenabhängigkeit) feministische Handlungsempfehlungen/-forderungen abgeleitet werden (können): Etwa, die Frau solle sich keinesfalls dem Willen ihres Mannes bedingungslos unterwerfen, solle selbst nach (beruflicher) „Selbstverwirklichung“ streben („Karriere-Feminismus“)[5], keinesfalls in der (gesellschaftlich unzureichend geachteten) Rolle der Mutter und Ehefrau aufgehen dürfen (vgl. MiesHausfrauisierung, vgl. Kritik durch Nancy Fraser[6]).

Während der Differenzfeminismus im aktuellen feministischen (Gender-[7])Diskurs als biologischer bzw. „maternalistischer“[8] Determinismus und damit als essentialistisch kritisiert wird, finden sich im globalen (System-)Feminismus (western feminism nach Mohanty 1986) kulturessentialistische Tendenzen, die notwendig (zu gewissen Agenden) u. a. von der Bevölkerungslobby (insbesondere seit Kairo 1994) finanziell unterstützt[9] bzw. forciert werden.

Innerhalb des Kulturessentialismus[10] stellt etwa die unreflektierte Zuschreibung von (tendenziell sexueller) Unterdrückung der „Dritte-Welt-Frau“ gegenüber (ihrem) „patriarchal-rohen“ Mann ein klassisches Beispiel dar.[11] Aus einer Begründung feministischer (westlicher) Theoriediskussionen zu (gut gemeinten) Gunsten der „Dritte-Welt-Frau“ gegen patriarchale Strukturen ebendort Interventionen legitimieren meinen zu müssen folgt nicht generell Dank.[12][13] Mitunter wird dem Diversity-Mainstreaming-Ansatz weiterhin vorgeworfen, „dass dieser von ethnozentrischen weißen Feminismen geprägt sei“.[14]

„Indessen die Vorstellung, Frauen seien ein in einer patriarchalen Gesellschaft unterdrücktes Kollektiv, bei einigen weißen Feminist_innen noch immer existiert. Dabei blenden sie nichts weniger als die Verschränkungen von sozialen, strukturellen Ungleichheitsverhältnissen in einem rassistischen, kapitalistischen System aus oder übersehen diese, weil sie wollen und machen sich zu Kompliz_innen dessen.“

Sabine Mohamed[15]

Kulturwissenschaften

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In den Kulturwissenschaften, insbesondere in den interkulturellen Studien, wird mit Essentialismus die Vorstellung bezeichnet, dass Menschen aus gleichen Kulturräumen – zumeist als Territorien verstanden – homogen sind. Demnach gibt es einen gemeinsamen kulturellen Kern, den alle Mitglieder einer Kultur „essentiell“ teilen. Ihr Verhalten ist durch ihre kulturelle Zugehörigkeit bestimmt.[16] Die Arbeit der Kulturwissenschaftler Geert Hofstede und Edward T. Hall basiert auf diesem Konzept und dem Wunsch, Kulturen fest begreifen und erfassen zu können.[16] Neuere, konstruktivistische Verständnisse von Kultur, insbesondere Multikollektivität, lehnen diesen Ansatz ab[17][18] und kritisieren, dass kultureller Essentialismus zu stark vereinfacht, die Grundlage für Diskriminierung bildet und kulturelle Dynamiken ignoriert.[19][20]

