R. Kriechbaumer (Hrsg.): "Dieses Österreich retten"

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Titel
"Dieses Österreich retten". Protokolle der Christlichsozialen Parteitage der Ersten Republik


Herausgeber
Kriechbaumer, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
485 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Gerber, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Robert Kriechbaumers Quellenedition zu den Parteitagen der Christlichsozialen Partei in der Ersten Republik füllt eine spürbare Leerstelle in der Forschung zur Geschichte Österreichs in der Zwischenkriegszeit. Vergleicht man das Angebot gedruckter Quellen für „die“ Regierungspartei der ersten Republik mit dem, was etwa für die deutsche Zentrumspartei in der Weimarer Republik zur Verfügung steht, wird diese Leerstelle besonders deutlich. Hier kann der Interessierte aufgrund der jahrzehntelangen kontinuierlichen Arbeit der „Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ sowie der „Kommission für Zeitgeschichte“ nicht nur auf mustergültige Editionen der Protokolle der Reichstagsfraktionen und ihrer Vorstände zwischen 1920 und 1933 zurückgreifen. Ediert wurden auch eine umfängliche, schwerpunktmäßig auf das westdeutsche Zentrum bezogene Sammlung von Wahlaufrufen, Programmen und Statuten, ein biographisches Handbuch der Reichstagsabgeordneten sowie Regionaleditionen.1 Für die Christlichsozialen in der ersten österreichischen Republik liegt Vergleichbares nur mit der 1980 von Walter Goldinger herausgegebenen Edition der Protokolle des Klubvorstandes in der finalen Krisenphase der parlamentarischen Demokratie zwischen 1932 und 1934 vor.2 Auch die „großen“ Überblicksmonographien, wie sie Rudolf Morsey und Karsten Ruppert für das deutsche Zentrum zwischen 1917 und 1923 bzw. 1923 bis 1930 vorgelegt haben, fehlen für die Christlichsozialen der Ersten Republik.3 Eine Vielzahl einzelner Beiträge und Studien zum politischen Katholizismus und zur christlichen Arbeiterbewegung in Österreich wurde unter anderem von Anton Staudinger und Ernst Hanisch in den letzten Jahren und Jahrzehnten publiziert und durch Institutionen wie das Karl-von-Vogelsang-Institut zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich vorangetrieben. Dieter A. Binder hat für diese Situation 1992 vor allem die „späte Ausbildung der institutionalisierten Zeitgeschichtsforschung in Österreich“ verantwortlich gemacht, zu der im Falle der Christlichsozialen noch eine im Vergleich zur traditionsbewussten österreichischen Sozialdemokratie ausgeprägte Scheu der Volkspartei trat, sich als „Nachlassverwalterin des Christlichsozialen Lagers“ der Geschichte der Christlichsozialen Partei anzunehmen; Binder spricht sogar von der „Geschichtslosigkeit der ÖVP“.4 Diese Vorsicht hat ihre Entsprechung in der Frühgeschichte von CDU und CSU in Deutschland: Es kam zunächst darauf an, sich als „neue“ Partei zu präsentieren und die Traditionslinien zur Weimarer Zeit in den Hintergrund treten zu lassen, um verbreiteten Vorwürfen an die „Bürgerlichen“ zu begegnen, sie hätten den „Weg in die Katastrophe“ mitzuverantworten. Die Zustimmung des Zentrums zum „Ermächtigungsgesetz“ vom März 1933 war hier nach 1945 von ähnlicher Brisanz wie in der zweiten österreichischen Republik der Weg der ersten Republik in den „Ständestaat“ oder der Antisemitismus von Teilen der Christlichsozialen. Robert Kriechbaumer selbst hat 2001 in seinem umfassenden „Handbuch“ zu den „großen Erzählungen“ der österreichischen Politik von der Jahrhundertwende bis 1945 durch breitangelegte Abschnitte über das „katholisch-christlichsoziale Milieu“ und über die Christlichsoziale Parteiorganisation demonstriert, wie eine zugleich kultur- und sozialgeschichtlich orientierte Parteigeschichte das skizzierte Manko beheben kann.5

Die hier zu besprechende Edition ermöglicht nun einen Zugang zur Entwicklung der Christlichsozialen zwischen 1918 und 1934 anhand ihrer Parteitage und der dort gefassten programmatischen Beschlüsse. Denn anders als etwa die Beratungen des christlichsozialen Fraktionsvorstandes dienen Parteitage – darauf weist Kriechbaumer in einem knappen Vorwort hin – der „Repräsentation nach innen und außen“, erfüllen „die Funktion kollektiver Selbstbestätigung und innerer Geschlossenheit“, machen innerparteiliche Diskussionen sichtbar, wollen ein Forum ihrer Weiterführung und Bündelung zur Verfügung stellen und besitzen über die Herstellung einer „medialen Präsenz“ nicht zuletzt „Werbefunktion“ (S. 5). Parteitage spielen innerhalb des Geflechts aus machtpolitischer Strategie, gruppenbezogener Interessenvertretung und öffentlicher Meinung, durch das in der modernen parlamentarischen Demokratie „Politik gemacht“ wird, eine bedeutsame Rolle. Dem Anliegen entsprechend, über die Nachzeichnung ihrer Parteitage eine Geschichte der Christlichsozialen in der Ersten Republik sichtbar zu machen, ordnet Kriechbaumer das Material anhand der politischen Zäsuren der Jahre zwischen 1918 und 1934. Einsetzend mit „Zerfall und Neuorientierung“ führen die Dokumente über die „Ära der relativen Stabilität“ bis zur Diskussionsphase um die „Transformation des politischen Systems“ ab circa 1930 und der schrittweisen Selbstauflösung der Partei im Verlauf des Jahres 1934. Kriechbaumer leitet diese vier Großabschnitte mit kurzen Darstellungen zum Ereignisablauf ein, die eine Einordnung der in den Berichten thematisierten Entwicklungen und Konflikte erlauben.

