Im Oktober 2010 stellte eine Historikerkommission unter Leitung von Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann das Buch Das Amt und die Vergangenheit – Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik vor.Die Buchvorstellung fand unter großer medialer Aufmerksamkeit statt - eine Aufmerksamkeit, die sich binnen kurzem in eine heftige Debatte verwandelte, die ihre Protagonisten vor allem unter Fachhistorikern fand. Dokumentiert, begleitet und nicht zuletzt gelenkt und angeheizt wurde sie jedoch auch von Seiten der Presse, darunter so renommierten Blättern, wie der Zeit, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), dem Spiegel und der Süddeutschen Zeitung. Die Debatte ist vor allem interessant aufgrund der Polarisierung innerhalb der wissenschaftlichen Community, die deutlich wird anhand der einzelnen teils politisch grundierten, teils fachwissenschaftlich begründeten Beiträge.
Zeitgeschichte-online (ZOL) interviewte am 21. Februar 2011 den Leiter der Historikerkommission Eckart Conze und Annette Weinke, die zum Autorenteam des Buches gehörte. Dabei konzentrierten wir uns weniger auf die Forschungsergebnisse selbst als auf die Produktionsbedingungen, unter denen das Buch entstanden ist und auf die sich bereits in vollem Gange befindende Debatte.
Das Interview fand in den Räumen der Humboldt-Universität zu Berlin statt und wurde geführt von Christian Mentel, Annette Schuhmann und Matthias Speidel.
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ZOL: Herr Conze, Frau Weinke, hat Ihre Studie – im Hinblick auf zukünftige Meistererzählungen – eine neue Richtung in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus aufgezeigt? Muss das Institutionsgefüge des Nationalsozialismus in Bezug auf den Holocaust neu bewertet werden?
Conze: Die Studie hat auf jeden Fall – das zeigt ihre Rezeption – einen Akzent in einer Aufarbeitungsgeschichte gesetzt, die schon Jahrzehnte alt ist und die immer wieder unterschiedliche Themen, unterschiedliche Gegenstände und Forschungsfelder gefunden hat. Das reicht von den 1960er bis in die 1990er Jahre zur Diskussion um die Wehrmacht und schließlich bis zu unserem Buch und der Debatte darüber - die beide untrennbar zusammen gehören. Und natürlich hebt „Das Amt“ deutlich eine Institution und ihre Geschichte innerhalb des NS-Herrschaftssystems hervor. Zu unserer Studie gehört aber auch der gleich wichtige und gleich berechtigte zweite Teil des Buches, der Blick auf den Umgang mit der Geschichte zwischen 1933 und 1945 in den Jahrzehnten danach. Beides gehört zusammen. Es ist ein Spezifikum unseres Buches – und in gewisser Weise auch neu –, dass wir unsere institutionengeschichtliche Perspektive nicht 1945 abbrechen und damit einer stark politik- und ereignishistorischen Zäsurenbildung folgen, sondern sehr bewusst und systematisch über die Zeit nach 1945 hinausgehen.
Weinke: Ich würde noch hinzufügen, dass das Buch einen neuen Akzent innerhalb einer längeren Debatte darstellt. Wichtig ist, dass schon seit langem bekannt ist, dass es personelle Kontinuitäten nach 1945 in den Bundesministerien und Bundeseinrichtungen gegeben hat. Wir konnten am Beispiel des Auswärtigen Amtes veranschaulichen, dass diese personelle Kontinuität sehr praktische Folgen hatte, nämlich auf verschiedenen Politikfeldern und in verschiedenen Handlungsbezügen. Ich denke, dies ist ein Erkenntnisgewinn, der sich in weiteren Forschungen zu dieser Thematik fortsetzen wird. Zudem ist auch gewürdigt worden, dass es sich nicht um eine trockene Institutionengeschichte handelt, sondern dass „Das Amt“ auch einen Beitrag zur Elitenforschung der Bundesrepublik und zur Mentalitätengeschichte darstellt.
ZOL: Auffällig ist, dass in der Debatte um das Buch der Begriff des Beamten und der Beamtenschaft nicht auftaucht, obwohl Sie sich mit einer wichtigen Gruppe der Beamtenschaft beschäftigen. Was ist der Grund für diese Zurückhaltung in Bezug auf diesen Begriff?
Conze: Die Tatsache, dass der Begriff „Beamte“ und die Geschichte des Beamtentums in unserem Buch und in seiner Rezeption nicht auftauchen, hat sicher damit zu tun, dass diese Fragen im Augenblick keine herausgehobene Rolle innerhalb unserer Gesellschaft spielen. Es wird zwar gelegentlich über das Berufsbeamtentum diskutiert und es werden Fragen gestellt, in welchen Bereichen die Bundesrepublik tatsächlich ein Beamtentum traditionellen Zuschnitts braucht und wo dessen hoheitliche Aufgaben liegen, zu deren Erfüllung sie im deutschen Verständnis nötig sind. Doch dies scheint augenblicklich keine virulente gesellschaftliche Debatte zu sein. Geschichtswissenschaftlich könnte man natürlich einen etwas anderen Akzent setzen und etwa die Frage stellen, in welchem Maße die spezifischen Ausformungen des deutschen Berufsbeamtentums, so wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt haben, dazu beigetragen haben, dass sich diese Beamtenschaft, oder Teile davon, in bestimmten Funktionszusammenhängen nach 1933 so verhalten haben, wie sie sich verhalten haben. Diese Frage haben wir nicht explizit gestellt, sie schwingt aber als eine Erkenntnisdimension gewiss mit, und sie scheint mir legitim und wichtig. Wir haben uns naturgemäß sehr stark auf die Diplomaten und die diplomatische Elite konzentriert. Ohnehin sind wir ja kritisiert worden, zu generell oder pauschal geurteilt zu haben. Insofern wäre eine Weitung der Urteilsbildung auf die Beamtenschaft, auf die Tradition des deutschen Beamtentums, problematisch gewesen – was aber die Bedeutung der Frage in keiner Weise schmälert. Mit der Geschichte der deutschen Beamtenschaft und des Berufsbeamtentums ist eine wichtige Entwicklungslinie identifiziert, die nicht nur die Brücke zwischen Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit schlägt, sondern die im Grunde aus dem 19. Jahrhundert bis an die Schwelle der Gegenwart führt. Daran knüpfen sich Fragen, die man heute nicht zuletzt unter kulturhistorischen Vorzeichen untersuchen und diskutieren könnte, wie Beamteneid, Verfassungstreue, Beamte in Regime- und Systemwechseln. Dies sind ganz zentrale Themen, keineswegs „nur“ randständig verwaltungsgeschichtliche, und wir haben uns ihnen gleichsam implizit am Beispiel der höheren Beamten des diplomatischen Diensts genähert.
