In der Nacht wurde eine möglicherweise ukrainische Drohne über dem Kreml abgeschossen. Schon vor wenigen Tagen gab es den Versuch, Wladimir Putin in Moskau mit einer sprengstoffbeladenen Kamikaze-Drohne zu töten. Ist das wirklich denkbar, dass die Ukrainer Putin mittels Drohne erwischen?
Wir diskutieren schon seit Jahren darüber, dass Drohnen für Anschläge auf Einzelpersonen eingesetzt werden können. In Venezuela gab es im August 2018 einen Anschlagsversuch mit einer Drohne auf den Präsidenten. Die Idee ist also nicht neu. In Zukunft werden wir das aber wohl mehr sehen. Ich bin fast etwas erstaunt, dass es solche Angriffe nicht schon häufiger gegeben hat. In dem speziellen Fall zu Wladimir Putin kann ich nicht viel mehr sagen. Es ist unklar, ob es tatsächlich ein Anschlagsversuch auf ihn war, von wem er kam, und mit welchem System. Aber grundsätzlich sind solche Anschläge denkbar.
Welche Art von Drohne kann Moskau überhaupt erreichen?
Das kommt natürlich darauf an, von wo sie losfliegen. Die Ukraine hat eine ganze Reihe von Drohnen im Einsatz. Die meisten davon können nicht Tausende Kilometer weit fliegen. Hobbydrohnen können das in der Regel nicht, militärische Drohnen teilweise schon eher. Ganz grob lässt sich sagen: Je grösser die Drohne, desto weiter die Reichweite. Die Ukraine hat mehrfach in der Vergangenheit Drohnen eingesetzt, um auf russisches und russisch besetztes Territorium zu fliegen. Im Dezember gab es Anschläge auf zwei russische Flugfelder. Da wurden alte Sowjetdrohnen eingesetzt - ein altes System, das die Ukrainer eigentlich schon aussortiert und dann aber wieder in Betrieb gesetzt haben.
Was für Drohnen hat die Ukraine im Einsatz?
Wir haben letztendlich eine unglaubliche Bandbreite im Einsatz. Wir haben Systeme, die wurden jetzt erst entwickelt, spezifisch für diesen Krieg in der Ukraine, sowohl im Westen als auch in der Ukraine selbst. Und wir sehen Systeme, die schon seit Jahrzehnten fliegen, teilweise bereits eingemottet waren. Manche können nur ein paar Kilometer weit fliegen und gucken. Die kleinsten sind 11 Centimeter klein und heben aus der Hand ab. Die grössten haben eine Spannweite von mehr als 10 Metern, sind bewaffnet und Hunderte von Kilometern unterwegs.
Woher haben die Ukrainer ihre Fluggeräte?
Die Ukraine hat eine sehr starke Drohnenindustrie aufgebaut. Das geht von kleineren zu grossen Systemen, von Festflügelkörpern zu Rotorensystemen. Aber sie verfügen auch über die Bayraktar-Drohnen aus der Türkei, aus dem Westen gelieferte Systeme, und über viele kommerzielle Drohnen aus China. Es ist beeindruckend zu sehen, wie viele zivile Drohnen-Systeme inzwischen in er Ukraine im Einsatz sind. Drohnen zum Beispiel, die für die Landwirtschaft entwickelt worden sind und dann für militärische Zwecke umgerüstet wurden.
Man schraubt da einfach Raketen dran?
Ja, quasi. Raketen, oder Sprengstoff, oder auch Kameras. Welche Nutzlast man eben braucht. Andere zivile Systeme werden einfach eingesetzt, wie sie sind, da geht es vor allem um Systeme, die Kameras tragen, die dann für die militärische Aufklärung eingesetzt werden.
Welche Aufgaben haben Drohnen im Ukraine-Krieg insgesamt?
Es gibt drei Haupteinsatzarten: Die erste ist Aufklärung, die zweite ist Propaganda und die dritte sind eben Angriffe, und zwar Angriffe sowohl von den Drohnen selber als auch Angriffe, die mittels Drohnen koordiniert werden. Am besten funktionieren Drohnen wie alle anderen Waffen auch: Im Verbund mit anderen Systemen. Speziell die russische Seite setzt ihre Drohnen auch dazu ein, um die Zivilgesellschaft in der Ukraine zu terrorisieren und gezielt Infrastruktur anzugreifen, das macht die ukrainische Seite nicht.
Was meinen Sie mit Propaganda?
Letztlich geht es darum, dass man Videos von erfolgreichen Einsätzen aufnimmt und über die sozialen Medien verteilt. Besonders die Ukrainer haben unzählige solcher Videos verbreitet. Etwa von Angriffen auf russische Stellungen. Ein berühmtes Drohnen-Video zeigt, wie eine ukrainische Granate in die Öffnung eines russischen Panzers fällt. Man zeigt aber auch die Zerstörung, die die Russen in Städten wie Mariupol angerichtet haben.
Welche Rolle werden Drohnen bei der kommenden Frühlingsoffensive spielen?
Ich erwarte keine komplett neuen Einsatzarten. Aufklärung wird weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Auch Kamikaze-Drohnen werden weiterhin eingesetzt. Propaganda bleibt ebenso ein wichtiger Punkt. Wir haben aber auch schon eher aussergewöhnliche Nutzungen gesehen - etwa, dass Drohnen eingesetzt werden, um russische Soldaten zum Desertieren aufzufordern. Da wird dann ein Lautsprecher unter die Drohne gehängt.
Was erwarten sie von dieser Offensive der Ukrainer?
Die Erwartungen sind hoch. Man hat das Gefühl, es ist ein «make or break event». Die Sorge der Ukraine ist, dass man die Unterstützung aus dem Westen verlieren könnte, wenn die Offensive nicht die gewünschten Erfolge bringt. Wenn sie es aber schaffen, schnell Erfolge zu verzeichnen, können sie das Momentum auf ihre Seite ziehen, militärisch wie politisch. Die Ukrainer sind gut ausgebildet und ausgerüstet, sie können ihre Territorien zurückerobern, das ist das grosse Ziel. Die Ukrainer werden also alles geben, was sie haben. (aargauerzeitung.ch)