Anders als vergleichbare Werke läd die Edition durchaus nicht nur zum Nachschlagen und Studium einzelner Quellentexte, sondern auch zur fortlaufenden Lektüre ein. Tatsächlich vermittelt sie eindringlich die Diskurse unterschiedlicher Strömungen und Akteure, die den politischen Entscheidungen der Christlichsozialen in der ersten Republik zugrundelagen. Der Bogen spannt sich vom mühsamen Ringen zwischen Vernunftrepublikanismus und fortbestehenden monarchischen Loyalitäten um eine konsistente Stellungnahme zum neuen Staat sowie zwischen föderalen und zentralstaatlichen Ordnungsvorstellungen in der Anfangsphase. Eine Rolle spielen zudem die Positionsbestimmungen der Christlichsozialen als Regierungspartei und als parlamentarischer Akteur in den Jahren bis 1930, aber auch die Auseinandersetzungen um den Staatsumbau und schließlich die Erosion der Partei zwischen Umgestaltungswillen, Überrumpelung, Vereinnahmung und Resignation. Die beiden Reden von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Parteiobmann Leopold Kunschak in der letzten Sitzung des christlichsozialen Parlamentsklubs, die bei aller Gemeinsamkeit der Österreich-Rhetorik doch gegensätzliche Perspektiven auf den Übergang und die Rolle der Partei in diesem Transformationsprozess präsentieren, öffnen am Schluss des Bandes den Blick auf die Interpretationsmöglichkeiten des Handelns der Christlichsozialen in den Krisenjahren zwischen 1930 und 1934.
Gerade die „Lesbarkeit“ des Quellenbandes von Kriechbaumer wirft aus editorischer Sicht jedoch auch kritische Fragen auf. Der Herausgeber kann nicht, wie das beispielsweise für die meisten Parteitage der deutschen Zentrumspartei möglich wäre, auf umfängliche gedruckte Parteitagsberichte und -protokolle zurückgreifen. Vielmehr ist die Edition der „Versuch einer historischen Rekonstruktion der Parteitage“ (S. 6), der sich vor allem auf Berichte in der „Korrespondenz Austria“ und in Tageszeitungen, allen voran der „Reichspost“ stützt. Darauf, wie auch auf die ergänzende Heranziehung von Quellenbeständen des Archivs der Republik, weist Kriechbaumer ist seinem zweiseitigen Vorwort nur summarisch hin, macht sein konkretes editorisches Vorgehen aber nicht transparent. Oft ist für den Benutzer nicht klar erkennbar, ob es sich bei den Quellentexten zu den jeweiligen Parteitagen um in dieser Form publizierte „Protokolle“ oder aus mehreren Veröffentlichungen kompilierte Berichte handelt. Nicht nachvollziehbar ist in der Folge zumeist, aus welchen Ausgaben der herangezogenen Presseorgane die Berichte entnommen sind. Zudem hätte man sich einen editorischen Apparat gewünscht, der die vielfältigen und wertvollen inhaltlichen, biographischen und bibliographischen Informationen, die in den teilweise umfassenden Fußnoten enthalten sind, systematisch aufbereitet hätte – einschließlich eines Literaturverzeichnisses.
Die Bedeutung des Bandes als wichtiger Beitrag zur Geschichte der Christlichsozialen und der Ersten Republik insgesamt können diese, gewiss auch aus der Struktur des vorhandenen Quellenmaterials selbst resultierenden editorischen Probleme indes nicht schmälern.

Anmerkungen:
1 Vgl. Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstandes der Deutschen Zentrumspartei 1926-1933, bearb. von Rudolf Morsey, Mainz 1969; Die Protokolle der Reichstagsfraktion der Deutschen Zentrumspartei 1920-1925, bearb. von Rudolf Morsey u. Karsten Ruppert, Mainz 1981; Volk, Kirche und Vaterland. Wahlaufrufe, Aufrufe, Satzungen und Statuten des Zentrums 1870-1933. Eine Quellensammlung zur Geschichte insbesondere der Rheinischen und Westfälischen Zentrumspartei, bearb. von Herbert Lepper, Düsseldorf 1998; Haunfelder, Bernd, Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei. Biographisches Handbuch und historische Photographien, Düsseldorf 1995; Die Zentrumsfraktion in der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung 1919-1921. Sitzungsprotokolle, eingeleitet u. bearb. von August Hermann Leugers-Scherzberg und Wilfried Loth, Düsseldorf 1994.
2 Goldinger, Walter (Hrsg.), Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932-1934, Wien 1980.
3 Morsey, Rudolf, Die Deutsche Zentrumspartei 1917-1923, Düsseldorf 1966; Ruppert, Karsten, Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923-1930, Düsseldorf 1992.
4 Binder, Dieter A., Vorwort, in: Goldinger, Walter; Binder, Dieter A., Geschichte der Republik Österreich 1918-1938, Wien 1992, S. 7-11, hier S. 10.
5 Kriechbaumer, Robert, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien 2001.

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