ZOL: Wenn Sie nicht einen so klar formulierten Auftrag erhalten hätten, sondern ein Forschungsprojekt nur nach historiographischen Gesichtspunkten und eigenen Forschungsinteressen formulieren könnten, welche Schwerpunkte würden Sie setzen? Was würden Sie anders machen?
Conze: Schwierig, hypothetisch darüber nachzudenken. Vermutlich hätte jeder der Mitarbeiter und jedes Kommissionsmitglied auf je eigene Weise an diesem oder jenem Punkt andere Akzente gesetzt in der Bearbeitung der Gesamtthematik. Wobei ich die Formulierung des Kommissionsauftrags nicht über Gebühr einengend und eingrenzend verstanden habe. Die Formulierung hat, relativ klar, einen Fokus vorgegeben, aber keine wie auch immer geartete Engführung bedeutet. Die Kommission war völlig frei, die Thematik präzise zu definieren und zu konturieren, und das haben wir auch getan. Wir haben unseren Auftrag interpretiert, um ihn für die Forschung produktiv zu machen. Das implizierte Entscheidungen, die andere Historiker vielleicht anders getroffen hätten. So haben wir uns entschieden, uns wirklich auf die Geschichte des Auswärtigen Dienstes zu konzentrieren und nicht eine Geschichte der Außenpolitik zu schreiben. Ebenso fanden wir es wichtig und richtig, einen Schwerpunkt unserer Analyse auf die Rolle des nationalsozialistischen Auswärtigen Amtes bei der Verfolgung und Ermordung der Juden zu legen. Auch für eine Institutionengeschichte ist das doch die zentrale Frage, und wer unser Buch kritisiert, weil es die Geschichte des Nationalsozialismus auf den Holocaust reduziere, der argumentiert – vielleicht ohne es zu wollen – sehr gefährlich.
Im Blick auf die Nachkriegsentwicklung hätte man die Forschung sicher noch etwas stärker ins Sozialhistorische hinein weiten können. Unser Auftrag zielte allerdings primär auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach 1945, und das implizierte eine bestimmte Schwerpunktsetzung. Die Frage, was sich an neuem entwickelt hat, bekommt allein aufgrund dieser Fokussierung ein etwas geringeres Gewicht als die Frage nach dem, was aus der Zeit vor 1945 weiterwirkte. Aber auch diese Frage wird ja gestellt und behandelt. Und im Übrigen ist die Forschung zur Geschichte des Auswärtigen Amtes mit unserem Buch – man kann es nur immer wieder betonen – nicht an ihr Ende gelangt.
ZOL: Was wäre, wenn Sie phantasieren dürften und es noch viel mehr Geld und viel weniger Auftrag gegeben hätte? Was wären Ihre Wünsche gewesen?
Weinke: Ich kann mich erinnern, dass wir in der Anfangsphase darüber diskutiert haben, beispielsweise die Geschichte der österreichischen Diplomaten mit einzubeziehen. Dagegen sprachen allerdings politische Gründe. Ein anderer Punkt wäre sicherlich der Umgang der DDR mit ihren Diplomaten. Das wäre ein sehr spannendes Thema gewesen, denn da hat es vereinzelt sogar Querverbindungen gegeben. Das hätte man sicherlich, wenn man die Kapazitäten gehabt hätte, auch machen können. Was die vergangenheitspolitische Thematik betrifft, konnten bisher einige Themenkomplexe kaum bearbeitet werden, weil die Personalakten, die erst mit dem Projekt geöffnet wurden, nicht zugänglich waren. Da fällt mir beispielsweise der ganze Nahostkomplex ein, also die Tatsache, dass ausgerechnet in der Nahostpolitik eine ganz bemerkenswerte personelle Kontinuität herrschte und dort nach 1949 Personen zum Zuge kamen, die schon während der NS-Zeit maßgeblich das Geschick der deutschen Außenpolitik bestimmt hatten. Die Rolle der „Orientalisten“ hätte ich persönlich sehr, sehr spannend gefunden. Das war leider nicht möglich, weil dazu die Zeit und die Kapazitäten fehlten. Auch das Verhältnis der Bundesrepublik zu Südafrika hätte mich sehr interessiert. Ein anderer Punkt, den wir nicht bearbeiten konnten – der zu Recht angemahnt wurde – ist beispielsweise die Geschichte der Akteneditionen „Akten zur deutschen auswärtigen Politik“ und „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“. Dies hätten wir sicher gerne bearbeitet, es hätte auch sehr gut reingepasst. Aber die Grenzen waren erreicht, wir konnten das nicht auch noch machen.
