Lade Inhalt...

Prekarität in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart

von Till Mischko (Autor:in)
©2022 Dissertation 346 Seiten

Zusammenfassung

Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur beschäftigt sich seit Beginn der 2000er-Jahre zunehmend mit Prekaritätsphänomenen wie Armut, Arbeitslosigkeit und Erfahrungen des sozialen Abstiegs. Im Zentrum des Buchs stehen ausgewählte Romane, die mithilfe sozialwissenschaftlicher Modelle und Theorien kontextualisierend untersucht werden. Gleichzeitig werden die Texte hinsichtlich ihrer spezifischen Poetologie in den Blick genommen. Dabei zeigt sich, dass sie einer desillusionären Ästhetik folgen, an deren Ende das Scheitern der Protagonist_innen steht. Die Studie ist ein Beitrag im Forschungsfeld „Literatur und Ökonomie“ und zeigt, dass Prekarität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gesamtgesellschaftlich verhandelt wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Dank
  • Inhalt
  • 1 Einleitung
  • I Prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
  • 2 Perspektiven und Tendenzen der gegenwärtigen Forschung
  • 2.1 Literatur und Ökonomie
  • 2.2 Sammelbände: „Repräsentationen von Arbeit“ und „Ökonomien der Armut“
  • 2.3 Monografien: Kreativität, Geschlecht, Sprache
  • 2.4 Arbeit und Armut bzw. Exklusion als Desiderat in der Literatur(wissenschaft)?
  • 2.5 Die Rolle der (Kapitalismus)kritik
  • 2.6 Transnationale und interkulturelle Perspektiven
  • 3 Sozialwissenschaftlicher Prekaritätsdiskurs
  • 3.1 Aktivierende Arbeitsmarktpolitik
  • 3.2 Prekarität bzw. Prekarisierung in der Arbeits- und Industriesoziologie
  • 3.2.1 Geschlecht, Ethnie und Sexualität
  • 3.3 „Prekarität als System permanenter Bewährungsproben“
  • 3.3.1 Beispiel: Betriebliche Auswahlprüfungen
  • 3.3.2 Subjektivierung und Entgrenzung
  • 3.3.3 Sozialkritik und Künstlerkritik
  • 4 Methodik: Prekarität erzählen
  • 4.1 Text und Kontext
  • 4.2 Postklassische Narratologie
  • 4.3 Analyserahmen
  • 4.3.1 Erzähl- und Gattungsmuster
  • 4.3.2 Figuren
  • 4.3.3 Erzählperspektive
  • 4.3.4 Produktionskontext
  • 5 Prekaritätsromane: Eine literaturhistorische Skizze vom Vormärz bis zur Gegenwart
  • 5.1 Sozialer Roman des Vormärz und Desillusionsroman
  • 5.2 Sozialer Roman des Naturalismus
  • 5.3 Proletarisch-revolutionärer Roman
  • 5.4 Neue Sachlichkeit: Der Angestelltenroman
  • 5.5 Literatur der Arbeitswelt: Reportageroman und Sozialroman
  • 5.6 Prekaritätsromane der deutschen Gegenwartsliteratur
  • II Analysen
  • 6 Heike Geißlers postfordistischer Industrieroman „Saisonarbeit“ (2014)
  • 6.1 Der Online-Dienstleister Amazon als Musterbeispiel für prekäre Arbeitsbedingungen
  • 6.2 „Work hard. Have fun. Make history.“
  • 6.3 „Saisonarbeit“ als Epigone der Literatur der Arbeitswelt?
  • 6.4 Literatur als Möglichkeitsraum
  • 6.5 Künstlerkritik und immanente Kritik
  • 6.6 „Saisonarbeit“ als postfordistische Industriereportage
  • 7 Abbas Khiders Fluchtroman „Ohrfeige“ (2016)
  • 7.1 Das deutsche Asylverfahren als Bewährungsprobe
  • 7.2 Totale Institution Asyl
  • 7.3 Institutioneller Rassismus
  • 7.4 Ironische Distanzierung
  • 7.5 Fluchtnarrative
  • 7.6 Immanente Kritik und illegale Organisation
  • 7.7 Prekärität und Migration
  • 8 Joachim Zelters dystopischer Arbeitslosenroman „Schule der Arbeitslosen“ (2006)
  • 8.1 „Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz I–IV)
  • 8.2 SPHERICON als postfordistisches Arbeitshaus
  • 8.3 Job Attack: Bewährungsproben des Arbeitsmarktregimes
  • 8.4 Postfordistische Dystopie
  • 8.5 Postfordistische Poetologie
  • 8.6 Karla als Gegenentwurf zum „unternehmerischen Selbst“
  • 8.7 Arbeitslosigkeit als postfordistisches Hamsterrad
  • 9 Kristine Bilkaus Familienroman „Die Glücklichen“ (2017)
  • 9.1 Prekarität und Mittelschicht
  • 9.2 Selbstverwirklichung als Prekaritätsfalle der kosmopolitischen Mittelschicht
  • 9.3 Prekarität im familiären Mikrokosmos – „Die Glücklichen“ als Familienroman
  • 9.4 Multiperspektives Erzählen
  • 9.5 Selbstversorgung und Leugnung
  • 9.6 Postfordistische Desillusionsästhetik
  • 10 Resümee und Ausblick
  • 11 Literaturverzeichnis

