Die Konflikte im Irak sind immer wieder Anlass für mehr oder weniger überzeugende historische Rückblenden und Vergleiche. Die Suche nach ideologischen Kontinuitäten und geschichtlichen Wegmarken, die die Entwicklungen im Irak unter Saddam Hussein verständlich machen könnten, führt dabei oft genug zurück in die 1930er und 1940er-Jahre. In diesen Jahren erhielt der arabische Nationalismus, der im Baathismus radikale Gestalt annahm, seine wesentlichen Prägungen. In diese Jahre fällt auch der irakisch-britische Krieg vom Frühsommer 1941, in dem die deutsche Luftwaffe dem irakischen Premier Rashid Ali Kailani zu Hilfe kam.
Peter Wiens Studie, die im Rahmen des Projektes „Erlebnis und Diskurs – Zeitgenössische arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus“ am Berliner Zentrum Moderner Orient entstand, geht auf diese aktuellen – oft eher polemischen als erhellenden – Bezüge erfreulicherweise nicht ein; dennoch steht auch diese Arbeit zwangsläufig in deren Kontext.1 Gerade in der jüngeren Vergangenheit haben sich verschiedene Beiträge erneut den historischen Wurzeln radikaler arabisch-nationalistischer Ideologien angenommen. Im Mittelpunkt steht dabei die Germanophilie irakischer Nationalisten, die sich – so eine geläufige These – in expliziten ideologischen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus ausdrückte; zudem ging es um ganz konkrete Formen einer politischen Zusammenarbeit, die in der deutschen Waffenhilfe für die anti-britische Bewegung um Kailani gipfelte. Wiens erklärtes Ziel ist es, dieses Bild einer ausdrücklich pro-nazistischen irakischen Öffentlichkeit der 1930er und 1940er zu korrigieren: „This study shall give evidence that Germany was only one reference for nationalists among others. It challenges the previous assumption that there was a more or less coherent story of the pro-Nazi and pro-fascist inclination of Arab, and in particular Iraqi, intellectuals and politicians“ (S. 2).
Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Argumente. Erstens stand nicht jeder positive Bezug auf Deutschland für einen Verweis auf das nationalsozialistische Regime. Gerade unter den Angehörigen der älteren Generation – der sogenannten „Sherifian generation“, die von osmanisch-militärischer Erziehung geprägt wurde und die lange unter dem Eindruck der osmanisch-deutschen Militärzusammenarbeit stand – bezogen sich germanophile Äußerungen nicht auf den Nationalsozialismus, sondern auf Bismarck und das Kaiserreich. Zweitens implizierten autoritäre und totalitäre Tendenzen nicht notwendiger Weise eine explizit pro-nazistische Orientierung; prominentere Bezugspunkte waren der Kemalismus in der Türkei und die autoritären Reformen im Iran unter Reza Shah.
Wien bietet zwei unterschiedliche Zugänge zu den Debatten der 1930er und frühen 1940er-Jahre. Während er im ersten Hauptkapitel die ideologische Radikalisierung und die sich veränderten Bezüge auf Deutschland als Ausdruck eines biografischen Wandels der politischen Elite nachzeichnet, rekonstruiert er im zweiten Hauptteil anhand von Diskussionen in der zeitgenössischen Presse Facetten und Ausprägungen autoritären und totalitären Denkens. Der Putsch von 1936 wird von Wien als Beginn des Machtübergangs vom alten Establishment zur neuen Generation, der jungen Effendiyya, beschrieben, die sich aus der entstehenden urbanen Mittelklasse speiste. Anders als die alte Elite, die sich mit Großbritannien arrangiert hatte, zielte die neue Offiziers- und Politikergeneration auf eine Modernisierung des Landes und auf dessen völlige Loslösung vom europäischen Kolonialismus: „The Young Effendiyya expected to profit from a shift away from cooperation with imperialism to a national awakening as presented by Turkey, Iran, or some European states“ (S. 16). Diese Interessensverschiebung spiegelte sich in einem Wandel der Germanophilie, den Wien anhand von autobiografischen Texten verschiedener Vertreter der beiden Generationen nachzeichnet. Die ausdrücklich nationale Orientierung der ‚neuen Generation’ bedeutete eine Abkehr vom Militarismus des Kaiserreichs hin zu einer autoritären Modernisierung der Gesellschaft. Deutschland war danach nur eine Referenz unter verschiedenen autoritären Regimen jener Zeit. So argumentiert Wien: „Nazism and fascist movements in European countries were appealing from a contemporary Arab point of view, because they provided a successful model at the time” (S. 41). Diese Bezüge zum deutschen Modell beschränkten sich in Wiens Darstellung auf dessen modernisierenden Drang, verkörpert in der Person Hitlers als Führer der Nation: „Hitler’s role in that debate was merely one of a superior individual. Racist and expansionist implications of his ideology were apparently of little concern as far as we can conclude from the material at our hands“ (S. 41).
