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Interview

Fall Lina E.: "Man darf den Opfern keine Mitschuld geben"

Berlin / Lesedauer: 7 min

Linksextremisten haben Rechtsextreme zusammengeschlagen und schwer verletzt. Rechtsanwältin Jessica Hamed warnt vor einer unsachlichen Diskussion über den Fall und das Urteil.
Veröffentlicht:05.06.2023, 15:20

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Die Linksextremistin Lina E. ist zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt worden, weil sie nach Überzeugung des Gerichts mehrere Menschen aus der rechtsextremen Szene überfallen hat. Die Taten bewegten sich im Grenzbereich zum Linksterrorismus, hatte Oberstaatsanwältin Alexandra Geilhorn in ihrem Plädoyer vor dem Oberlandesgericht in Dresden gesagt. Mindestens einer der Angriffe sei einem versuchten Tötungsdelikt recht nahe gekommen. Die Bande rund um Lina E. folterte ihre Opfer mit Hämmern und übergoss sie teilweise auch mit Chlor.

Lina E. aus U-Haft entlassen

Der Fall wird heftig diskutiert, trotz der Brutalität der Überfälle fordern viele Menschen Freiheit für die noch nicht rechtskräftig verurteilte Lina E. Auf der anderen Seite wird das Gericht scharf kritisiert, etwa weil die Frau nach der Urteilsverkündung aus der Untersuchungshaft in die Freiheit entlassen wurde. Wir sprachen mit der Juristin Jessica Hamed zu dem Fall und den Vorwürfen.

Frau Hamed, Sie sind Fachanwältin für Strafrecht mit langjähriger Erfahrung. Vieles an dem Verfahren gegen Lina E. wird heftig kritisiert, von links wie rechts. Ist die Kritik gerechtfertigt?

Jessica Hamed: Natürlich hat jeder Mensch zunächst einmal das Recht, ein Gerichtsverfahren und auch ein Urteil zu kritisieren. Grundsätzlich gilt aber: Um in einem Strafverfahren fundierte und berechtigte Kritik konkret am Urteil oder dem Gericht zu üben, muss man alle Einzelheiten kennen: Sprich, bestenfalls alle Akten, alle Aussagen, alle Indizien und alle etwaigen Beweise. Und man müsste jedenfalls die knapp 100 Verhandlungstage verfolgt haben, um sich ein umfassendes eigenes Bild machen zu können. All das kann der Großteil der Kritikerinnen und Kritiker, egal von welcher Seite, sicher nicht von sich behaupten. Ergo ist die harsche Kritik in vielen Fällen nicht angemessen. Das zeigt sich etwa bei den Diskussionen rund um die Untersuchungshaft im Fall Lina E.

Die eine Seite empfand die lange Dauer der Untersuchungshaft, rund 2,5 Jahre, als völlig überzogen, die andere Seite hielt es für einen Skandal, dass die Angeklagte nach dem Urteil unter Auflagen aus der U-Haft entlassen wurde…

Richtig, und in beiden Fällen fehlt es der pauschalen Kritik regelmäßig an Substanz. Mit der Untersuchungshaft wurde der Prozess gesichert. Und genau dafür wird Untersuchungshaft ja angeordnet: um einen rechtsstaatlichen Prozess zu gewährleisten. Dafür muss die Angeklagte insbesondere für das Gericht verfügbar sein. Im Fall von Lina E. hat das Gericht eine Fluchtgefahr angenommen, da es befürchtete, sie würde sich dem Prozess entziehen und wie der mutmaßliche Mittäter Johann G., der damalige Lebensgefährte von Lina E., untertauchen.

Die Einschätzung des Gerichts klingt plausibel, auch wenn die Dauer der Untersuchungshaft mit gut 2,5 Jahren sehr lang war, sodass durchaus Zweifel an der gebotenen Beschleunigung des Verfahrens aufkommen können. Das Problematische an einer langen Untersuchungshaft ist nämlich, dass diese psychologisch eine höhere Strafe begünstigt, weil es schwerfällt, nach so langer Haft zu sagen, dass alles halb so wild war. Die Entlassung aus der Untersuchungshaft nach dem Urteil ist aber jedenfalls ohne Zweifel nachvollziehbar.

Die lange U-Haft ist also nachvollziehbar, die Entlassung aber auch. Ist das kein Widerspruch?

Überhaupt nicht! Untersuchungshaft ist keine Strafhaft. Das primäre Ziel der U-Haft, also die Sicherung des Strafprozesses, wurde erreicht, der Strafprozess ist in der sog. Tatsacheninstanz abgeschlossen. Dazu kommt, dass Lina E. rund 2,5 Jahre in Untersuchungshaft war, und diese Zeit wird auf die Gesamtstrafe von etwas über fünf Jahren angerechnet. Üblicherweise gibt es zudem den sogenannten 2/3-Erlass, der besagt, dass man bei guter Führung im Gefängnis nach 2/3 der Haftstrafe entlassen werden kann. Dieser Verlauf liegt bei Lina E. nahe, sodass bei ihr nur knapp ein Jahr übrigbliebe, das sie überhaupt noch in Strafhaft verbringen müsste. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir sogar zwingend, dass sie aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Deshalb ist Kritik hier nicht überzeugend. Das gilt an dem Punkt und auch grundsätzlich vor allem für Kritik aus der Politik.