←10 | 11→

1 Einleitung

In der vom Berliner Verbrecherverlag publizierten Literaturzeitschrift „Metamorphosen“ schreibt der Schriftsteller Jens Steiner mit Blick auf die Zumutungen, denen die Arbeitssubjekte in den westlichen Kapitalismen der Gegenwart ausgesetzt sind: „Man könnte weniger, aber wer traut sich schon? Man könnte ein bisschen lockerer, aber wer hat noch die Kraft dazu? Man könnte gar nicht mehr, aber die Angst.“1 Die Beobachtungen des Autors beschreiben ein allgegenwärtiges Lebensgefühl, das von Unsicherheit und Erschöpfung geprägt ist und das auf keine spezifische Berufs- oder Personengruppe bezogen werden kann.

Bereits Ende der 1990er-Jahre wies Pierre Bourdieu in seinem viel zitierten Vortrag „Prekarität ist überall“2 darauf hin, dass unsichere Lebens- und Arbeitsverhältnisse zum „allgemeinen Dauerzustand“3 geworden sind. Dabei fasst Bourdieu Prekarität nicht synonym zu Armut oder Arbeitslosigkeit auf, wie es in Alltagsdiskursen häufig der Fall ist, vielmehr betrachtet er sie als „Teil einer neuartigen Herrschaftsform4, die zu Entsolidarisierung und Selbstausbeutung unter den Akteur_innen führt. Folgt man Bourdieu, dann ist Prekarität allgegenwärtig und durchdringt sowohl die privaten Lebenszusammenhänge als auch nahezu sämtliche Berufsfelder.5 Die „tiefgreifende[n]‌ Auswirkungen“6, denen Betroffene infolge prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse ausgesetzt sind, nehmen ihnen „jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.“7 ←11 | 12→Dabei übt Prekarität einen disziplinierenden Effekt auch auf jene aus, so Bourdieu weiter, die in scheinbar gesicherten Verhältnissen leben, indem sie ihnen permanent vor Augen führt, „keineswegs unersetzbar zu sein“8, wodurch eine Festanstellung als „zerbrechliches und bedrohtes Privileg“9 erscheint.