Conze: Wichtig finde ich – das wäre allerdings eine Ergänzung, die in der zur Verfügung stehenden Zeit und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht möglich war – sowohl für die Zeit vor 1945 als auch für die Zeit danach noch viel genauer einzelne Schauplätze und im Zweifelsfall einzelne Biographien und Protagonisten zu beleuchten. Man könnte zum Beispiel für die Jahre des Zweiten Weltkriegs einzelne diplomatische Missionen in Europa genauer unter die Lupe nehmen. Aber das sind hoffentlich Impulse, die von diesem Buch ausgehen und die die künftige Forschung in diese Richtung stimulieren. In unserem Projekt ging es über weite Strecken darum, mit Blick auf das diplomatische Handeln in einzelnen Vertretungen einen vorhandenen, nicht immer befriedigenden Forschungsstand knapp zusammenzufassen und mit den Erkenntnissen zu korrelieren, die wir zu anderen Untersuchungsbereichen gewonnen hatten.
Darüber hinaus hätte man sich an thematischen Weitungen gewiss noch vieles vorstellen können. Aber die Zeit war begrenzt, die Mittel waren begrenzt, obwohl wir über etwa vier Jahre unter sehr guten Arbeitsbedingungen arbeiten konnten. Dennoch, es gibt Möglichkeiten, die Forschungsagenda zu erweitern beziehungsweise fortzusetzen, und ich hoffe, dass unser Buch gerade in der Wissenschaft auch so gelesen und rezipiert wird.
ZOL: Ihr Buch ist eine komplexe Zusammenarbeit von vielen wissenschaftlichen Mitarbeitern, was uns als eine relativ ungewöhnliche Form für die geschichtswissenschaftliche Forschung erscheint. Standard ist vielmehr die Monographie des Einzelwissenschaftlers. War das für Sie eine neue Erfahrung? Würden Sie sagen, dass diese Arbeitsform eine sinnvolle Sache ist?
Conze: Es gab ja schon andere Historikerkommissionen, auch mit Blick auf den Nationalsozialismus, nicht zuletzt im Bereich der Unternehmensgeschichte. Aber vielleicht war – ohne die Arbeitsweise früherer Kommissionen genau zu kennen – die intensive Kooperation aller Beteiligten ein Spezifikum unserer Kommission, und zwar der Kommissionsmitglieder – fünf zunächst, dann vier – sowie der Mitarbeiter. Es war uns ausgesprochen wichtig, über die Jahre hinweg eine intensive Zusammenarbeit zu organisieren und von Marburg aus zu koordinieren – dort gab es eine Koordinationsstelle, die nicht nur administriert hat. Es gab einen sehr intensiven Austausch im Verlauf der Forschung, der nicht nur über E-Mail stattfand, sondern über regelmäßige Treffen der Kommission und der Mitarbeiter, die von Anfang an in diese Austausch- und Kommunikationsstrukturen eingebunden waren. Dass am Ende dieses Buch herausgekommen ist, verdankt sich der Tatsache, dass hier eine Kommission mit einem großen Team an Mitarbeitern über einige Jahre hinweg arbeiten konnte. Die Texte sind über die Jahre hinweg in intensiver Teamarbeit entstanden – jedes Kommissionsmitglied arbeitete in einem kleinen Forscherteam – und dann von der Kommission kollektiv überarbeitet worden. Kommissionsmitglieder und wissenschaftliche Mitarbeiter sind gemeinsam die Autoren des Buches, das in dieser Form von einem einzelnen Wissenschaftler nicht zu schreiben gewesen wäre. Das hätte die Kräfte eines Einzelnen bei weitem überstiegen. Allein die Tatsache, dass über 30 Archive national und international konsultiert worden sind, zeigt, wie aufwändig hier geforscht wurde.
Wir haben für die Forschungsgeschichte wichtige monographische Studien spätestens seit den siebziger Jahren vorliegen, angefangen mit Christopher Browning über die Studien von Hans-Jürgen Döscher bis hin zu dem jüngst erschienenen Band von Sebastian Weitkamp. Aber das sind monographische Studien, die unter den Bedingungen der wissenschaftlichen Arbeit eines einzelnen Historikers entstanden sind und die Ausschnitte der Gesamtthematik beleuchtet haben. Ein einzelner Wissenschaftler hätte jedoch diese flächendeckende Forschungs- und Syntheseleistung schon vom Arbeitsaufwand her nicht bewältigen können.
Weinke: Das zeigt sich auch darin, dass sich die Arbeit in zwei verschiedene Phasen unterteilte. In der Phase der Vorrecherche ging es im Grunde nur darum, verschiedene Archive aufzusuchen, das Material zu sichten und zu registrieren. Wir haben mit entsprechenden Datenbanken gearbeitet, so dass jeder von uns einen Überblick darüber hatte, was in den verschiedenen Archiven zu finden ist. Das war der Grundstock der Arbeit. Erst danach konnte man daran gehen, sich Gedanken zu machen über die Konzeption des Buches. Das ist nur im Teamwork zu leisten.
ZOL: Das wichtigste Archiv war für Sie das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Einzelne Historiker haben sich bisher in sehr unterschiedlicher Art und Weise über die Arbeitsmöglichkeiten in diesem Archiv geäußert. Man liest etwa, dass dort nie forschungsfeindliche Tendenzen bemerkbar gewesen seien. Eine andere Position behauptet, dass die Behinderung der Forschung durch das Archiv lediglich zu Bonner Zeiten der Fall gewesen sei. Und es gibt die Aussage in Ihrem Buch, dass es Probleme gab, die jedoch ausgeräumt werden konnten, dass Sie trotz allem jedoch nicht sicher sein können, alles Relevante gesehen zu haben. Was ist los im Politischen Archiv?