Diese selektive und oberflächliche Bezugnahme der Akteure auf den Nationalsozialismus findet Wien in einer Auswertung der irakischen Presse bestätigt. Er beschreibt nicht nur unterschiedliche Verweise auf den Nationalsozialismus, die sich beispielweise mit den Rassengesetzen und der deutsch-italienischen Solidaritätsbekundung an die arabischen Länder beschäftigen. Darüber hinaus geht er auf die öffentliche Wahrnehmung der Jugendbewegungen sowie auf deren Rolle in den anti-jüdischen Ausschreitungen im Juni 1941 ein. Männlichkeit und Disziplin waren hier zentrale Werte, die die Jugend der neuen Mittelklasse verbanden. Die internationale Boy Scout-Bewegung galt dabei als wichtiges Vorbild. In den Auseinandersetzungen des Frühjahrs 1941 spielten diese Organisationen eine besondere Rolle. Wien interpretiert die Eskalation der Ereignisse im Frühjahr 1941 als Ausdruck einer erneuten Revolte der radikaleren jungen Effendiyya gegen die überkommene Ordnung. Bei den Ausschreitungen Anfang Juni, der so genannten Farhud, handelte es sich schließlich um eine „pogrom-like attack of an uncontrolled, murdering mob rather than anything comparable to the crimes happening in Europe“ (S. 108). Dennoch kommt Wien auch hinsichtlich der Organisation der Jugendbewegungen zu dem Ergebnis, dass eine Übernahme faschistischer und nationalsozialistischer Ideologie auf eine phänomenologische Ebene beschränkt blieb.
In einer kurzen Schlussbetrachtung seiner Arbeit fasst Wien diese Ergebnisse wie folgt zusammen: “A comparison of the Iraqi debate with a theory of European fascism does indeed show parallels, but the differences weigh a lot heavier. […] The idea of a [national, G.N.] revival had no inclination toward imperialist expansion and rule of the superior race. Rather, a liberation from imperialist enslavement was intended. Iraqi intellectuals clearly perceived this difference between the European fascist states and, for instance, Turkey and Iran, the emerging strong states of the ‘East’. Hence, a proper term for the references to authoritarian, totalitarian, or fascist principles is ‘flirting with Fascist imagery’. There was no direct adoption of fascist thought” (S. 115). Diese Ergebnisse unterscheiden sich von zahlreichen anderen Arbeiten über diese Epoche. Wien hebt ausdrücklich hervor, dass es ihm nicht um eine Apologie geht, sondern um eine detaillierte Rekonstruktion der unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Bezüge zum Faschismus und zum Nationalsozialismus. Der generationsgeschichtliche Ansatz, der auf die biografischen Differenzen der Akteure hinweist, ist in dieser Hinsicht ebenso interessant und weiterführend wie die Auswertung der Tagespresse als Spiegel zeitgenössischer Debatten. Dennoch suggerieren Wiens Ergebnisse vielfach genau jene Eindeutigkeit, gegen die sich die Arbeit ausdrücklich richtet – wenngleich mit unterschiedlichem Vorzeichen. Während in früheren Studien Verweise auf den Nationalsozialismus oft als ungebrochene ideologische Affirmation gedeutet wurden, betont Wien die Abgrenzungen zum Nationalsozialismus. Statt diese als Nuancierungen zu deuten, erscheinen sie in dieser Darstellung als Beleg für das Fehlen direkter ideologischer Bezüge. Im Sinne der in der Einleitung angerissenen Unterscheidung zwischen einer „Fascist imagery“ und einer „fascist ideology“ (S. 3) deutet Wien schließlich selbst ausdrücklich positive Verweise auf den NS als beliebig und ohne ideologische Substanz. So bleibt an mancher Stelle unklar, welche Kriterien letztlich erfüllt sein müssten, um eine Charakterisierung als faschistisch oder nazistisch zu rechtfertigen.
