Culpa in procedendo

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Culpa in procedendo (dt: Verschulden im Prozess) bezeichnet die Verletzung von Pflichten oder Obliegenheiten gegenüber dem Prozessgegner/Verfahrensgegner und in weiterer Folge die Entstehung eines unlauteren Schadens, ohne dass ein sonstiges Rechtsverhältnis zwischen den Parteien vorliegt (in der Regel durch sogenannte missbräuchliche Prozessführung).

Inhalt, Entwicklung und Rechtsgrundlagen

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Bei der Figur der culpa in contrahendo, bei der sich die Personen beispielsweise als potentielle Vertragspartner gegenüberstehen, besteht eine verschärfte Haftung zwischen den Parteien. Diese verschärfte Haftung, die mit der vertraglichen Haftung vergleichbar ist, wird damit begründet, dass, obwohl keine Vertragsbeziehung vorliegt, ein Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien besteht, das zu besonderer Sorgfalt gegenüber den Rechtsgütern des anderen zwingt.

Im Bereich des Zivilprozesses stehen sich die Parteien als Gegner gegenüber. Dennoch besteht auch zwischen diesen eine besondere Vertrauenslage bzw. seien die Parteien in ein vertragsähnliches Pflichtensystem eingebettet, weil sie miteinander in einem gemeinschaftlichen, rechtlich geordneten Verfahren verbunden sind, weswegen die culpa in procedendo grundsätzlich auch in diesen Fällen angedacht wird. In einem Zivilprozess sind auch Regelungen zum Schutz des Gegners enthalten und nötige. Ebenso kann auch eine Partei der anderen durch die Auswahl des ungeeigneten Rechtsvertreters bzw. bevollmächtigen Erfüllungsgehilfen einen Schaden verursachen.[1]

Die Lehre in Deutschland lehnt die Annahme einer Sonderverbindung zwischen den Verfahrensparteien/Prozessgegnern im Erkenntnisverfahren bzw. zwischen Schuldner und Gläubiger in zivilrechtlichen Vollstreckungsverhältnissen ab.[2]

Das Reichsgericht hat hierzu ursprünglich eine andere Auffassung zu § 85 ZPO vertreten und auch materiell-rechtliche Auswirkungen schuldhafter Prozesshandlungen von Prozessbevollmächtigten darunter subsumiert.[3] Diese Rechtsprechung wurde in weiterer Folge jedoch nicht aufrechterhalten[4] und die Ablehnung dieses Rechtsinstitutes vom BGH[5] und der überwiegenden Rechtslehre übernommen bzw. weiter getragen.[6] Es kommt § 85 ZPO daher grundsätzlich nur verfahrensrechtliche Bedeutung zu und keine materiell-rechtliche und auch eine analoge Anwendung sei grundsätzlich nicht möglich.

Bezüglich der culpa in procedendo befindet sich in Deutschland die Rechtsprechung und Lehre seit vielen Jahren in Diskussion (insbesondere in Bezug z. B. auf die in der ZPO normierten Rechtsinstitute, die teilweise auch dem Schutz des Gegners dienen; vgl. z. B.: § 138 Abs. 1 ZPO, § 282 Abs. 1 ZPO). Es wird auch argumentiert, dass in Anlehnung an die culpa in contrahendo im materiellen Recht auch eine Haftung aus culpa in procedendo im Prozessrecht mit materiell-rechtlichen Ansprüchen bestehen müsse und zahlreiche Vergleichbarkeiten bestehen.[7]

In § 408 der österreichische Zivilprozessordnung[8] aus dem Jahr 1895 ist normiert, dass eine im Verfahren unterliegende Partei, die offenbar mutwillig einen Prozess geführt hat, auf Antrag der siegenden Partei zur Leistung eines entsprechenden Entschädigungsbetrages verurteilt werden kann (Abs. 1). Dieser Entschädigungsbetrag ist vom Gericht nach freier Überzeugung zu bestimmen (Abs. 3).

Bereits in der Allgemeinen Gerichtsordnung (AGO)[9] aus dem Jahr 1781 war festgehalten: Wenn der Richter in dem abgeführten Prozesse, oder in der ergriffenen Appellazion, oder Revision bey einer, oder anderer Parthey eine offenbare Widerrechtlichkeit, und besondern Muthwillen bemerkte, hat derselbe die betreffende Parthey, und ihren bestellten Rechtsfreund mit einer angemessenen Strafe an Gelde, oder Leibe anzusehen. In der Allgemeinen Gerichtsordnung war dies somit noch eine Strafsanktion, heute ist es als schadenersatzrechtliche Sanktion auf Antrag des Prozessgegners ausgebildet.