Weinke: Nach der Lektüre der Kritiken habe ich den Eindruck, dass hier verschiedene Erfahrungen aufeinander treffen. Übereinstimmend sind viele Wissenschaftler der Meinung, dass die Bonner Zeiten relativ harte Zeiten für die Forschung waren. So soll etwa ein schroffer Umgang mit den Benutzern geherrscht haben. Dazu kann ich nichts sagen, weil ich persönlich niemals in Bonn war. Nach dem Umzug nach Berlin sollen sich die Nutzungsbedingungen deutlich verbessert haben und deutlich mehr Service geboten worden sein. Ich denke, man muss bei der von mir bearbeiteten Thematik (der justiziellen Aufarbeitung, vor allem des Wilhelmstraßenprozesses 1947-1949, Anm. ZOL) berücksichtigen, dass es sich um ein sehr sperriges Thema handelt. Hinzu kommt die Tatsache, dass es sich bei dieser Materie um einen Teil bundesdeutscher Konfliktgeschichte handelt, was sich in der Bearbeitung der Akten widerspiegelt. Das heißt, es ist kein Thema, das unbedingt in den Findhilfsmitteln präsent ist. Man kommt der Sache nur nahe, indem man sucht und fragt. Dabei bekommt man nicht immer befriedigende Antworten. Nach und nach hat sich herausgestellt , dass in den 1950er und 1960er Jahren eine Reihe von Ablagen – zum Teil geheime Ablagen – angelegt wurden und diese nicht in den Findhilfsmitteln verzeichnet sind. Das war ein Problem, das nur durch beharrliches Suchen in den Beständen, die für die Fragestellungen relevant waren, zu lösen war. Zudem herrschte innerhalb des Archivs eine gewisse Skepsis gegenüber diesem Auftrag. Diese Skepsis hat sich zumindest in der Anfangsphase bemerkbar gemacht und wich dann aber nachher …
Conze: … ja, vor allem in der Anfangsphase, das ist wichtig. Das hat vermutlich damit zu tun, dass 2005 die Spitze des Auswärtigen Amtes klar betonte, dass das Politische Archiv nicht an dieser Untersuchung beteiligt sein sollte und dass eine externe, eine unabhängige Historikerkommission beauftragt werden würde. Das wurde möglicherweise als Ausdruck des Misstrauens innerhalb des Hauses gewertet und trug vielleicht dazu bei, dass man unserer Kommission in ihrer Startphase mit einem gewissen Maß an Skepsis begegnete. Aber im Laufe der Zeit sind wir durchaus zu einer vernünftigen sachlichen Kooperation gekommen. Ich würde vermutlich bei einer ähnlich gelagerten Aufgabe – und es gibt ja jetzt in verschiedenen institutionellen Kontexten vergleichbare Projekte – in der Frühphase noch stärker Wert darauf legen, sich wirklich Klarheit zu verschaffen über die vorhandenen Archivbestände, über die Findmittel, würde früh prüfen, wie umfassend diese sind und wie komplett sie das tatsächlich vorhandene Aktenmaterial widerspiegeln. Diese Fragen sollte man so früh wie möglich systematisch beantworten und sich dabei um ein Maximum an Information und Transparenz bemühen. Dafür ist das Zusammenwirken der beauftragten Historiker und des institutionellen Archivs entscheidend. Das Politische Archiv bleibt freilich auch deshalb ein Sonderfall, weil es eben nicht in das Bundesarchiv eingegliedert ist.
ZOL: Die Problematik von mangelhaft und subjektiv bearbeiteten Findmitteln und das Angewiesensein auf die Hilfe der Archivare ist für Historiker ein ganz grundsätzliches Problem der Archivarbeit, das sich in vielen Archiven anders äußert. Und auch das Bundesarchiv ist nicht immer das Maß aller Dinge. Ist es in Ihren Augen eine Lösung zu sagen, das Politische Archiv wird ins Bundesarchiv überführt und wird damit transparenter?
Conze: Man würde dadurch natürlich – und das ist sicherlich ein entscheidender Punkt – das Politische Archiv aus den amtsinternen Hierarchien herausnehmen. Zwar ist das heute vermutlich kein großes Problem mehr, aber in den Nachkriegsjahrzehnten war diese Überschneidung problematisch, nicht zuletzt geschichtspolitisch. Aber auch prinzipiell ist das Politische Archiv Diener zweier Herren: Es ist eingebunden in die Strukturen und Hierarchien des Auswärtigen Amtes und zugleich ist es der wissenschaftlichen Forschung verpflichtet. Daraus ergibt sich ein Spannungspotential. Das soll nun nicht die Zustände und Arbeitsbedingungen im Bundesarchiv glorifizieren oder in einem besonders schönen Licht darstellen, aber das Problem der gespaltenen Loyalität – einerseits eingebunden in institutionelle Strukturen des Ministeriums und andererseits die Verpflichtung des Archivars gegenüber den Interessen der Wissenschaft, der historischen Forschung – das ist, glaube ich, ein Problem, mit dem man sich auseinandersetzen muss.
ZOL: Die Studie hat ein erhebliches Echo ausgelöst. Was uns vor allem überrascht hat, ist die harte Kritik von Seiten der Kollegen. Horst Möller hat das Buch skandalös genannt, Hans Mommsen hat Ihnen zum Besuch eines historischen Proseminars geraten …
Weinke: … und von anderer Seite hieß es Geschichtspornographie …
ZOL: … das Stichwort wurde auch genannt. Waren Sie vom Ausmaß und der Schärfe der Kritik von Seiten der Historiker überrascht? War es Ihr Narrativ, was die ganze Debatte ausgelöst hat?
