Prager Kreis
Der Prager Kreis ist eine Bezeichnung für junge deutschsprachige Literaten in Prag etwa zwischen 1905 und 1925. Max Brod prägte diesen Begriff 1966 und unterschied einen engeren und einen weiteren Prager Kreis. Die Bezeichnung „Prager Kreis“ war keine historische Selbstbezeichnung einer literarischen Gruppe, sondern ist wesentlich auf das retrospektive Buch Der „Prager Kreis“ (1966) von Max Brod zurückzuführen, wo er auch den älteren Begriff der „Prager Schule“ zurückweist.[1]
Geschichte
BearbeitenDie Wurzeln des „Prager Kreises“ reichten Brod zufolge bis ins 19. Jahrhundert zurück. Zu seinen „Ahnen“ zählte er beispielsweise Marie von Ebner-Eschenbach, Bertha von Suttner und Adalbert Stifter.[2]
Kleiner Prager Kreis
Bearbeiten1904 wurde Oskar Baum mit Franz Kafka und Felix Weltsch durch Max Brod bekannt gemacht. Daraus entwickelte sich ein privater Freundeskreis, der sich regelmäßig in Oskar Baums Wohnung traf und sich dort eigene und fremde Texte vorlas, diskutierte und musizierte. Nach Kafkas Tod 1924 wurde Ludwig Winder in diesen engeren Kreis aufgenommen.[3]
Weiterer Prager Kreis
BearbeitenIn den Jahren ab 1905 entwickelte sich ein größerer Kreis von deutschsprachigen Literaten und Publizisten. Deren wichtigster Treffpunkt war das Café Arco. Die zentralen Akteure waren Max Brod und Franz Werfel, dazu kamen Rainer Maria Rilke, Johannes Urzidil, Hugo Bergmann, Egon Erwin Kisch, Franz Janowitz Paul Kornfeld, Paul Leppin, Ernst Polak, Willy Haas, Otto Pick, Rudolf Fuchs, Ernst Popper, der Schauspieler Ernst Deutsch und weitere.[4] Diese kannten sich teilweise schon aus der Schulzeit. So hatten Brod, Werfel, Kornfeld, Haas, Janowitz, Fuchs und Pollak das Neustädter deutsche Gymnasium besucht.[5] Es gab einen vielfältigen Austausch, in den Treffen wurden Texte vorgelesen, diskutiert und Musik gehört. Wichtigste Publikationsorgane waren die Literaturzeitschriften Herder-Blätter (1912) und Arkadia (1913–1918), die Max Brod leitete.
Ein wichtiges Merkmal dieser Autoren war, dass ihnen deutschnationale Dünkel fremd waren. Ein Großteil von ihnen war jüdischer Abstammung, viele beherrschten die tschechische Sprache und einige standen in Austausch mit tschechischen Literaten, Musikern und Künstlern.[6]
Dieser Kreis war eine wichtige Unterstützung für die bedeutende Prager deutsche Literatur dieser Zeit. Die Beziehungen dauerten oft viele Jahre und bestanden auch nach 1939 fort.
Begriffsgeschichte
BearbeitenMax Brod prägte den Begriff Prager Kreis erstmals 1966 in seinem Buch[3], offenbar als Reaktion auf die allgemeinere Formulierung Prager deutsche Literatur, die 1965 auf einer Germanistenkonferenz im Schloss Liblice neu gefasst worden war, und die als Kafka-Konferenz in die Geschichte eingehen sollte. Er wollte damit eine stärkere personelle Eingrenzung vornehmen, und wahrscheinlich seine eigene Rolle dabei stärker betonen. Seine Zuordnung war ausdrücklich subjektiv geprägt, der engere Freundeskreis als innige, freundschaftliche Verbindung.[2][7] den Brod auf den Kleinen Prager Kreis beschränkte.
Frauen des Prager Kreises
BearbeitenFrauen spielten bei den Begegnungen der Literaten meist nur eine untergeordnete Rolle. Dieses begründete sich in der traditionell untergeordneten Rolle von Frauen in deutschsprachigen jüdischen Familien und allgemein in der österreichisch-ungarischen Monarchie (tschechische Frauen waren in dieser Zeit bereits etwas emanzipierter!). Sie waren in der Ausbildung an Mädchen-Lyzeen strukturell benachteiligt und hatten größere Schwierigkeiten an Universitäten zu studieren sowie eine höhere Berufslaufbahn einzuschlagen.
Trotzdem waren einige Frauen für die deutschsprachige Literatur in Prag in der Zeit um 1910/1920 wichtig. Die herausragendste war Berta Fanta mit ihrem literarisch-philosophischen Salon, der einer der wichtigsten Treffpunkte der Intellektuellen Prags war. Einige Autorinnen wie Hedda Sauer publizierten eigene Gedichtbände, andere wie Gertrude Urzidil veröffentlichten Erzählungen und Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften. Die in Prag geborene Jüdin Auguste Hauschner, in deren Berliner Salon auch Max Brod verkehrte, zeichnete in ihrem Roman Die Familie Lowositz (1908, zwei Bände) eine autobiographisch geprägte Milieustudie des deutsch-jüdischen Großbürgertums in Prag.