Obwohl die Bestimmung seit über 100 Jahren in § 408 ZPO 1895, bzw. über 200 Jahre schon in der Vorläuferbestimmung § 409 AGO enthalten war, hat sich der Oberste Gerichtshof in Österreich erst im Jahr 2008 damit etwas auseinandergesetzt.[10]

Liechtenstein hat die österreichische Zivilprozessordnung im Jahr 1912 Großteils übernommen[11] und auch § 408 ZPO, in dem die culpa in procedendo geregelt ist. Im Gegensatz zu § 408 Abs. 3 öZPO ist jedoch in § 408 Abs. 3 FL-ZPO anders formuliert und nimmt auf § 273 FL-ZPO Bezug, nachdem „das Gericht auf Antrag oder vom Amts wegen selbst mit Übergehung eines von der Partei angebotenen Beweises diesen Betrag nach freier Überzeugung festsetzen“ kann.

Von der Rechtsprechung in Liechtenstein wird teilweise die Rechtsprechung des österreichischen Obersten Gerichtshofes zur österreichischen Zivilprozessordnung zur Auslegung der liechtensteinischen Zivilprozessordnung herangezogen.

Zurechnung der Handlungen des Rechtsvertreters

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Sowohl in Deutschland[12] als auch in Österreich[13] und auch in Liechtenstein[14] sind die Bestimmungen des Zivilverfahrensrechts über die Parteien grundsätzlich auch auf deren Bevollmächtigte (z. B. Anwälte) anzuwenden. Säumnis und Verschulden des Bevollmächtigten der Partei werden also der Verfahrenspartei zugerechnet. Die culpa in procedendo unterscheidet sich von der in allen drei Ländern anerkannten Rechtsansicht, dass ein Verschulden des Vertreters dem Verschulden der Partei gleichsteht, weil dieses Verschulden aus der culpa in procedendo von der Verfahrenspartei selbst verursacht wurde (durch ein Tun oder Unterlassen) und das materielle Recht betrifft.

Amtswegige Verfahren

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In nicht kontradiktorischen und in amtswegige einzuleitenden oder eingeleiteten Verfahren (z. B. im Grundbuchverfahren, Sachwalterschaftsverfahren, Insolvenzverfahren[15]) ist die culpa in procedendo in Österreich und Liechtenstein nicht anwendbar.

Ähnliche Rechtsinstitute

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Das „Gegenstück“ zur prozessualen culpa bildet die vertragsbasierende culpa in eligendo. Wobei der bei der culpa in eligendo erkennbar untüchtige Dritten bei der culpa in procedendo der Prozessvertreter ist, dessen Handlungen sich die Prozesspartei zurechnen lassen muss. Ähnlich wirkt auch die vorvertragliche „culpa in contrahendo“ bzw. die nachvertragliche „culpa post contractum finitum“. Diese Rechtsinstitute erfassen Verletzungen, die im Zusammenhang mit der Abwicklung eines Vertrages auftreten.

Um die culpa in procedendo ansprechen zu können, muss die missbräuchliche Inanspruchnahme des Gerichtes einwandfrei nachweisbar sein, da Mutwillen iSd § 408 ZPO immer Absicht voraussetzt. Gutgläubige Prozessführung schließt somit die culpa in procedendo aus[16] und trägt nur die Gefahr der Prozesskostenersatzpflicht in sich.[17]

Österreich und Liechtenstein

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Werden Verfahrenshandlungen von einer Partei gesetzt, obwohl sie weiß, dass dadurch ein Prozessgegner/Verfahrensgegner vermögensmäßige Nachteile erleiden kann, haftet diese schadenersatzrechtlich, wenn sie bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass der im Verfahren vertretene Rechtsstandpunkt aussichtslos ist.[18]

In jedem Fall haftet der Prozessgegner / die Verfahrenspartei nach § 408 öZPO bzw. FL-ZPO, die Verfahrenshandlungen setzt oder Rechtsmittel aufrechterhält, nur um die Gegenseite unter Druck zu setzen.[19]

Verletzt eine Prozesspartei/Verfahrenspartei in schuldhafter Weise die ihr obliegenden Pflichten und entsteht der anderen Prozesspartei dadurch ein Schaden, ist diese in Österreich und Liechtenstein grundsätzlich zum Ersatz dieses Schadens verpflichtet. Dabei ist jedoch auf Rechtskraftbindung der Entscheidung zu achten.[20]

Da die culpa in procedendo das Verhalten des Prozessgegners / der Verfahrenspartei sanktioniert, kann die Sanktion sich nicht gegen den Bevollmächtigten (z. B. Rechtsanwalt) richten. Hat jedoch der Bevollmächtigte die Handlungen gesetzt, die zur Haftung der Verfahrenspartei nach § 408 ZPO führt, so kann die Verfahrenspartei gegen den Bevollmächtigten Regressansprüche geltend machen.[21]

