Das Auge des Arbeiters. Untersuchungen zur proletarischen Amateurfotografie am Beispiel Sachsens
Insbesondere durch die Auseinandersetzungen um die sog. Wehrmachtsausstellung hat in den Geschichts- und Kulturwissenschaften eine Diskussion über Quellencharakter und Realitätsbezug von Fotografien Bedeutung erlangt, die allzu lange nicht geführt worden war. Auch die Volkskunde/Europäische Ethnologie widmet sich zunehmend medialen Fragestellungen. In diesem Zusammenhang ist die Erforschung der Arbeiterfotografie – ungeachtet einiger v.a. in der DDR vorgelegter Publikationen – nach wie vor ein Desiderat. Die Gründung der Vereinigung der Arbeiterfotografen Deutschlands (VdAFD) im Jahr 1926 resultierte aus mehreren, miteinander verbundenen Modernisierungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg: der Entwicklung der Amateurfotografenbewegung auch in proletarischen Milieus, dem enormen Aufschwung der illustrierten Presse und einer medienbewussten politischen Propaganda der KPD. Kurz vor ihrer Zerschlagung nach dem Regierungsantritt der Hitler/Papen-Koalition 1933 umfasste die VdAFD ca. 3.000 Mitglieder in etwa 130 Ortsgruppen. Diese, auf Anfänge in der Naturfreundebewegung zurückreichende, proletarische Kulturpraxis ist erst fragmentarisch aufgearbeitet. Die Untersuchung wird über die bisher wesentlich nur unter politikgeschichtlichen, biografischen oder sachthematischen Gesichtspunkten erfolgte Rezeption hinaus die fotohistorische Dimension entwickeln: als den alltagsgeschichtlichen Kern der Praxis, der politischen und ästhetischen Theorie wie der je unterschiedlich legitimatorischen Rezeption in den beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit. Hierzu soll das Forschungsprojekt exemplarisch die insgesamt 20 sächsischen Ortsgruppen (von denen einige zu den aktivsten im Reich gehörten) in ihren Bildbeständen und Archivalien sowie in Bezug auf die Publikationen in der Parteipresse rekonstruieren. Im Mittelpunkt der erkenntnisleitenden Fragestellung steht die Entwicklung individueller und gesellschaftlicher Symbolbildung im Kontext des Visualismus, der Industrialisierung der Bildproduktion und -rezeption als Teil von Volkskultur im 20. Jahrhundert. Das Projekt wird daher etwa auf der Ebene ikonografischer und stilistischer Untersuchungen den Realitätsbezug, die Traditionslinien und das utopische Potential der Bilder wie der Praxis ihrer Herstellung und Distribution als Teil der politisch strukturierten Lebenswelt ihrer Akteure darzustellen haben. Die Debatten innerhalb der VdAFD über ästhetische Fragen gerade auch in Hinblick auf die ihnen implizierten Alltags- und Politikmodelle werden erläutert und die Rezeption der ästhetischen Avantgarde im Spannungsfeld künstlerischer Innovation und stalinistischer Verengung untersucht. Es erfolgt die Analyse der Habitus-Differenzen zwischen städtischen, großstädtischen und ländlichen Ortsgruppen sowie insgesamt die Darstellung der proletarischen Amateurbewegung als Teil wie Vermittler lokaler gesellschaftlicher Aktion, privater Selbstverwirklichung und örtlichem Bildgedächtnis in ihrer symbolpolitischen Funktionsausrichtung als Druckvorstufe medial vermittelter Agitation und Propaganda.