Die Hochphase des sozial-revolutionären Terrorismus in der Bundesrepublik – der „Deutsche Herbst“ – jährt sich 2007 zum 30. Mal. Den Beiträgen, die sich mit den Ereignissen um die Schleyer- und die Landshut-Entführung beschäftigen, ist mediale Beachtung in diesem Jahr sicher, insbesondere im Hinblick auf die aktuelle Diskussion um eine Freilassung der letzten inhaftierten RAF-Terroristen. Aber auch die geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit ist dem Deutschen Herbst nun noch gewisser als in den Jahren zuvor, lassen sich doch nach Ablauf der Sperrfrist 2007 viele Aktendeckel des staatlichen Archivmaterials öffnen. Vor einer Reise ins Archiv lohnt sich allerdings der Blick in den hier vorzustellenden Tagungsband.
Ziel der Bielefelder Tagung1 wie der Publikation war bzw. ist es, die Terrorismusforschung stärker sozial- und kulturgeschichtlich zu fundieren und sie in den größeren Rahmen einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit zu stellen – ein Ziel, das der Mitherausgeber Klaus Weinhauer bereits an anderer Stelle wegweisend formuliert hat.2 Weinhauer, Haupt und Requate plädieren in ihren Beiträgen in mehrfacher Hinsicht für eine Neuausrichtung der Forschung: Erstens solle das komplexe Phänomen Terrorismus hinsichtlich seiner Interaktion mit Gesellschaft und Staat differenzierter als bisher analysiert werden. Dazu sollten beispielsweise die Begriffe „Terrorismus“, „Gesellschaft“ und „Staat“ kritisch reflektiert und die in einigen Studien vorherrschende statische Täter-Opfer-Dichotomie aufgegeben werden. Zweitens regen die Herausgeber an, die klassische Terrorismusdefinition Peter Waldmanns stärker zu berücksichtigen, derzufolge der Terrorismus eine Kommunikationsstrategie ist.3 Schließlich geht es ihnen darum, eine Brücke zwischen den bisher in der Forschung dominierenden Ansätzen zu schlagen – zwischen sozialwissenschaftlichen Studien, die meist auf strukturelle Erklärungen des Terrorismus fokussieren, und biografischen Ansätzen, die die Gründe für die Entstehung des Terrorismus auf individueller Ebene suchen. Ein Beispiel, wie fruchtbar eine solche Integration sein kann, liefert Donatella della Porta im vorliegenden Band. In ihrer Analyse der Entstehungsgründe des deutschen und italienischen Terrorismus berücksichtigt sie Elemente der Makro-, Meso- und Mikroebene und damit gesellschaftliche, gruppenspezifische und individualpsychologische Erklärungsansätze.
Einen Schwerpunkt der Publikation bilden Aufsätze zu den Subkulturen und Entstehungsmilieus des bundesdeutschen Terrorismus. Detlef Siegfried zeigt auf, wie sich die Außenseiterkonzepte der Subkulturen im Verlauf der 1960er-Jahre zunehmend zum gesellschaftlichen Trend entwickelten. So entschieden sich die Tupamaros München beispielsweise erst dann für eine Radikalisierung, als sie sich von Auflösungs- oder „Normalisierungserscheinungen“ bedroht sahen, wie Michael Sturm in seinem Beitrag ausführt. Auch Cornelia Brink konzentriert sich auf eine Gruppe, die in der Forschung eher selten berücksichtigt wurde: das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK). Bisherige Studien legten häufig einen Schwerpunkt auf die Gruppen, die sich radikalisierten und schließlich Gewalt gegen den Staat anwendeten. Diese Zusammenschlüsse waren für die Protestbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre allerdings keineswegs repräsentativ, wie der Aufsatz von Belinda Davis belegt. Weite Teile der Linken standen der Gewaltanwendung sehr kritisch gegenüber. In den linken Medien wurde in den 1970er-Jahren verstärkt über die nachteiligen Folgen der terroristischen Gewalt für die Durchsetzung der eigenen Ziele sowie über den Umgang mit terroristischen Gruppen diskutiert. Die sich entwickelnde „atemberaubende alternative öffentliche Sphäre“ (S. 178) hatte laut Davis nachhaltigen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft. Ihr Beitrag basiert neben Archivmaterial auf Interviews mit ehemaligen Aktivisten, die einen sehr guten Einblick in deren Selbstverständnis bieten. Aber gerade wo es sich um sensible retrospektive Fragen handelt, sollte die Validität der Antworten kritischer diskutiert werden (vgl. S. 165, Anm. 25). Wenn Davis über „repräsentative“ Antworten ihrer Interviewpartner spricht (S. 161), drängt sich insbesondere dem sozialwissenschaftlich orientierten Leser zudem die Frage nach der genauen Methode ihres Vorgehens auf (z.B. Anzahl und Art der Interviews, Auswahl der Interviewten).