Die hier beschriebenen Prekarisierungsprozesse fußen maßgeblich auf politischen und institutionellen Transformationen, die in den 1970er-Jahren ihren Anfang genommen haben und als neoliberales Modell populär wurden. Der Ansatz geht davon aus, dass wirtschaftliches Wachstum vor allem über Konkurrenz und Wettbewerb generiert wird, wozu staatliche Regulationsmöglichkeiten weitgehend eingeschränkt werden müssen. Diese Vorstellungen gingen in der Realität mit einer weitgehenden Flexibilisierung der Arbeitsmärkte einher,10 die u. a. auf der Entkräftung von arbeitsrechtlichen Absicherungen sowie der Etablierung sogenannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse gründete.11 Folgt man Klaus Dörre, der Prekarisierungsprozesse vor dem Hintergrund des an Überlegungen Rosa Luxemburgs angelehnten Konzepts der kapitalistischen Landnahme12 betrachtet, dann erscheint die häufig beklagte Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, der Zwang zu Flexibilität sowie die Ausübung berufsfremder Tätigkeiten als Kommodifizierung bisher unbesetzter Tätigkeitspotentiale, die als „Gratisressourcen“13 von den Arbeitgeber_innen in Anspruch genommen ←12 | 13→werden. Für Lohnabhängige wie für Freiberufler_innen bedeutet der daraus resultierende Konkurrenzkampf und die erhöhten Leistungsanforderungen, dass sie gezwungen sind sich selbst zu disziplinieren, um dem Druck der Arbeitswelt standhalten zu können.14

Vor diesem Hintergrund sehen sich die Arbeitssubjekte gegenwärtig mit einem „System permanenter Bewährungsproben“15 konfrontiert, das den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen regelt.16 Diese Auswahlprüfungen, auf die ich im theoretischen Teil meiner Untersuchung noch einmal ausführlich eingehen werde, fallen in den postfordistischen Arbeitsgesellschaften zumeist uneindeutig aus. Häufig wissen Arbeitnehmer_innen nicht, welche Erwartungen an sie gerichtet werden, damit sie ihren sozialen Status sichern können oder unter welchen Bedingungen ihnen ein beruflicher Aufstieg möglich ist. Schließlich gibt es keine Gewährleistung dafür, dass das unbezahlte Praktikum, in dem über Wochen oder Monate Überstunden geleistet werden ein Schritt auf der Karriereleiter nach oben ist oder ob eine Festanstellung in Aussicht steht, wenn nur genügend Arbeitseifer an den Tag gelegt wird. Demgegenüber sehen sich Arbeitslose einem bürokratisch-disziplinierenden System ausgeliefert, in dem schon die Antragsstellung auf sozialstaatliche Leistungen zu einer Bewährungssituation für sie wird. Hinzu kommen häufig reproduktive Anforderungen, die zu zusätzlichen Belastungen führen.17 Wo jeder für sich selbst kämpft, ist es ein Risiko, für ←13 | 14→eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen einzutreten, das mit dem Verlust symbolischen Kapitals sanktioniert werden kann.18

Das „Wechselspiel von Disziplinierung und Selbstdisziplinierung“19, das bis hinein in den privaten Bereich dringt und den „Herrschaftscharakter von Prekarisierungsprozessen“20 verdeckt, findet sich als zentrales Narrativ in zahlreichen literarischen Texten der Gegenwart wieder. So handeln von den Literatur- und Kulturwissenschaften häufig untersuchte Texte wie Marlene Steeruwitz‘ „Jessica, 30“21 (2004), Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“22 (2004) oder Ernst-Wilhelm Händlers „Wenn wir sterben“23 (2002) von der Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche und permanentem Wettbewerbsdruck. Stehen bei diesen Romanen vor allem Protagonist_innen der hochqualifizierten Arbeitsmarktsegmente im Vordergrund, die um das nächste Projekt oder die Verbesserung ihres sozialen Status streiten, handeln andere Texte, wie Volker Brauns „Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“24 (2008) oder Robert Kischs „Möbelhaus“25 (2015), von Arbeitslosigkeit und sozialer Desintegration.