Am Beispiel des 1935 unter anderem von Darwish Miqdadi initiierten Muthanna Clubs in Bagdad lässt sich dieses Problem verdeutlichen. Wien beschreibt den Club als einen intellektuellen Treffpunkt radikalerer nationalistischer Zirkel. Im Gegensatz zu früheren Darstellungen wendet er sich aber gegen die Annahme, der Club könne unumwunden als pro-nazistisch charakterisiert werden. In Bezug auf einen Zeitungsartikel aus dem Umfeld des Clubs, in dem der „Nationalsozialismus“ („al-ishtirakiyya al-qaumiyya“) als gelungene ideologische Verbindung von Nationalismus und Klassenkampf beschrieben wird, betont Wien, dass dieser Bezug auf den „Nationalsozialismus“ nicht zwangsläufig die deutsche nationalsozialistische Ideologie meine: „National Socialism was […] probably among the model concepts discussed in the Muthanna Club. However, […] the mere use of terms has only little to say about the actual concepts behind them. Today, the term National Socialism stands for a clear-cut image of ideology and a distinct historical period. For an intellectual of interwar Iraq, however, the terms might still have had their isolated meanings of ‘nationalism’ and ‘socialism’ combined” (S. 33).
Dieser Einwand lässt das substantielle Wissen über den Nationalsozialismus und die direkten Begegnungen mit Vertretern des NS außer Acht, die die intellektuellen Debatten jener Zeit zwangsläufig prägten. Gerade das Beispiel Miqdadi – eine der führenden Persönlichkeiten des Clubs, die von Wien am Rande erwähnt wird – stellt die Annahme einer ideologischen Unbestimmtheit der Verweise exemplarisch in Frage. Berücksichtigt man die – zugegeben spärlichen – Informationen über Miqdadis Aufenthalt in Deutschland in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre, erscheinen die im Club geführten Diskussionen in einem anderen Licht. So fungierte Miqdadi nicht nur als Leiter des Berliner Zweiges der pan-arabischen und teilweise explizit pro-deutschen Bewegung al-Hizb al-Qawmi al-Arabi, sondern stand noch 1938 dem Arabischen Club in Berlin, einem wichtigen Forum arabisch-nationalistischer Debatten, vor. Die Bedeutung seines Aufenthaltes in Berlin lässt sich daran erkennen, dass Miqdadi die von ihm verfochtene ‚semitische Wellentheorie’ vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in Berlin deutlich modifizierte.2 Während Miqdadi zuvor von einem ‚semitisch-arischen’ Gegensatz ausging, in dem die Arier mit den Kreuzfahrern identifiziert wurden, verschwand dieser Konflikt mit den Ariern ab 1939 aus seinen Schriften. Diese Korrektur lässt sich als politische und ideologische Reaktion auf Miqdadis direkte Konfrontation mit dem NS deuten.
Dennoch unterschieden sich Miqdadis Theorien weiterhin in wichtigen Details von den Prämissen der nationalsozialistischen Ideologie. Die Frage, die sich hier stellt, ist allerdings, inwiefern solche ideologischen Differenzen, die von Wien als Zeichen einer mangelnden Übernahme nationalsozialistischer Ideologie gedeutet werden, über jene hinausgingen, von denen die frühen nationalsozialistischen Ideologiedebatten selbst gekennzeichnet waren. In dieser Hinsicht erscheint auch die Betonung des generationsbedingten Wandels der Germanophilie der ‚Sherifian generation’ nicht unproblematisch. Auch hier liegt die Annahme einer monolithischen und historisch und ideologisch eindeutig abgrenzbaren nationalsozialistischen Ideologie zugrunde. Betrachtet man den Nationalsozialismus dagegen sowohl in seinen historischen Kontinuitäten zum deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts und zum preußischen Militarismus, aber eben auch als in sich widersprüchlich, wäre das Handeln und Denken von Personen wie Miqdadi anders einzuordnen. Die intellektuellen Debatten des Muthanna Clubs und das politische Wirken in seinem Umfeld wären dann gerade als aktive und kenntnisreiche Auseinandersetzungen und ‚produktive’ Aneignungen des NS durch arabisch-irakische Nationalisten zu lesen.
