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Neurezeption und juristische Dystopie: Eine Untersuchung des Romans «Corpus Delicti: Ein Prozess» von Juli Zeh

von Alexandra Juster (Autor:in)
Monographie 218 Seiten

Zusammenfassung

Zehs Corpus Delicti: Ein Prozess bietet, über brandaktuelle Fragestellungen hinaus, eine Fülle von interdisziplinären Querverbindungen zur mittelalterlichen Inquisition, zum deutschen Strafprozessrecht, zu den politischen Theorien von Hobbes, Schmitt und Rousseau sowie zu den philosophischen Ideen Nietzsches, der Aufklärung und den biopolitischen Reflexionen von Foucault und Agamben. Die vorliegende Arbeit bietet einen Einblick in diese stoffliche Dichte und liefert eine juristische Vertiefung zur literarischen Darstellung des Prozessgeschehens im Roman, der gleichzeitig eine Neuinterpretation vor dem aktuellen Hintergrund der Coronapandemie erfährt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagungen
  • Inhalt
  • 1. Einleitung
  • 2. Juli Zeh: Körper Und Coronakrise
  • 2.1. Gesundheit und Körperlichkeit
  • 2.2. Coronakrise
  • 3. Roman: Corpus Delicti: Ein Prozess
  • 3.1. Zum Inhalt des Romans
  • 4. Juristische Perspektive in Corpus Delicti
  • 4.1. Inquisition – Hexenprozess
  • 4.2. Der deutsche Strafprozess
  • 4.3. Rechtssystem und Strafprozess in Corpus Delicti
  • 4.4. Kausalität
  • 4.5. Beweiserhebung
  • 4.6. Fehlbarkeit der Norm und deren Anwendung
  • 4.7. Elemente des mittelalterlichen Hexenprozesses in Corpus Delicti
  • 5. Corpus Delicti: Interdisziplinäre Untersuchungen
  • 5.1. Die mittelalterliche Hexenverfolgung
  • 5.1.1. Heinrich Kramer
  • 5.1.2. Maria (Mia) Holl
  • 5.2. Politische Staatstheorien
  • 5.2.1. Hobbes’ Leviathan
  • 5.2.2. Carl Schmitts Staatstheorie
  • 5.2.3. Hobbes und Schmitt
  • 5.2.4. Rousseaus Der Gesellschaftsvertrag (Le contrat social)
  • 5.3. Philosophische Einschläge
  • 5.3.1. Aufklärung in Horkheimer, Adorno und Kant
  • 5.3.2. Nietzsche
  • 5.3.3. Biopolitik
  • 5.3.3.1. Michel Foucault und Corpus Delicti
  • 5.3.3.2. Giorgio Agamben und Corpus Delicti
  • 5.4. Gesundheitsrechtliche Einflüsse in Corpus Delicti
  • 6. Corpus Delicti Und Die Pandemie Sars-Cov-2
  • 6.1. Der (un)demokratische Kampf der Staaten gegen die Epidemie Covid-19
  • 6.1.1 Frankreich
  • 6.1.2 Spanien
  • 6.1.3 Deutschland
  • 7. Schlusswort
  • 8. Bibliografie

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1. Einleitung

Der dystopisch-utopische Roman Corpus Delicti, Ein Prozess (2009)1 der deutschen, zeitgenössischen Autorin Juli Zeh erschien schon im Jahr 2009 und ist nun, dreizehn Jahre später, vor dem Hintergrund der immer noch währenden Coronaepidemie aktueller denn je. Interessant ist insbesondere die neugewertete Rezeption des Werkes in der gegenwärtigen Kontextualisierung des Kampfes der Welt gegen das Virus SARS-CoV-2 und den damit verbundenen Einschränkungen der individuellen Freiheiten, die demokratische Regierungsmuster in Gefahr bringen. Als besonderer Anstoß zur Entstehung des Werkes dürfte der Gesetzesentwurf von 2007 der deutschen Gesundheitsministerin Ulla Schmid gelten, der die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge an den Gesundheitszustand der Kunden bindet.