Der zweite Schwerpunkt des Sammelbands liegt auf Beiträgen, die sich mit dem Verhalten der Regierung (Stephan Scheiper), der Polizei (Klaus Weinhauer) und der Justiz (Gisela Diewald-Kerkmann) gegenüber dem sozial-revolutionären Terrorismus beschäftigen. Scheiper zeigt am Beispiel der Terrorismusbekämpfung den grundlegenden Wandel der staatlichen Herrschaft auf. Anfang der 1970er-Jahre trat die bis dato dominierende Vorstellung einer rationalen, oft wissenschaftlich gestützten Planbarkeit von Politik in den Hintergrund. Eine Ausnahme bildete, wie Scheiper treffend feststellt, der Bereich der Terrorismusbekämpfung und der Inneren Sicherheit. Allerdings wurde auch hier bald deutlich, dass dem Instrument der politischen Planung Grenzen gesetzt waren. Aus planender wurde Ende der 1970er-Jahre reaktive Politik, die sich zunehmend öffentlichkeitswirksam ausrichtete.
„Verführt“ – „abhängig“ – „fanatisch“: Diese drei Interpretationsmuster identifiziert Diewald-Kerkmann als die dominierenden Erklärungsversuche von Gerichten, warum eine Angeklagte oder ein Angeklagter zur Terroristin oder zum Terroristen geworden sei. Diewald-Kerkmanns Argumentation, dass für männliche und weibliche Terroristen dabei unterschiedliche Maßstäbe und Erklärungsansätze verwendet worden seien, ist plausibel, anhand der vorgestellten Fallbeispiele empirisch aber nur schwer zu belegen. Gerade im Hinblick auf die Frage nach einer geschlechtsspezifischen Strafzumessung wäre es lohnend, die Studie um eine quantitative Analyse auf Basis der Gerichtsurteile gegen Terroristen zu erweitern.
Der Beitrag von Requate nimmt nicht den staatlichen Umgang mit den Terroristen in den Blick, sondern deren Verteidiger. Als einer der ersten Historiker analysiert Requate die in den 1970er-Jahren intensiv diskutierte Stellung der Anwälte „zwischen den Fronten“4 – zwischen den Erwartungen ihrer Klienten und den Werten und Institutionen der Bundesrepublik. Darüber hinaus untersucht Requate, wie die Anwälte und ihre Standesvertretungen mit den rechtlichen Einschnitten in ihre berufliche Handlungsfähigkeit sowie mit der zunehmenden öffentlichen Hetze gegen „Terroristenanwälte“ umgingen.
Der letzte Abschnitt des Sammelbandes ist der Bedeutung der Medien für die Strategie der Terroristen und den öffentlichen Terrorismusdiskurs gewidmet. Die Beiträge reichen von einer Analyse der Darstellung des Terrorismus im Spielfilm (Walter Uka) über die Untersuchung der im Terrorismusdiskurs häufig verwendeten Kriegsmetaphorik (Andreas Musolff) bis hin zur Bewertung des Phänomens Terrorismus als Medienereignis (Martin Steinseifer). Steinseifer kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass sich die RAF in ihrer Kommunikationsstrategie bei der Schleyer-Entführung verschätzt habe. Die an die Öffentlichkeit gelieferten Bilder wurden anders diskutiert und wahrgenommen als von den Terroristen geplant: Schleyer wurde in den Medien nicht als gefallenes Symbol des Kapitalismus, sondern als bemitleidenswertes Opfer von Kriminellen dargestellt – ein propagandistischer Fehlschlag für die RAF.
Hanno Balz skizziert einen weiteren wesentlichen Bestandteil des medialen Terrorismusdiskurses: den Sympathisantendiskurs. Auf Basis der Berichterstattung der überregionalen Presse zwischen 1970 und 1977 identifiziert Balz verschiedene Phasen, in denen sich das Bild des typischen Sympathisanten wandelte. Standen zu Beginn der 1970er-Jahre mit Heinrich Böll und Peter Brückner noch bekannte Intellektuelle im Mittelpunkt der Diskussion, wurde die Debatte in den nächsten Jahren zunehmend „gesichtsloser“ (S. 321). Ein besonders anregender Aspekt des Aufsatzes ist der Vergleich dieser abnehmenden Personalisierungstendenzen der „Sympathisantengenerationen“ mit denen der Terroristengenerationen.
Insgesamt besteht der Sammelband aus qualitativ sehr guten Einzelbeiträgen, auch wenn manche Beschreibungen von Details oder bekannten Fakten hätten gekürzt werden können. Andererseits macht gerade diese detaillierte, umfassende und verständliche Darstellung das Buch für Neueinsteiger in die Thematik interessant.5 Doch auch Experten können aus der Publikation Nutzen ziehen – vor allem aufgrund der Diskussion von methodischen und theoretischen Ansätzen, der aufgeworfenen Fragen sowie der Ergebnisse zu verschiedenen neuen Aspekten der Thematik. Der Sammelband eignet sich somit als einführende wie auch als weiterführende Lektüre zu den Ereignissen, die die Bundesrepublik vor 30 Jahren bewegten.
Anmerkungen:
1 Siehe den Bericht von Hanno Balz: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=584>.
2 Weinhauer, Klaus, Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 219-242, online unter URL: <http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/raf/weinhauer_as.pdf>.
3 Waldmann, Peter, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 191.
4 Berlit, Uwe; Dreier, Horst, Die legislative Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, in: Sack, Fritz; Steinert, Heinz (Hrsg.), Protest und Reaktion, Opladen 1984, S. 227-318, hier S. 253.
5 Auch das neue Standardwerk von Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006, bietet auf seinen über 1.400 Seiten einen sehr guten sowie detaillierten Einblick in die Thematik; zusätzlich eröffnet es internationale Perspektiven. Allerdings scheint es eher für Experten als für Neueinsteiger in das Thema geeignet zu sein.