Conze: Sowohl die Breite als auch die Intensität der Debatte haben uns überrascht. Damit haben wir im Vorfeld der Veröffentlichung nicht gerechnet. Wir hatten sicher erwartet, dass unser Buch auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen und rezipiert werden würde. Überrascht hat dann natürlich, dass verschiedene Wortmeldungen aus dem wissenschaftlichen Kontext heraus, im Grunde genommen an dem Narrativ und an den Ergebnissen, an den Urteilen und Bewertungen selbst kaum Anstoß genommen haben. Stattdessen entwickelten sich eigene Anliegen der Kritik, die mit dem Thema des Buches gar nicht mehr so viel zu tun hatten. Da ging es dann um die Skandalisierung von historischen Darstellungen beziehungsweise historischen Themen. Aber das sind Kritikpunkte, die sich eher auf die Rezeption und die Wahrnehmung des Buches beziehen, und weniger auf die inhaltlichen Befunde und Bewertungen. Was diese betrifft, gibt es Ansätze einer Diskussion, die ich für wichtig halte, denn unser Buch versteht sich nicht – ich sage es einmal mehr, und das haben wir auch bei der Präsentation Ende Oktober sehr deutlich gemacht – als der Schlusspunkt einer Debatte. Im Gegenteil, das wäre doch dem Wesen von Wissenschaft, gerade auch von Geschichtswissenschaft, völlig fremd. „Das Amt“ ist eine Zwischenbilanz, und der Forschungsprozess geht weiter. Und dieser Forschungsprozess ist immer auch ein Prozess der kritischen Auseinandersetzung. Manche der vorgebrachten Argumente wird man in dieser kritischen Auseinandersetzung aufnehmen und weiterverfolgen, manche vielleicht auch in weiteren Arbeiten näher und präziser in den Blick nehmen. Das halte ich für einen ganz selbstverständlichen Vorgang. Aber es geht natürlich in diesen Debatten nicht nur um wissenschaftliche Überlegungen, sondern es geht auch um Geschichtsbilder und Geschichtspolitik. Wir befinden uns in einer pluralistischen Öffentlichkeit, in der gerade bei diesen zeithistorisch brisanten Themen auch politische Meinungen, politische Bewertungen, Fragen der Deutungshoheit und der Deutungsangebote mit in die Debatte einfließen. Das ist in dieser Debatte – ich würde das gar nicht negativ bewerten – an deren Ende wir ja noch gar nicht sind, sehr deutlich zu erkennen.
Weinke: Ich stehe noch sehr unter dem Eindruck dieser teilweise sehr heftigen Kontoverse. Insofern fällt es mir schwer, ein distanziertes Urteil abzugeben. Aber nach meinem Eindruck ist das breite Interesse, die große Aufmerksamkeit, die Tatsache, dass sich ein großer Kreis von Personen, also Publizisten, Politiker, Historiker, auch Betroffene zu Wort gemeldet haben, positiv zu vermerken. Das muss man vielleicht auch erwähnen: Es haben sich Leute zu Wort gemeldet, die direkt betroffen sind, zum Beispiel durch verweigerte Wiedergutmachungsleistungen. Auch die haben sich jetzt gemeldet, nachdem sie das jahrzehntelang hinnehmen mussten. Das finde ich sehr, sehr positiv. Was die Reaktion der Historiker betrifft, scheinen sie in zwei Lager auseinander zu fallen. Auf der einen Seite die übliche fachwissenschaftliche Kritik. Konstruktiv in der Regel, ich würde sagen überwiegend positiv. Die unterschiedlichen Interpretationsangebote werden da diskutiert, es werden Ergänzungsvorschläge, auch Korrekturvorschläge gemacht – das ist das normale wissenschaftliche Geschäft. Daneben gibt es eine andere Kritik, die deutlich aus dem Rahmen fällt und gerade deshalb von den Medien gerne aufgegriffen wird. Für mich ist bemerkenswert, dass die fachwissenschaftliche Reaktion zum Teil mit Argumenten operiert, die aus dem außerwissenschaftlichen Bereich kommen. Wenn man zum Beispiel die alte Kalte-Kriegs-Rhetorik wieder verwendet: „Es handelt sich eigentlich um eine Wiederauflage des Braunbuchs, ein 700-seitiges DDR-Pamphlet“. Das haben wir gehört. Ein anderer Einwand bezog sich auf die personelle Kontinuität nach 1945, die zwar nicht geleugnet wird, aber es wird gesagt: „Wir sehen darin kein historisches Problem“, dem sich die Forschung stellen sollte.
Conze: Diese Dialektik ist schon bemerkenswert: das Umkippen der Argumentation von „Das stimmt alles nicht“ zu „Haben wir doch schon lange gewusst“. Gewusst haben es demnach all jene, die die FAZ seit 1950/51 gelesen haben. Es ist eine symptomatische Entwicklung, über die wir hier reden, weil sie auch viel sagt über die gesellschaftlichen und sozialkulturellen Bedingungen des Aufstiegs und des Zusammenbruchs von Geschichtslegenden. In jedem Fall ist es interessant zu sehen, wie eine geschichtsbildbezogene Argumentation innerhalb kürzester Zeit gekippt ist.
ZOL: Sie sagen, dass es ein dialektisches Spiel war zwischen der großen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und der Berufsgruppe der Historiker. Auffallend ist die Hitzigkeit der Debatte, gemessen am Bekanntheitsgrad der Thesen. Zudem ist es bereits die zweite und dritte Generation, die sich an die Aufarbeitungsprozesse macht. Was ruft dennoch so viel Leidenschaft hervor? Gerade bei Kollegen, die ansonsten eher einen kühlen Kopf bewahren? Das deutsche Feuilleton ist sonst nicht gerade geprägt von historischen Debatten.
