Interview

�Das falsche Versprechen vom Aufstieg�: 'Es geht hier nicht mehr um Leistung, es geht um Privilegien'

von

Dirk Schneider und Ariane Riecker zeigen in einer neuen Dokumentation auf, dass der Aufstieg gar nicht so einfach ist. In Deutschland dauert es sechs Generation um aus der Armut zu entfliehen.

Was war Ihre pers�nliche Motivation f�r diese Dokumentation �You can win if you want? Das falsche Versprechen vom Aufstieg�, gerade zu dieser Zeit?
Ich komme vom Thema Bildungsgerechtigkeit. Schon aus beruflicher (Dokus zum Thema) und aus pers�nlicher Erfahrung: Die �Castings� unserer Familie f�r die Kinder an diversen Schulen ist noch in lebhafter Erinnerung. Dazu passt, dass der Bildungssoziologe Professor Marcel Helbig herausgefunden hat: In Ostdeutschland besuchen 30 % aller Akademikerkinder inzwischen eine Privatschule � klar, das sind nicht unbedingt die megateuren Privatschulen, sondern bspw. kirchliche Tr�ger, aber auch da gehen die Kosten pro Jahr in schnell in die Tausende Euro. Warum machen die Eltern das? Weil der Zustand des staatlichen Schulsystems fl�chendeckend nicht mehr funktioniert, und weil aber nat�rlich Eltern garantieren wollen, dass ihre Kinder Chancen f�r die Zukunft haben. Kurzum: Provokant gesagt - Du musst bezahlen, wenn Du junge und motivierte Lehrer f�r Deine Kinder haben willst � die mlgw. sogar wissen, wie eine APP programmiert wird. Daher ist gemeinsam mit dem Sender die Frage entstanden: Wie eigentlich steht es mit den Aufstiegschancen in Deutschland heute? Oder, wie Angela Merkel einst sinngem�� formulierte: Wer nicht an der Bildungsrepublik Deutschland baut, der riskiert das Vertrauen in das System, in die soziale Marktwirtschaft. Wie weit wir damit gekommen sind, l�sst sich ja jeden Tag beobachten.

Welche Erkenntnisse haben mich besonders �berrascht?
In Deutschland braucht es nach einer OECD-Studie 6 Generationen f�r den Aufstieg von der Armut in die Mittelschicht, in D�nemark zu nur 2. Ein Detail: Ein fr�hes Durchl�ssigkeitshindernis ist die Selektion der deutschen Gesellschaft im Alter von 10 � beim �bergang von der Grundschule zum Gymnasium, de facto wird die Gesellschaft geteilt. Wir haben mit diesem System: schlechtere Leistungen im Durchschnitt als L�nder, die das l�ngere gemeinsame Lernen pflegen, das Land verschwendet unglaubliche viele Talente, sozial Benachteiligte haben es schwerer bei den Lehrern � alles belegt. Was mich �berraschte: US-Bildungsexperten versuchten gemeinsam mit preu�ischen Bildungsreformern bereits nach dem 2. Weltkrieg, in den amerikanischen Besatzungszonen das l�ngere gemeinsame Lernen durchzusetzen � mehr Gemeinsamkeit, weg vom Klassensystem, weil sie f�hlten, dass Deutschlands hierarchisches Gesellschaftssystem nicht ganz schuldlos am F�hrerkult der Deutschen war � das scheiterte an den konservativen Bildungseliten, sp�ter am Kalten Krieg.

Warum ist das Aufstiegsversprechen so br�chig?
Welches Kind hat welche Chancen? Soziales, kulturelles, finanzielles Kapital entscheidet dar�ber, was aus uns wird. Pr�gung, Elternhaus, Wohnort. Damit Schulwahl, Lehrer, Freunde, Peergroups. Da kommt eine lange Checkliste zusammen. Mit unseren Protagonisten verfolgen wir das � und Du siehst, wie hoch talentierte Menschen am Ende nur noch fighten k�nnen und letztlich zu nichts kommen; wenn man Ende der Studienkredit der staatlichen KfW zur Schuldenfalle wird, wie bei zwei unserer Protas; wenn am Ende die Wahl bleibt zwischen 300 EUR f�r die Tilgung oder 300 EUR f�r die Altersvorsorge, weil beides nicht geht. Ganz abgesehen vom Eigentumserwerb. Die Sozialwissenschaftlerin Martyna Linartas sagt im Film: �Erbst Du schon oder arbeitest Du noch?�. Es geht hier nicht mehr um Leistung, es geht um Privilegien. Marlen Hobrack sagt es so: �Ich subventioniere mit 9 Prozent Zinsen f�r meinen Studienkredit die Niedrigzinsen f�r �kologischen H�usle-Umbau des verm�genden Hausbesitzers.�

Wir haben wir die Protagonisten ausgew�hlt?
Wir sind letztlich durch lange, intensive Recherchen auf eine Gruppe von Menschen gesto�en, die ganz unterschiedliche Lebensgeschichten haben: Natalya, die, hoch talentiert, am �System� fast gescheitert w�re, Marlen, die heute sehr stark �ber die R�ckkehr der Klassengesellschaft nachdenkt, Cawa, der 1990 aus Afghanistan kam, zum Manager wurde, J�rg, der mit Anfang 40 immer noch um seine Chance k�mpft, Scott Wempe, der im wahrsten Sinne aufgrund des Erbes seiner Familie alle Chancen hatte; seine Beschreibung der M�glichkeiten des englischen Elite-Colleges sprechen f�r sich � und Stephanie zu Guttenberg, die die soziale Spaltung im Bildungssystem f�r untragbar h�lt. Ganz verschiedene Ecken, Herk�nfte, Pr�gungen ...

Wie haben diese Perspektiven das Narrativ gepr�gt?
Ganz einfach: Es ging darum zu zeigen, was m�glich ist - und was unm�glich.

Wie kann das Bildungssystem reformiert werden?
Joe Kaeser, Ex-Siemens-Chef, meinte letzten Sommer, eine Karriere wie die seine, als Arbeiterkind von ganz unten zu kommen und nach ganz oben zu gelangen, sei heute nicht mehr m�glich. Sozialwissenschaftler Michael Hartmann best�tigt das im Film.
Kaeser pl�diert an anderer Stelle f�r nicht weniger als eine Art Staatsreform, und das braucht es auch - allein der F�deralismus im Bildungssystem ist ja nach Meinung aller Experten extrem hinderlich. Es braucht hier viel mehr als ein Startchancenprogramm (letzte Bundesregierung) �von oben� � besser w�re es, auf beispielsweise den B�rgerrat Bildung der privaten Montag-Stiftung zu h�ren: Die haben alles besprochen, was macht man braucht: L�ngeres gemeinsames Lernen, nat�rlich mehr und besser ausgebildete Lehrer, mehr Berufsorientierung, ganz andere Lehrpl�ne. Sprich: Mehr Demokratie wagen: das ist die Chance der Stunde; alles andere f�hrt wohl in etwas wie den Trumpismus.

Ob Deutschland seine Demokratie verspielt?
Klar. Schon heute w�hlen die unterprivilegierten Schichten viel seltener als die Gut-Situierten � oder sie w�hlen neue, andere politische Parteien. Das alte Parteiensystem ist ja, wie wir das in Ostdeutschland sehen, ohnehin kaputt. Studien sagen, dass jedes Prozent Einsparung staatlicher Investitionen zu 3 Prozent mehr W�hlerpotential radikaler Parteien f�hren. Schlechte Schulen, schlechtes Umfeld, Demografie etc. pp. Man kann das ja alles beobachten. Es br�uchte � siehe B�rgerr�te � ganz andere Formen demokratischer Mitbestimmung, ein anderes Wir.. Nicht umsonst sind die Schweizer weitaus zufriedener mit ihrer Demokratie � die Volksabstimmung sind ja i. d. R. gut vorbereitete und einen sachlichen Diskurs erm�glichende Abw�gungen.

Publikumswirkung?
Ich hoffe, dass die Geschichte der Protagonisten �berzeugen � und die Erkenntnisse der Sozialwissenschaftler den einen oder anderen Gedanken anst��t. Es ist ja ein reiner O-Ton-Film, ohne Kommentar - insofern: Botschaften haben nicht wir, sondern unsere Protagonisten. Und die vermitteln sie im Film � hoffentlich verst�ndlich und nachvollziehbar.

Vielen Dank f�r Ihre Zeit!

Das MDR-Fernsehen zeigt den 90-min�tigen Film �You can win if you want? Das falsche Versprechen vom Aufstieg� von Dirk Schneider und Ariane Riecker am 22. Januar um 20.15 Uhr.

Kurz-URL: qmde.de/158163
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