Wenn auch Juli Zeh selbst kommentiert, dass sie eine Dystopie mit starkem Gegenwartsbezug entworfen habe, um ihrem Unbehagen gegenüber dem Demokratieschwund der modernen Gesellschaft Ausdruck zu verleihen, so konnte sie gewiss nicht ahnen, dass ihre imaginäre Vision schon nur wenige Jahre später zu einem der entflammtesten Diskussionsthemen werden würde. Die humoristische Feststellung des französischen Schriftstellers Eric Chevillard zum Thema Kontext und Rekontextualisierung, dass jeder Autor zum Zeitpunkt der Verfassung eines Romans ein Ziel verfolgt oder ihm eine bestimmte Rolle zuweist, ohne jedoch im Voraus wissen zu können, in welche zukünftige Kontexte sich das Werk einfügen wird und wie es mit diesen interagieren wird, scheint voll auf Corpus Delicti zuzutreffen:

L’écrivain se fend parfois d’un texte théorique qu’il préférera plus

modestement appeler son art poétique. Et pourtant, j’écris un livre

comme l’autre a inventé la roue. Sans doute ai-je en vue un objectif

(déplacer telle ou telle montagne) ou une fonction précise que je

souhaite lui voir tenir. Mais comment pourrais-je imaginer et antici-

per tous les contextes dans lesquels ensuite ce livre va s’inscrire et

Interagir ? Ma roue restera une roue, mais où vont-ils aller avec ? Le

sens n’est pas mon affaire.2

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Corpus Delicti durchlebt derzeit einen hermeneutischen Erneuerungsprozess, der vor der Kulisse der weltumspannenden Virusepidemie stattfindet und den es gilt, in der vorliegenden Arbeit zu definieren.

Durch diese aktualisierte Gegenwartsnähe des Werkes scheinen sich die Grenzen zwischen der dystopisch/utopisch perspektivischen Distanz und den aktuellen Ereignissen sehr nahe zu kommen. Besonders herauszustellen ist dabei die starke Einflechtung in das Romangeschehen von prozessrechtlichen, stark denaturierten Fragmenten des deutschen Strafprozesses sowie der mittelalterlichen Inquisition, die beide als zutiefst willkürlich dargestellt werden. Das Recht findet hier in der Tat im rechtlosen Raum statt. Es ist gewiss Zehs Doppelqualifikation als Juristin und Schriftstellerin, die sie dazu veranlasste, Literatur und Recht in Corpus Delicti so eng miteinander zu verweben. Eine Vertiefung der rechtlichen und rechtsphilosophischen Aspekte des Werkes erscheint hier umso dringender, als sich bisher nur wenige Arbeiten zu diesem Thema geäußert haben.

Ebenso erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie eine nähere Untersuchung des Einfließens der biopolitischen Theorien von Michel Foucault und Giorgio Agamben in Corpus Delicti notwendig. Der menschliche Körper als potenzieller Träger von Krankheiten wird zum Kontrollobjekt des totalitären Staates in Anlehnung an Foucaults biopolitische Diskurse. Körper und Geist erfahren eine Trennung, die sich in der Gegenwart in der Verschiebung von geistig-intellektuellen Werten hin zu körperlichen Präferenzen beobachten lässt.

Die staatstheoretischen Theorien von Thomas Hobbes, und in einer etwas geminderten Form, von Jean-Jacques Rousseau, sind im Roman hintergründig latent präsent, neben dem eindeutig durchbrechenden Gedankengut des deutschen Staatstheoretikers Carl Schmitt und des italienischen ←12 | 13→Philosophen Giorgio Agamben in der Auseinandersetzung mit den Feindbildern totalitärer Staatssysteme. Agambens „Homo sacer“ wird latent in der Figur Mias als Staatsgegnerin reflektiert.

Die Dichte an interdisziplinären Referenzen – Historie, Recht, Philosophie, Politik – erhebt Corpus Delicti, meines Erachtens, zu einer literarischen Schöpfung, die gewiss die vorliegende gründliche Forschungsarbeit verdient.