Conze: Nein, aber es ist eben diese breite und intensive Debatte im Umfeld der Publikation des Buches gewesen, die dafür gesorgt hat, dass innerhalb kurzer Zeit, ohne den Vorlauf, den solche Positionsnahmen sonst im wissenschaftlichen Kontext haben, Kollegen sich in diesen medialen Hype hinein geäußert haben. Das hat eine Eigendynamik entwickelt und zu dieser, wie Sie es nennen, Hitzigkeit der Debatte sicherlich beigetragen. Mediale Kurzpositionierungen sind ja in der Regel eher ungeeignet, ein wissenschaftliches Argument in aller Differenziertheit und Nüchternheit auszubreiten. Der Kontext, in dem sich diese Debatte seit Ende Oktober entwickelt hat, spielt aber für ihre Intensität und insbesondere für bestimmte Reaktionen aus dem Wissenschaftsbereich ganz fraglos eine große Rolle. Und wir reden ja nicht über irgendein Thema, wir reden über zentrale Fragen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit der Auseinandersetzung über das Auswärtige Amt und seine Geschichte befinden wir uns in zentralen geschichtsbezogenen Selbstverständigungsdebatten der deutschen Gesellschaft im beginnenden 21. Jahrhundert. Das alles, diese unterschiedlichen Ebenen kommen zusammen und erklären die Intensität der Debatte. Und es ging um zentrale Strukturfragen der Geschichte des Nationalsozialismus. Es ging um die Fragen institutioneller Verantwortung, institutioneller Kooperation und Beteiligung an den NS-Verbrechen. Es ging um Fragen wie die Entschlussbildung zum Judenmord. Das sind keine Seitenthemen. Das sind Themen, an denen sich Historiker über Generationen hinweg abgearbeitet haben mit Thesen und Antithesen, Deutungen und Gegendeutungen. Auch vor diesem historiographischen Hintergrund – wenn sie beispielsweise an Hans Mommsen und seine Thesenbildung denken – ist unser Buch rezipiert und dann bewertet und kritisiert worden.
Weinke: Man muss hinzufügen, dass die Sichtweisen innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik sich teilweise diametral gegenüberstehen. In der bundesdeutschen Debatte ist teilweise zu hören, dass diese Darstellung der Nachkriegsgeschichte einen Schatten auf die bundesdeutsche Außenpolitik werfe. Dass die Verdienste der bundesdeutschen Außenpolitik in diesem Buch nicht nur ignoriert, sondern diskreditiert würden. Während das Buch im Ausland ganz anders wahrgenommen wird. Da wird „Das Amt“ als Teil der bundesdeutschen Selbstverständigungsdiskurse aufgefasst, die dazu beigetragen haben, dass sich die Bundesrepublik im Laufe der Jahrzehnte von dieser Vergangenheit glaubwürdig gelöst hat und zu einem angesehenen Mitglied der internationalen Gemeinschaft geworden ist. Da prallen ganz unterschiedliche Wahrnehmungen aufeinander. Das wird sich nicht ohne weiteres auflösen lassen.
ZOL: Würden Sie für den deutschen Kontext Joschka Fischer zustimmen, der bei der Vorstellung des Buches sagte, dass es sich bei der Debatte um „Das Amt“ um eine politische Diskussion und nicht um eine historische oder historiographische handle? Bringt die unmittelbare politische Dimension diese Emotionalität in die Debatte hinein?
Conze: Es ist auch eine politische Diskussion. Das ist bei diesen Themen überhaupt nicht zu vermeiden und das ist auch nicht negativ zu bewerten. Eine politische Diskussion, die sich verbunden hat, vermischt hat – aber auch das ist nicht negativ zu bewerten – mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Das ist in einem gemeinsamen medialen Umfeld gar nicht anders zu denken. Aber natürlich muss man dann – dafür ist es im Grunde jetzt noch zu früh – zu Zwecken der retrospektiven Analyse sorgfältig die politische Auseinandersetzung trennen von den wissenschaftlichen Argumenten, die eine Forschungsdiskussion fortsetzen und die in einen bestimmten Wissenschaftskontext gehören. Gerade die Zeitgeschichte ist immer auch eine politische Geschichte. Zeithistorische Debatten sind immer politische Debatten, die auch aus der jeweiligen Gegenwart und ihren Wahrnehmungen heraus ihr politisches Element beziehen. Dies gehört zum Wesen von Zeitgeschichte und das gilt in ganz besonderem Maße für die Bundesrepublik und ihre Auseinandersetzungen mit der Geschichte und den Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Das ist eine ganz wesentliche Arena der politischen Kultur dieses Landes und seiner Gesellschaft. Insofern kann man politische und wissenschaftliche Diskussionen nicht scharf trennen, und man kann auch einem wissenschaftlichen Argument nicht dadurch begegnen, dass man sagt, dass es ein politisches Argument sei. Das funktioniert in diesen Zusammenhängen nicht so einfach, und das muss man akzeptieren. Man muss es aber gleichzeitig zur Grundlage der Reflexion über die Debatte um „Das Amt“ und ihre Entwicklung seit Ende Oktober 2010 machen.
ZOL: Spannend an Ihrem Buch ist die Darstellung der Kontinuitätslinien innerhalb der Institution, die Betrachtung der Zeit nach 1945. Ein Kommentator der FAZ, Nils Minkmar, hat dies hervorgehoben, indem er meinte: interessant sei, dass „es“ nicht zu Ende ist. Ist die Diskussion vielleicht deshalb so heftig, weil an einem lebenden Objekt gearbeitet wird, weil diese Institution existiert – wenn auch in einem anderem System und mit anderem Personal?
Conze: Das ist eine Frage, die, wenn ich das recht sehe, das Auswärtige Amt selbst sehr stark beschäftigt. Bis heute greift das Amt ja in seiner eigenen Traditionsbildung zurück ins Jahr 1871. Wenn man das tut – und es gibt nach wie vor starke Stimmen, die sich dafür aussprechen –, dann muss man natürlich auch die Jahre zwischen 1933 und 1945 in diese Traditionsbildung inkorporieren. Und da gibt es, wenn ich das richtig interpretiere, ein auch durch unsere Studie angestoßenes neues Problembewusstsein gegenüber der Traditionspflege innerhalb des Auswärtigen Amtes. Dazu gehören zudem die wichtigen Fragen nach den Bedingungen des Handelns von Eliten und deren politischer und gesellschaftlicher Verantwortung. Das sind Fragen, die unser Buch in historischer Perspektive beleuchtet, die aber eben nicht nur eine historische Dimension haben.