  • Carmen Viola Diengsleder, Schadenersatzpflicht von Zeugen, Graz 2010, Dissertation, Online-Publikation
  • Philipp Fidler, Schadenersatz und Prozessführung – Grundlagen und System einer Haftung von Prozessparteien, Wien 2014, Dissertation, Manz Verlag, ISBN 978-3-214-03788-8.
  • Wolfgang Fleck, Die Redlichkeitspflichten der Parteien im Zivilprozess : Geltungsgrund und Funktion, München 2004, Beck Verlag, Univ. Diss., ISBN 9783406513749.
  • Kerstin Prange, Materiell-rechtliche Sanktionen bei Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht durch Zeugen und Parteien, Berlin 1995, Dissertation, Duncker & Humblot, ISBN 3-428-08464-0.
  • Barbara Seidl, Anspruchsberühmung, Erstattungsfähigkeit außergerichtlicher Rechtsverteidigungskosten bei unberechtigter Geltendmachung von Ansprüchen, Verlag Utz, München 2014, Dissertation, ISBN 978-3-8316-4282-3, Online Google books.

Einzelnachweise

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  1. Siehe z. B. Lüke, Betrachtungen zum Prozessrechtsverhältnis, ZZP 108, 1995, S. 427, 443, 447 f, mwNw.
  2. Siehe z. B.: Walter Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, Beitrag zur rechtstheoretischen Präzisierung eines Verbotes arglistigen Verhalten im Erkenntnisverfahren des Zivilprozesses, Berlin 1967, Duncker & Humblot, S. 19; Burckhard Heß in „Zivilprozeßordnung und Nebengesetze“, begründet von Bernhard Wieczorek, hrsg. von Rolf A. Schütze , 3. Auflage, Berlin 1999, de Gruyter Verlag, ISBN 3-11-016286-5, § 717 Rz. 44 Online Google.books.
  3. LZ 1915, 363
  4. RGZ 196, 177; RGZ 158, 357
  5. VersR 1957, 301; BGHZ 58, 207. Schwankend: BGHZ 28, 207 (212, 214); BGHZ 74, 9 (11). Siehe auch Arwed Blomeyer: Zivilprozeßrecht. Vollstreckungsverfahren. Springer, Berlin u. a. 1975, ISBN 3-540-07286-1, S. 151.
  6. Siehe z. B. v. Mettenheim in MünchKomm ZPO4, § 85 Rz 13; Weth in Musielak, ZPO, § 85 Rz 4; Bork in Stein/Jonas, ZPO22 § 85 Rz 2, 10, 26, 27; Vollkommer in Zöller, ZPO26, § 85 Rz 4; Horst Konzen, Rechtsverhältnisse zwischen Prozeßparteien, Duncker und Humblot, Berlin 1976, S. 289 f; Pfeil, Die Haftung des Gläubigers und seines Anwalts für durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen verursachte Schäden, Dissertation, Bielefeld 2004, S. 112 f. Andere Ansicht: Steiner in Wieczorek/Schütze, ZPO³ [1994] § 85 Rz 2; Vollkommerin Zöller, ZPO26, Einleitung, Rz 52; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht16, § 2, Rz 19; Lüke, Betrachtungen zum Prozessrechtsverhältnis, ZZP 108, 1995, S. 427, 441 ff.
  7. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht16, § 2, Rz 19; Lüke, Betrachtungen zum Prozessrechtsverhältnis, ZZP 108, 1995, S. 427, 441 ff.
  8. Zivilprozessordnung, RGBl. Nr. 113/1895.
  9. Allgemeine Gerichtsordnung für Böheim, Mähren, Schlesien, Oesterreich ob, und unter der Ennß, Steyermarkt, Kärnten, Krain, Görz, Gradiska, Triest, Tyrol, und die Vorlanden.
  10. Siehe die Entscheidung 6 Ob 156/08x.
  11. Gesetz vom 10. Dezember 1912 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Zivilprozessordnung), LGBL 9/1 vom 10. Dezember 1912.
  12. Siehe 85 Abs. 2 dZPO. Rechtsprechung: RGZ 196, 177; RGZ 158, 357; BGHZ 66, 122; BVerfGE 35, 41, 46; BVerfGE 60, 253.
  13. Siehe die § 34 iVm § 39 öZPO, abgeleitet teilweise auch aus § 245 Abs. 1, §§ 512, 528 Abs. 4 ZPO.
  14. Siehe die § 34 iVm § 39 FL-ZPO. In Liechtenstein wurden die Bestimmungen der österreichischen ZPO bzgl. der Mutwillensstrafen nicht vollständig übernommen bzw. etwas anders geregelt. Siehe z. B. die Artikel 452 Abs. 3, 481, 496 Abs. 2 FL-ZPO.
  15. Wohl aber bei einem missbräuchlich gestellten Insolvenzantrag, 6 Ob 156/08x.
  16. 10 ObS 142/07s
  17. SZ 51/172.
  18. 3 Ob 161/97s, 10 ObS 142/07s.
  19. SZ 59/159.
  20. Lüke, Betrachtungen zum Prozessrechtsverhältnis, ZZP 108, 427, 443.
  21. 6 Ob 156/08x; 8 Ob 9/13a.