Im Mittelpunkt meiner Untersuchung, die sich mit der literarischen Verhandlung prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse beschäftigt, stehen Romane, „also die ‚Leitgattung‘ kulturwissenschaftlicher Untersuchungen“26, so Franziska Schößler, „die durch ihre Referentialität und ‚epische Breite‘ kontextualisierenden Bemühungen entgegenkommt.“27 Die Auswahl des Analysematerials folgt der bereits skizzierten These, dass prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse den gesamten Gesellschaftszusammenhang ←14 | 15→durchdringen. Dabei schließe ich mich der Kritik der Geschlechter- und Migrationsforschung an, die den arbeits- und industriesoziologischen Prekaritätsdiskurs dahingegen kritisiert, dass dort, so Alexandra Manske und Katharina Pühl, vor allem „Erwerbsarbeitskonstellationen weißer, männlicher Lohnarbeiter, wie sie im Fordismus prägend waren, als normativer, empirischer und politischer Ansatzpunkt von Analysen gewählt werden.“28 Auf diese Weise werden jedoch, so die Kritik der Autor_innen, „grundlegende Dimensionen der Geschlechterverhältnisse wie der Zusammenhang von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Care-Arbeit aus der Wissenschaft förmlich herausgeschrieben.“29 Auch wird die Situation von Fluchtmigrant_innen, die häufig von Arbeitslosigkeit und instabilen Beschäftigungsverhältnissen bedroht sind, vor dem Hintergrund nationalstaatlicher Steuerungsprozesse in der Arbeits- und Industriesoziologie nicht in ihrer Komplexität erfasst.30

Der Analysekorpus meiner Untersuchung setzt sich aus vier Romanen zusammen, deren Protagonist_innen unterschiedliche soziale Positionen besetzen und sich hinsichtlich ihres Geschlechtes, ihrer Ethnie und ihrer sozialen Klasse voneinander unterscheiden. Trotz ihrer sozioökonomischen Ungleichheiten ist den Figuren gemeinsam, dass sie in den jeweiligen Narrationen einen sozialen Abstieg durchleben, der zu Ohnmacht und psychischen Belastungen führt: So handelt Heike Geißlers vermeintlicher Tatsachenroman „Saisonarbeit“31 (2014) von einer freiberuflichen Übersetzerin und Mutter, die aus finanzieller Not in einem Leipziger Warenlager des ←15 | 16→globalen Großkonzerns Amazon arbeiten muss. In Joachim Zelters dystopischem Roman „Schule der Arbeitslosen“32 (2006) sollen Beschäftigungslose von der Bundesagentur für Arbeit in einem abgelegenen Arbeitshaus zu optimierten und totalen Arbeitssubjekten erzogen werden. In Abbas Khiders Migrationsroman „Ohrfeige“33 durchläuft ein junger Iraker das bürokratische und von institutionalisiertem Rassismus geprägte Asylsystem, um eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Kristine Bilkaus „Die Glücklichen“34 (2017) handelt von einem jungen Elternpaar der urbanen Mittelschicht, das einen sozialen Abstieg erlebt, der zu einer ernsthaften Beziehungskrise führt.

Die genannten Texte können zeitlich der jüngsten Gegenwartsliteratur zugeordnet werden. Ohne an dieser Stelle ausführlich auf die Problematiken des Begriffs eingehen zu können, ist er in seiner Unbestimmtheit erklärungsbedürftig. „Über die Gegenwartsliteratur zu schreiben“35, so konstatiert etwa Jan Röhnert, „ist ein in jeder Hinsicht tückisches Unterfangen, denn epochentypologisch ist nichts so wenig fixierbar wie das, was man, dem dauernden Wechsel ihrer räumlichen und zeitlichen Bezugspunkte unterworfen, jeweils unter Gegenwartsliteratur versteht bzw. verstanden hat.“36 Welche Zeitspanne der Gegenwartsbegriff umfasst, hängt maßgeblich „von den Prämissen ab, mit denen er […] von seinen Betrachtern versehen wird.“37 Eine Schwierigkeit besteht darin, dass die Gegenwart sich in einem unabgeschlossenen Prozess befindet, wodurch sie als „vorläufiges Konstrukt“38 erscheint. Leonard Herrmann und Silke Horstkotte sprechen vor diesem Hintergrund auch von „Gegenwart als Epoche“39. Der Begriff der ←16 | 17→Gegenwartsliteratur bezieht sich in diesem Zusammenhang auf „Konstellationen aus literarischen Texten, Diskursen und äußeren Rahmenbedingungen“40, die von den Rezipient_innen

auch dann als ‚gegenwärtig‘ empfunden (und nicht etwa der Vergangenheit zugerechnet) werden, wenn zwischen der eigenen ‚Jetztzeit‘ und der Erstpublikation der Texte einige Jahre vergangen sind. Denn die Diskurse und Rahmenbedingungen, auf die sie verweisen, sind über einen längeren Zeitraum relativ stabil.41