Weinke: Das würde ich insofern bestätigen, als in der Diskussion mit Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes anlässlich der Buchvorstellung deutlich zum Ausdruck kam, dass die Demokratisierung der Behördenstrukturen dort ein großes Thema ist. Und dass man sich von dem Buch versprach, dass es eine interne Diskussion über die Organisationskultur dieser Behörde in Gang setzen würde. Diese Auffassung wird vor allem von den jüngeren Mitarbeitern vertreten, während die Älteren beziehungsweise jene, die schon ausgeschieden sind, ganz andere Themen im Auge hatten. Ich denke, dass wir es hier mit einem lebenden Organismus zu tun haben, der sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt. Das könnte ein Erklärungsmoment sein.
ZOL: Frau Weinke, Sie haben mit Norbert Frei in einem Artikel geschrieben, dass es einsam um die „Mumien“, die Ehemaligen des Auswärtigen Amts, werde. Wir haben uns gefragt, inwiefern dies zutrifft. Denn die Debattenstruktur, die sehr polarisierend ist, hat bewirkt, dass namhafte Unterstützer hinzugekommen sind, auch war die Anzahl der Leserbriefe aus dem Umfeld der „Mumien“ erheblich. Inwiefern wird es wirklich einsam um die „Mumien“, oder gab es nicht vielmehr einen Schub in der Aufmerksamkeit für sie?
Weinke: Das eine schließt das andere nicht aus. Unser Essay ist vier, fünf Wochen nach der Buchpräsentation entstanden, da hatte die dann von und hauptsächlich in der FAZ genährte Leserbriefdebatte noch kaum eingesetzt. Ich glaube, dass das Buch einen neuen Zusammenhalt ausgelöst und eine neue Form des Zusammenhalts befördert hat. Es hat sicherlich dazu beigetragen, dass man sich noch enger um einander schart und sich austauscht. Die Wortmeldungen, die in den letzten Monaten und Wochen zu vernehmen waren, wären wahrscheinlich in dieser Form nicht möglich gewesen, wenn die FAZ dem nicht ein Forum geboten hätte. Ich denke, dass die FAZ in einer Weise über das Buch berichtet hat, die an Formen des Kampagnenjournalismus erinnert. Diese Form kann nur funktionieren, wenn ein ganzes Bataillon von Zeitzeugen aufgeboten wird, die mit diversen Details immer wieder ihre Bedenken und Monita erneuern. Ich denke, dass ein Großteil dieser Leserbriefe, die eingegangen sind, auf diese verstärkte Vernetzung der „Mumien“ zurückgeht. Aber letztlich handelt es sich um eine Insidergruppe, die sich vermutlich auch Illusionen macht hinsichtlich des Interesses, das sie bei den vielen findet, die das Buch gelesen haben.
Conze: Amtsintern ist meiner Einschätzung nach eher das Gegenteil der Fall. Es gibt eine in der Hierarchie sehr weit oben angesiedelte Kommission, die geleitet wird von Staatssekretär Peter Ammon. Diese Kommission nimmt systematisch – wenn ich das recht sehe – den ganzen Bereich der Traditionsbildung und Traditionspflege des Auswärtigen Amts vor dem Hintergrund unseres Buches unter die Lupe. Angefangen von den berühmten Ahnengalerien in Berlin und in den Auslandsvertretungen über die Selbstdarstellungen des Amts und seiner Geschichte, die es in vielen Fällen heruntergebrochen auf einzelne Vertretungen gibt, bis hin zu der Frage, welche Rolle die Geschichte des Auswärtigen Amts generell in der Diplomatenausbildung spielen soll. Es ist somit im Auswärtigen Amt selbst, unter den aktiven Diplomaten, Einiges in Gang gekommen. Das ist ein wichtiger und vermutlich auch irreversibler Prozess. Es führt kein Weg zurück hinter die Ergebnisse unserer Forschungen.
ZOL: Haben Sie für die Studien, die jetzt angestoßen werden, etwa im Wirtschaftsministerium, im Finanzministerium, oder auch dem Bundeskriminalamt Empfehlungen für die Forschung …
Weinke: Herr Conze hat bereits ausgeführt, dass es wichtig ist, im Vorfeld der Projektarbeit einige Fragen zu klären: Wie sind die Konditionen? Mit welchen Arbeitsbedingungen haben wir zu rechnen? Wie ist die Herausgabe des Materials organisiert? Welche Hilfsmittel stehen uns zur Verfügung? Ich denke, dass das Dinge sind, die vor der eigentlichen Arbeit am Material dringend geklärt werden sollten. Das betrifft natürlich auch die Form der Publikation, die sehr zentral ist. Letzte Woche war die Rede von der Studie zum Bundesagrarministerium, die bereits seit Jahren in der Schublade schlummert und deren zweiten Teil wir wohl nie sehen werden. Das kann nicht Sinn der Sache sein, dass man einen Historiker beauftragt, die Ehrwürdigkeit einzelner Mitarbeiter zu attestieren, wobei die Öffentlichkeit völlig außen vor bleibt.