Schließlich spielten solche ideologischen Differenzen auch aus deutscher Sicht keine größere Rolle. Bei aller Vorsicht gegenüber autobiografischen Quellen bieten die Erinnerungen des deutschen Vertreters in Bagdad, Fritz Grobba, zahlreiche Hinweise auf die vielfältigen und substantiellen Kontakte zu irakischen Politikern und Intellektuellen. In einem Rückblick auf seine Zusammenarbeit mit arabischen Nationalisten sticht dabei eine Aussage Grobbas ins Auge. So beschreibt Grobba „fast tägliche“ Beratungen mit den neuen politischen Führern, die sich 1936 an die Macht geputscht hatten.3 Die Ermordung des Generalstabchefs im August 1937, mit dem Grobba in besonders enger Verbindung stand, tat diesem Einfluss und Kontakten keinen Abbruch. Die Täter, die aus dem Umfeld des Muthanna Clubs kamen, zeigten sich anschließend ihm gegenüber ebenso aufgeschlossen wie der von ihnen ermordete Generalstabschef. Was nicht verwundert, schließlich gaben sich die Repräsentanten des Clubs gegenüber Grobba ausdrücklich als ‚Nationalsozialisten’ zu erkennen.4 Diese direkten Begegnungen mit dem Nationalsozialismus sind für eine Deutung der öffentlichen Debatten im Irak der 1930er-Jahre daher von grundlegender Bedeutung.
Mit seiner biografischen Einordnung der autoritären und totalitären Tendenzen und der Rekonstruktion der Auseinandersetzungen in der irakischen Presse bietet Wien ein wichtiges Korrektiv früherer Arbeiten, in denen oft allzu uneingeschränkt Parallelen zur nationalsozialistischen Ideologie gezogen wurden. Dass auch diese Arbeit letztlich mehr Fragen aufwirft als beantwortet ist dabei alles andere als ein Makel. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Perspektiven und Grundannahmen, die die vorliegende Forschung zur Geschichte des Iraks prägen, wäre ein Text, der keinen Widerspruch erregt, Anlass zu größter Vorsicht.
Anmerkungen
1 Ein Projektbericht findet sich auf der Homepage des Zentrums Moderner Orient (Berlin): >http://www.zmo.de/forschung/projekte_2000_2003/erlebnis_diskurs.html<. Siehe auch: Höpp, Gerhard; Wien, Peter; Wildangel, René, Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus, Berlin 2004.
2 Siehe dazu: Jiha, Shafiq, Al-haraka al-‘arabiyya al-sirriyya. Jama‘at al-kitab al-ahmar. 1935-1945. Beirut 2004, S. 49; Arslan, Shakib, Une Soirée au Club Arabe de Berlin, in: La Nation Arabe, Nr. 18/19 Mai-Aug. 1938, S. 1005 sowie Dawn, Ernest C., An Arab nationalist view of world politics and history in the interwar period: Darwish al-Miqdadi, in: Dann, Uriel (Hg.), The Great powers in the Middle East, 1919-1939, Tel Aviv 1982, S. 359.
3 Grobba, Fritz, Die deutsche Ausnutzung der arabischen Eingeborenenbewegung im zweiten Weltkrieg. Foreign Military Manuscripts FMS, P-207, National Archives, Washington (eingesehen im Nachlass Gerhard Höpp, Zentrum Moderner Orient, Berlin), S. 26. Zu P-207 vgl. Schwanitz, Wolfgang G.: "The Jinnee and the Magic Bottle". Fritz Grobba and the German Middle Eastern Policy 1900-1945, in: ders. (Hg.), Germany and the Middle East. Princeton 2004, S. 87-117.
4 Ebd., S. 27.