Wenn sich auch vordergründig die Untersuchung naturgemäß auf den Text selbst stützt, so muss dennoch notwendigerweise kurz auf Zehs persönliche Einstellung zu den hier besonders relevanten Themen von Körperlichkeit, Gesundheit, Krankheit sowie zur aktuellen Coronaepidemie eingegangen werden. Dies umso mehr als Corpus Delicti als politisches Manifest der Autorin zu werten ist, in dem sie Stellung zu den die Gesellschaft bewegenden Fragen bezüglich der Demokratie, der individuellen Grundrechte und deren Wertung, der Suche nach Sicherheit, des Religionsverlustes, der Scheidung zwischen Körper und Geist und der Ziellosigkeit des Menschen nimmt.

Eine perspektivische Gegenüberstellung der literarischen Verarbeitung des Topos des Verlustes der individuellen Freiheiten im Namen der Gesundheit aller zur aktuellen Coronaepidemie darf ebenso wenig fehlen, denn gerade dieser neue Kontext, wie schon eingangs erläutert, verleiht dem Werk seine besondere Brisanz und Aktualität.

Die europäischen Demokratien erheben gerade die Gesundheit zum höchsten Wert der Gesellschaft, in der die Angst vor Tod und Krankheit die Bürger mehrheitlich dazu bewegt, starke Einschränkungen der individuellen Freiheiten zu akzeptieren bis hin zur gefährlichen Unterminierung der demokratischen Staatssysteme. Wer Corpus Delicti gelesen hat, wird sich spätestens seit Ausbruch der Coronaepidemie fragen, „Déjà vu, oder?“

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1 Zeh, J. (2013). Corpus Delicti: ein Prozess. Btb Verlag, 8. Auflage. (Erstauflage 2009), in der Folge „Corpus Delicti“.

2 „Der Schriftsteller scheidet sich manchmal von einem theoretischen Text, den er bescheidenerweise lieber als dichterische Kunst bezeichnen würde. Und doch schreibe ich ein Buch so wie jener, der das Rad erfunden hat. Zweifellos habe ich ein Ziel vor Augen (diesen oder jenen Berg zu versetzen) oder eine bestimmte Funktion, die mein Text erfüllen soll. Aber wie könnte ich mir all die Kontexte vorstellen und voraussehen, in denen mein Roman später stehen und interagieren wird? Mein Rad wird ein Rad bleiben, aber wohin werden die Menschen damit gehen? Die Bedeutung ist nicht meine Sache“ (eigene Übersetzung).

Chevillard, E. (2010). L’Autofictif, 7 octobre 2010, Abs. II. In: Meizoz, J. (2016).

„Que font aux textes les contextes (et vice versa) ?“. Transitions, 9. Jan. 2016.

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2. Juli Zeh: Körper Und Coronakrise

For Juli Zeh body and health belong to the intangible sphere of intimacy as inseparable from the principle of human dignity. Since the elevation of the body over the mind, the former has become a reified object of economic calculation, its optimisation has become the norm and its standardisation a social integration factor. Being sick generates a feeling of guilt, which is additionally promoted by the practices of some health insurance companies, seeking to maximize economic benefit. The fear of illness and death also leads, according to Zeh, to unacceptable restrictions on democratic processes in the corona pandemic.

Body – privacy – dignity – health – optimization – economic profit

***

Juli Zeh beschäftigt sich in Corpus Delicti, neben den zahlreichen Themen der Demokratie, der individuellen Grundrechte und deren Wertung, des Sicherheitsbedürfnisses, des Religionsverlustes, der Orientierungslosigkeit des Menschen in einer globalisierten Welt, der Politikverdrossenheit uvm., die bereits in Juli Zehs Corpus Delicti, ein Prozess: Intertextuelle Perspektiven3 genauer untersucht worden sind, insbesondere mit dem menschlichen Körper, der seit der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 zum Träger der Volkssouveränität erhoben wurde und in der heutigen Gesellschaft als höchster Wert im Mittelpunkt steht. Sozialer Erfolg und Misserfolg knüpfen an den leistungsfähigen, gesunden, den Schönheitsidealen entsprechenden Körper genauso an wie Maßnahmen politischer Lenkung, Einschränkung und Macht. Als potenzieller Träger des Virus-Sars-Cov-2 ist der Körper eine Gefahr für die kollektive Gesundheit.