Conze: Die Frage nach der sogenannten Ehrwürdigkeit ist völlig ahistorisch und darf einer seriösen historischen Aufarbeitung nicht als Forschungsfrage zu Grunde liegen. Man kann über institutionengeschichtliche Perspektiven sprechen, man kann über die Beteiligung einer Institution oder ihrer Angehörigen an den Verbrechen des Nationalsozialismus sprechen, man kann über den Umgang mit dieser Vergangenheit nach 1945 reden. Aber die Frage nach Ehrwürdigkeit oder Nichtehrwürdigkeit ist keine Frage, die an eine solche Historikerkommission zu stellen wäre. Das sind dann amtsinterne Folgemaßnahmen in der Nachrufpraxis oder wie auch immer. Es ist nicht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Handlungsempfehlungen zu geben. Wir können als Historiker mit unseren Maßstäben, unseren Kompetenzen und unserer professionellen Ausstattung eine solche Institutionengeschichte unter bestimmten Fragestellungen schreiben. Das können wir und das sollten wir auch weiterhin tun, wenn wir aufgefordert oder gefragt werden. Wobei ich es für wichtig halte, die Unabhängigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens von Anfang an garantiert zu bekommen. Wir haben da sehr gute Erfahrungen gemacht in der Kooperation mit dem Auswärtigen Amt, auch in der Ausgestaltung unseres Kooperationsvertrages aus dem Jahr 2006. Es gab einen – natürlich uns vorgegebenen – Auftrag, der uns aber – ich habe das schon gesagt – in unseren eigenen Fragestellungen nicht eingeengt hat. Er hat natürlich einen gewissen Rahmen vorgegeben. Aber wir waren völlig frei, unser Forschungsprogramm zu entwickeln, und es gab keine ministerielle Instanz, die in irgendeiner Form dieses Programm bewertet hat. Das kann ich nur allen anderen Kollegen oder Kommissionen empfehlen, die sich in Zukunft in diesen Zusammenhängen bewegen – auf diese Unabhängigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens, und zwar von der Organisation der Arbeit bis hin zur Präsentation der Ergebnisse, Wert zu legen und sich diese Unabhängigkeit auch zusichern zu lassen.
ZOL: Wie stehen Sie zu den Befürchtungen, die unter anderem Hans Mommsen geäußert hat, dass sich Auftragsarbeiten dieser Art in die Richtung staatlich dirigierter Geschichtswissenschaft bewegen? Sehen Sie im momentanen Aufarbeitungsboom generell auch problematische Aspekte nicht nur hinsichtlich der Unabhängigkeit der Forschung? Werden Historiker oder Kommissionen zu Schachfiguren, die zunehmend politisch instrumentalisiert werden?
Conze: Solche Versuche von politischer Seite mag es immer wieder geben. Das wird man nicht ausschließen können, wenn man sich in diesem Kontext bewegt. Gerade deswegen ist es umso wichtiger, solche Kooperationen und Auftragsforschungsarbeit unter Bedingungen wissenschaftlicher Unabhängigkeit durchzuführen. Zudem muss dafür Sorge getragen werden, dass diese Unabhängigkeit gewährleistet ist und es keine politischen Eingriffsrechte und Kontrollrechte jenseits der Bereiche der Finanzen und der Budgetverausgabung gibt. Da sollte man sich, das haben wir getan, an den Standards und Vorgaben der DFG und damit der öffentlichen Drittmittelfinanzierung orientieren. Jenseits dessen ist es zentral, dass sich Wissenschaft nur sich selbst und ihren Frageinteressen verpflichtet fühlt und dass keine Mechanismen der Kontrolle, der Steuerung oder auch der Abhängigkeit eingebaut werden.
ZOL: Historiker sind keine Fußballstars und historische Debatten sind nicht die Regel. Normalerweise arbeiten Historiker in aller Stille in Archiven oder Kollegs und die Debatten spielen sich innerhalb der Profession ab. Was passiert aber, wenn man den Debatten um die eigene Forschungsarbeit bei der täglichen Zeitungslektüre begegnet, man wieder und wieder zitiert wird oder auf einen Begriff festgenagelt wird? Wie verkraftet man das?
Weinke: Herr Conze ist davon mehr betroffen als ich. Ich muss sagen, dass ich sehr, ich will nicht sagen abgeklärt bin, aber es berührt mich nicht persönlich. Ich glaube, das hat etwas mit meiner Forschungsthematik zu tun. Ich habe mich sehr intensiv mit den Aufarbeitungsprozessen beschäftigt. Vor allen Dingen mit einzelnen Protagonisten, die sich in den 1950er und 1960er Jahren mit dieser Thematik befasst haben und sich oft als Einzelkämpfer mit dem damaligen Establishment auseinandergesetzt haben. Damals wurde ja in einer Weise gefochten, die existentiell war. Ich will nur an Reinhard Strecker erinnern, der hier in Berlin tätig war und die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ organisiert hat. Das war ein ganz anderes Kaliber. Da sind Leute sehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Vor diesem Hintergrund betrachte ich die heutige Diskussion. Das was wir heute erleben, sind in gewisser Weise Nachhutgefechte. Da wird zwar immer noch mit harten Bandagen gekämpft und es geht sicherlich nicht an jedem spurlos vorüber. Aber ich finde, dass die Arbeit an diesem Buch in Erinnerung ruft, dass Forschungen zu diesen Themen mit harten konfliktreichen Kämpfen verbunden waren und es über Jahre hinweg Auseinandersetzungen darüber gegeben hat. Wir stehen in dieser Reihe.
Conze: Hinter uns liegen anstrengende Monate und durchaus auch Momente des Erschreckens oder der Enttäuschung – und ich rede nicht nur von den rechtsradikalen Hass-Mails, die ich bekommen habe. Aber was meine Wahrnehmung bis heute bestimmt, ist die Tatsache, dass wir als Historiker offensichtlich mit diesem Buch eine wichtige, öffentliche Debatte angestoßen haben. Es ist wichtig, dass unser Fach in dieser Form öffentlich wahrgenommen worden ist und dass Fachhistoriker diese Art von medialer Aufmerksamkeit bekommen haben. Wir Fachhistoriker müssen uns nicht auf die Rolle von Wissensproduzenten beschränken, die die Vermittlung dieses Wissens dann Anderen überlassen. Auch deshalb werde ich mich an der Debatte, die dieses Buch ausgelöst hat und die vielleicht ihre Gestalt verändert, die aber nicht heute oder morgen enden wird, weiter beteiligen. Ich halte dies für wichtig, und zwar politisch und wissenschaftlich für wichtig.
ZOL: Herr Conze, Frau Weinke, wir bedanken uns für das Gespräch.