Daneben spielten Ehefrauen, Schwestern und Bekannte wie Sophie Brod, Else Bergmann, Lise Weltsch und andere eine durchaus wichtige unterstützende Rolle, meist aber eher im anscheindenden Hintergrund.
In der neueren Frauenforschung wurde einzelnen Frauen des Prager Kreises größere Aufmerksamkeit zugewendet, und ihre historische Bedeutung gewürdigt.[8]
Literatur
Bearbeiten- Übersichtsliteratur
- Steffen Höhne, Anna-Dorothea Ludewig, Julius H. Schoeps (Hrsg.): Max Brod (1884–1968). Die Erfindung des Prager Kreises. Böhlau, Köln / Weimar / Wien 2016 ([1] Google Book).
- Max Brod: Der Prager Kreis. Mit einem Vorwort von Peter Demetz. (= Ausgewählte Werke. Band 9.) Hrsg. von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann in Zusammenarbeit mit Barbora Šrámková und Norbert Miller. Wallstein-Verlag, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8353-1795-6. Online
- Einzelaspekte
- Elisabeth Buxbaum: Es kafkat und brodelt und werfelt und kischt: Der Prager Kreis. Armin Berg Verlag, Wien 2012, ISBN 978-3-9502673-2-7. Textcollagen von Originalwerken.
- Arno A. Gassmann: Lieber Vater, Lieber Gott? Der Vater-Sohn-Konflikt bei den Autoren des engeren Prager Kreises. Igel Verlag, Hamburg 2002, ISBN 978-3-89621-146-0.
- Margarita Pazi: Fünf Autoren des Prager Kreises(= Würzburger Hochschulschriften zur neueren deutschen Literaturgeschichte, Band 3). Lang, Frankfurt am Main / Bern / Las Vegas 1978, ISBN 3-261-02476-3.
- Margarita Pazi: Prag 1933 – Der Prager Kreis und die Emigration. In: Peter Becher, Peter Heumos (Hrsg.): Drehscheibe Prag: zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933–1939. Oldenbourg, München 1992, ISBN 3-486-55951-6, S. 97–107 (ulis-buecherecke.ch [PDF]).
- Boris Blahak: Konstruktion einer „Idealnorm“. Max Brods sprachlich-exklusive Stilisierung des Prager Kreises. In: Brünner Hefte zu Deutsch als Fremdsprache. Jahrgang 8, Nummer 2, 2015 (letnapark-prager-kleine-seiten.com).
- Andreas B. Kilcher: Der ›Prager Kreis‹ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit. In: Manfred Engel, Bernd Auerochs (Hrsg.): Kafka-Handbuch : Leben – Werk – Wirkung. J.B. Metzler, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-476-02167-0, S. 37–49 (books.google.de). Oder als (edisciplinas.usp.br PDF).
- Zeitungsartikel
- Andreas Kilcher: Kampf um die Deutungshoheit. Der „Prager Kreis“ ist Max Brods Erfindung. In: Neue Zürcher Zeitung. 10. August 2016, S. 22. Online
- Hans Dieter Zimmermann: Zur Pragerdeutschen Literatur. „Es brodelt und werfelt und kischt ...“ In: Die Politische Meinung. Nr. 438, Mai 2006, S. 69–76. (kas.de).
Weblinks
Bearbeiten- Bettina Bannasch und Sarah Sosinski: Schreibende Frauen aus dem Umfeld des Prager Kreises – Binationales Projekt in Kooperation mit der Westböhmischen Universität Pilsen. Internationale Tagung an der Universität Augsburg vom 9. – 11. April 2024.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Andreas B. Kilcher: Der Prager Kreis und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit. S. 42.
- ↑ a b Friedrich Goedeking: Mittler zwischen den Kulturen. In: Prager Zeitung. 25. Mai 2016.
- ↑ a b Max Brod. Der Prager Kreis. Frankfurt am Main 2016 S. 42
- ↑ Barbara Sapała: Der Prager Kreis. In: Acta Neophilologica. 2001, III, S. 265–274, hier S. 270 (bibliotekanauki.pl PDF), zählt einige Namen auf, zitiert nach Brod, 1966.
- ↑ Andreas B. Kilcher: Der Prager Kreis und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit. S. 42.
- ↑ Vera Schneider. Wachposten und Grenzgänger: deutschsprachige Autoren in Prag und die öffentliche Herstellung nationaler Identität. Würzburg 2009. S. 22
- ↑ Max Brod: Der Prager Kreis. Frankfurt am Main 1979. S. 41.
- ↑ Gab es einen weiblichen „Prager Kreis“? Kulturforum, Symposium in Wien im April 2008; danach wurden verschiedene neue Publikationen zu deutschsprachigen Prager Schriftstellerinnen dieser Zeit veröffentlicht.