Zehs persönliche Einstellung zum eigenen Körper wird durch den Wunsch, die menschliche Würde und Intimität durch die öffentliche Hand unangetastet zu wissen, geprägt und liefert eine Verständnishilfe zu Gene- sis und Motivation des Romans Corpus Delicti.

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2.1. Gesundheit und Körperlichkeit

Alles, was mit dem eigenen Körper und der Gesundheit zusammenhängt, gehört für Zeh zur ganz individuellen, persönlichen, unantastbaren Sphäre des Menschen: „Dabei empfinde ich alles, was mit Körper, Gesundheit oder Geburt zu tun hat, als äußerst intim. Das ist mein persönlicher Bereich, in dem nur ich Chef sein will“.4 Auf die Frage, ob sie die Gleichsetzung von Volksgesundheit mit dem vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehen für alle als Postulat der Weltgesundheitsorganisation WHO gutheiße, stellt Zeh diesem globalen Gesundheitsprojekt eben ihre intime, individuelle Auffassung entgegen: „Die Politik müsste dringend begreifen, dass Gesundheit ein individueller Zustand ist, der sich nicht für alle einheitlich normieren lässt“.5 Sie kritisiert verpflichtende, vom Staat auferlegte, medizinische Untersuchungen, aufgezwungene Entscheidungen und Alternativlosigkeit6 als Eingriff in die individuellen Rechte und Freiheiten des Bürgers. Der Staat möchte zusehends kontrollieren und bedient sich dabei des Körpers unter dem Vorwand, das Beste für die Gesundheit aller zu wollen.

Ein entscheidender, direkter Anlass sich mit dem Thema Gesundheit zu befassen, war für Zeh die Gesetzesinitiative im Jahr 2007 der Gesundheitsministerin Ulla Schmid, die nicht nur verpflichtend alle Bürger zur Wahl einer Krankenkasse zwingt, sondern auch den Krankenkassen die Möglichkeit einräumt, von Versicherten, die durch Selbstverschulden oder Nachlässigkeit krank werden, höhere Beiträge zu verlangen. Im Bestreben nach besserer Rentabilität verlangt derselbe Gesetzesentwurf von den Versicherten mehr Eigenvorsorge:

So müssen sie sich regelmäßig untersuchen lassen, um etwa Bluthochdruck, Diabetes und andere chronische Krankheiten frühzeitig zu erkennen. Auch die Krebsvorsorge gehört dazu. Nehmen Versicherte an den Untersuchungen nicht ←16 | 17→teil, müssen sie im Krankheitsfall nicht wie bisher maximal ein Prozent, sondern zwei Prozent aus eigener Tasche hinzuzahlen. Kranke müssen sich therapiegerecht verhalten.7

Ein solches Schuldprinzip im intimsten Bereich des Menschen „pervertiert das Prinzip der Krankenversicherung, da nun der Einzelne dem System die unbedingte Aufrechterhaltung (seiner) Gesundheit schuldet“.8 Zeh sieht in diesem, auf ökonomische Effizienz ausgerichteten Gesundheitssystem die Gefahr einer im Widerspruch zu demokratischen Grundprinzipien stehenden Politisierung des Körpers als Macht- und Kontrollinstrument:

Details

Seiten
218
ISBN (PDF)
9783631891988
ISBN (ePUB)
9783631891995
ISBN (Hardcover)
9783631891971
DOI
10.3726/b20310
DOI
10.3726/b20309
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 218 S., 3 farb. Abb., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Alexandra Juster (Autor:in)

Dr. Alexandra Juster ist seit 1997 in Frankreich und Italien zugelassene Rechtsanwältin. 2022 promovierte sie an der Universität Salamanca in deutscher neuerer Literatur und ist seit 2018 als Dozentin für Deutsch und deutsche Literatur, Französisch, Italienisch und Spanisch tätig.

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