Nach der Verurteilung von Lina E. kam es bundesweit zu, teils auch gewaltsamen, Protesten.
Nach der Verurteilung von Lina E. kam es bundesweit zu, teils auch gewaltsamen, Protesten. (Foto: Marcus Brandt)

Warum?

Weil dadurch die Unabhängigkeit des Gerichts gefährdet wird. Denn natürlich geht harsche Kritik an Richterinnen und Richtern nicht spurlos vorbei, das ist nur menschlich. Und wenn ein Richter – zudem unbegründet – ins Kreuzfeuer gerät, dann kann ihn das bei künftigen Entscheidungen womöglich – zumindest unbewusst – beeinflussen. Daher wünsche ich mir Zurückhaltung an Urteil und Richter. Insbesondere, wenn die Kritik nicht einmal sachlich begründet ist. Andere Dinge hingegen sind in diesem Kontext durchaus zu kritisieren.

Hätte es da ein ganz normaler Gefangenentransport nicht auch getan?

Was zum Beispiel?

Was schon etwas inszeniert wirkte, war der Helikopter-Flug der Angeklagten nach Karlsruhe. Das ist etwas, was man eigentlich aus Terrorismus-Prozessen kennt. Hätte es da ein ganz normaler Gefangenentransport nicht auch getan? Wenn jemand in so einer Art und Weise im doppelten Sinne vorgeführt wird, dann möchte der Staat ein starkes Signal senden: Wir greifen hier knallhart durch, auch gegen Linksextremismus!

Was ist falsch daran, wenn der Staat sich als starker Staat präsentiert, der durchgreift, wo es nötig ist?

Wir sollten uns und den Rechtsstaat dringend davor schützen, dass eine Art Gesinnungsstrafrecht entsteht. Ich habe als Juristin nämlich schon das Gefühl, dass jüngst, aber auch in den vergangenen Jahrzehnten – denken Sie nur an den sog. Radikalenerlass der 70/80 – härter durchgegriffen wurde, sobald etwas politisch nicht mehr opportun war. Aktuell könnte man die Razzia gegen die Letzte Generation, die eine kriminelle Vereinigung sein soll, anführen. Ich habe meine Zweifel, dass die Durchsuchungen verhältnismäßig waren. Auch in engerem und weiterem Zusammenhang mit den Corona-Protesten hatte und habe ich in meiner Arbeitspraxis den Eindruck gewonnen, dass hier auf allen Ebenen deutlich härter durchgegriffen wurde als bei anderen Verfahren.

Tatsächlich gab es den Vorwurf, dass die linksextreme Lina E. wie eine Terroristin behandelt wurde, während der Staat sich bei rechtsextremen Taten weit weniger „hart‟ gezeigt habe.

Auch dieser Kritikpunkt ist meines Erachtens legitim. Bei mehreren rechtsextremen Taten, sei es Connewitz oder natürlich auch den NSU-Verbrechen, gab es gravierende Fehler, verschleppte Ermittlungen und nachweislich Ermittlungspannen, die man nicht kleinreden darf. Viele Menschen haben immer stärker den Eindruck, dass der Staat sein Gewaltmonopol nicht konsequent und mit gleicher Härte in alle Richtungen ausübt. Und konkret rechtsextreme Gewalt nicht konsequent genug verfolgt wird. Das kann ich nachvollziehen, das sehe ich auch so. Aber daraus folgt natürlich keine Rechtfertigung für linksextreme Gewalt. Es gibt keine „gute‟ oder „böse‟ Gewalt, so wie es auch keine „guten‟ oder „bösen‟ Opfer von Straftaten gibt.

Der Rechtsstaat gilt für alle Menschen, auch für seine Feinde.

Was meinen Sie damit?

Im aktuellen Fall wurde vielfach darauf hingewiesen, dass es sich bei den Opfern um Rechtsextreme gehandelt habe, als ob das etwas an der Bewertung der Taten ändern müsse. Der im Internet sehr einflussreiche Schriftsteller El Hotzo schrieb etwa: „Man kann sich vor linksextremer Gewalt recht einfach schützen, indem man z.B. kein Nazi ist‟. Dafür wurde er im Netz gefeiert.

Dabei relativiert diese Aussage die Taten und gibt den Opfern eine Mitschuld. Das ist victim blaiming. Das darf nicht sein. Auch nicht bei Nazis. Der Rechtsstaat gilt für alle Menschen, auch für seine Feinde. Aussagen wie der von El Hotzo muss die Gesellschaft klar widersprechen, denn das Gewaltmonopol des Staates in Frage zu stellen, heißt letztlich den demokratischen Rechtsstaat in Frage zu stellen. Und wo das hinführt, wenn jeder das mit Gewalt durchsetzt, was er oder sie für richtig hält, kann man sich ohne viel Fantasie vorstellen.