  • Georg Kamp: Essentialismus. In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. Auflage. 2005, S. 398–404.
  • Helmut Schneider: Essentialismus. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie [HWPh]. Band 2. Schwabe, Basel 1972, S. 751–753.
Wiktionary: Essentialismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Rudolf-Peter Hägler: Kritik des neuen Essentialismus. Paderborn München Wien Zürich 1994, S. 10
  2. Regenbogen, Meyer: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Meiner, Hamburg 2005. Stichwort „Essentialismus“.
  3. Karl Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Hrsg. von Troels Eggers Hansen. 2. Auflage. Tübingen 1994, ISBN 3-16-145774-9, S. 177
  4. Michael-Thomas Liske: Aristoteles und der aristotelische Essentialismus. Individuum, Art, Gattung. Freiburg, München 1985. S. 19; vgl. dazu Ulrich Nortmann: Modale Syllogismen, mögliche Welten, Essentialismus. Eine Analyse der aristotelischen Modallogik. ISBN 978-3-11-014660-8
  5. „Karriere-Feminismus, der Gleichheit durch Anpassung und nicht durch Kritik von Herrschaftsverhältnissen anstrebt.“ (Wichterich 2011: Gemeinsam und verschieden).
  6. Nancy Fraser (2013): „Der Neoliberalismus spinnt wahrlich Stroh zu Gold, wenn er das Ganze zu einem Narrativ der Frauenermächtigung [Empowerment, vgl. OECD, Weltbank etc.] umdichtet. Er beruft sich auf die feministische Kritik des Familienernährer-Haushalts, um Ausbeutung zu rechtfertigen, und spannt so den Traum der Frauenemanzipation vor den Wagen der Kapitalakkumulation.“.
  7. "Women’s Studies (or Feminist Studies) is increasingly being replaced by Gender Studies which was supposed to increase the number of male students." (Renate Klein [2008]: From Test-Tube Women to Bodies without Women. Shorted Reprint (2015) in: Mutterschaft im Patriarchat [PDF], p. 162, Footnote 95).
  8. Ingrid Galster: Französischer Feminismus. Zum Verhältnis von Egalität und Differenz. In: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (Hg. Ruth Becker, Beate Kortendiek). Wiesbaden 2010, S. 46.
  9. Susanne Schultz (1998): Feministische Bevölkerungspolitik? Zur internationalen Debatte um Selbstbestimmung: „Angesichts jahrzehntelanger Diskussions- und Organisierungsprozesse gegen antinatalistische Programme in der Dritten Welt stellt sich die Frage, warum und wie es heute zu dieser Kontroverse kommt. Ein Grund für das aktuelle Interesse feministischer Aktivistinnen an einer Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Ford Foundation, dem Population Council und anderen ist sicherlich die Erfahrung, daß diese seit den 80er Jahren zunehmend feministische Projekte darunter auch solche, die sich gegen Bevölkerungspolitik engagierten finanziert und gleichzeitig feministisches Vokabular in ihre Diskurse integriert haben. Um an Gelder zu gelangen und weiterhin die bevölkerungspolitische Diskussion beeinflussen zu können, halten es viele Feministinnen offenbar für notwendig, sich auf das Thema Bevölkerung zu beziehen.“
  10. „[N]un dient der Kulturessentialismus dazu, die Umgestaltung vermeintlich modernisierungshemmender Kulturen zu legitimieren. Daher ist stets damit zu rechnen, dass ethnographischen Arbeiten über andere Kulturen dazu missbraucht werden, diese Kulturen umzugestalten.“ (Alois Moosmüller: Interkulturelle Kommunikation. Münster 2007, S. 25 f).
  11. Im westlichen Feminismusdiskurs wurde „traditionell“ in den bereits negativ konnotierten Patriarchatsbegriff eingebettet bzw. diese semantisch miteinander verknpüft. Vgl. Mahnaz Afkhami: Towards Global Feminism. A Muslim Perspective. In: Radically Speaking. Feminism Reclaimed (Eds. Diane Bell, Renate Klein). Melbourne 1996, p. 525: "Since ‘traditional’ concepts are by definition founded in patriarchal discourse, global feminism must be skeptical of propositions that present them as liberating." Vgl. Susanne Schultz: Hegemonie – Gouvernementalität – Biomacht. Reproduktive Risiken und die Transformation internationaler Bevölkerungspolitik. Münster 2006, S. 181. Vgl. Rosemary McCabe (2013): The co-option of Human Rights and Feminist Rhetoric to justify the War on Terror (PDF; 390 kB).
  12. „Die feministische Dominanz des Nordens gegenüber dem Süden setzte sich auch in der zweiten Frauenbewegung ab den 1960er Jahren fort. Feministinnen aus dem Norden unterstellten ein weltweit strukturgleiches Patriarchat und universelle Formen männlicher Macht- und Gewaltausübung sowie weiblicher Opfererfahrungen. Frauen aus dem Süden wiesen den westlichen Führungsanspruch und die homogenisierende Konstruktion zurück, verletzt darüber, dass kulturelle Differenzen und eigenständige Frauenbewegungen in den postkolonialen Staaten nicht wahrgenommen wurden.“ (Christa Wichterich [2011]: Gemeinsam und verschieden).
  13. „‚Can the Subaltern Speak?‘ (1988) kritisiert die Sprachlosigkeit der Marginalisierten und ihre Bevormundung durch die westliche Welt. Spivaks Forderung nach subversivem Zuhören, das die Marginalisierten zum Sprechen für sich selbst ermächtigt, wandte sich auch gegen einen der weißen Mittelklasse verpflichteten Feminismus.“ (TAZ, Jette Gintner [2010]: Die Klasse macht’s).
  14. Silke Schwarz: Gendergerechtigkeit als Universalkonzept? Kritische und kultursensible Analysen von Gendermainstreaming nach einer Katastrophe. Wiesbaden 2014, S. 52.
  15. Sabine Mohamed (2012): Überlegungen zu geschlechterpolitischen Bündnissen, ihre Chancen, ihre Probleme und Totgeburten
  16. a b Adrian Holliday: Intercultural Communication and Ideology. SAGE, London 2011, S. 4 ff.
  17. Veit Michael Bader: Kultur und Identität: Essentialismus, Konstruktivismus oder Kritischer Realismus? In: Claudia Rademacher, Peter Wiechens (Hrsg.): Geschlecht – Ethnizität – Klasse: Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz. Leske & Budrich, Opladen 2001, S. 145–174.
  18. Stefanie Rathje: The Definition of Culture – An Application-Oriented Overhaul. In: Interculture Journal. Band 8, Nr. 8, 2009, S. 48.
  19. Stefanie Rathje: The Definition of Culture – An Application-Oriented Overhaul. In: Interculture Journal. Band 8, Nr. 8, 2009, S. 38.
  20. Jürgen Bolten: Interkulturelle Trainings neu denken. In: Interculture Journal. Band 15, Nr. 26, 2016, S. 79.