Legt man diese Maßstäbe bei der Untersuchung von Prekaritätsnarrativen an, erscheint es vor dem Hintergrund spezifischer ökonomischer und politischer Prozesse sinnvoll, einige Eingrenzungen bei der Auswahl des Analysematerials vorzunehmen. Die von mir analysierten Romane beschäftigen sich mit Prekarisierungsprozessen in Deutschland und sind in einem Zeitabschnitt zwischen den Jahren 2006 und 2017 erschienen. So führte der Anpassungsdruck eines globalen Marktes zu Beginn der 2000er-Jahre zu einem wohlfahrtsstaatlichen Paradigmenwechsel in Deutschland, dessen negative Auswirkungen bis heute spürbar sind. Mit dem Reformprogramm „Agenda 2010“ wurde unter der damaligen Regierung von Bundeskanzler Schröder der Arbeitsmarkt weitgehend flexibilisiert, wodurch ein neuer Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Zugleich wurden Sozialleistungen an sanktionierbare Bedingungen geknüpft.42 In den Prekaritätsverhandlungen der deutschen Gegenwartsliteratur sind die Folgen des Reformprogramms unübersehbar: Ungesicherte Arbeitsverträge, Zeitarbeit und nicht zuletzt „Hartz IV“ sind Bestandteile ihrer Narrationen und bilden die strukturellen Rahmenbedingungen, in denen sich die Protagonist_innen bewegen.

Neben diesen ökonomischen und wohlfahrtsstaatlichen Transformationen, auf die die Texte verweisen, kann das Interesse der Gegenwartsliteratur an Prekaritätsnarrativen auch erzählökonomisch begründet werden, wie Torsten Erdbrügger konstatiert, denn „gelingende Arbeit, Normalarbeitsverhältnisse, Alltäglichkeit scheinen kaum narrationswürdig“43, wohingegen ←17 | 18→„Narrative des Kampfes“44, beispielsweise gegen die Konkurrenz oder den sozialen Abstieg, Spannung bei den Rezipient_innen hervorrufen. Fasst man soziologische Theorien ebenfalls als Erzählungen auf, die über eine selektierende Erzählinstanz verfügen,45 dann weisen die darin enthaltenen Narrative von Verlust, Kampf und Bedrohung Übereinstimmungen zu literarischen Erzählungen auf.46 Ausgehend von der Prämisse, dass Erzählen, so Albrecht Koschorke, „keine Sonderwelt neben der wirklichen Welt hervorbringt“47, sondern vielmehr „in die gesellschaftliche Praxis hineinwirkt und selbst ein bestimmendes Element dieser Praxis ist“48, positionieren sich soziologische Prekaritätsnarrative gewissermaßen als Gegenerzählungen zu den Erzählungen des postfordistischen Kapitalismus, der, so Georg Seeßlen und Markus Metz, eine „Verschiebung vom Soziologischen zum Anthropologischen“49 repräsentiert:

Nicht Verhältnisse, nicht Machtbeziehungen sind ‚schuld‘ daran, dass es zwar Fortschritt, aber keine Besserung gibt, sondern: der Mensch. Daher sind, was selbst kritischere Zeitgenossen sehr rasch zu bestätigen bereit sind, an einer Finanzkrise nicht Gesetze, nicht Machtverhältnisse und nicht Verhaltensweisen schuld, sondern: ‚die Gier‘.50

Details

Seiten
346
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783631875469
ISBN (ePUB)
9783631875698
ISBN (Hardcover)
9783631863022
DOI
10.3726/b19595
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 346 S.

Biographische Angaben

Till Mischko (Autor:in)

Till Mischko hat Germanistik und Geschichte an der Universität Potsdam studiert und in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Universität Trier promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Ökonomie sowie Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft.

Zurück

Titel: Prekarität in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart