U. Kempf; H.-G. Merz (Hg.): Kanzler und Minister 1949-1998

Cover
Titel
Kanzler und Minister 1949-1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen


Herausgeber
Kempf, Udo; Merz, Hans-Georg
Anzahl Seiten
839 S.
Preis
DM 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ahlheim, Hannah

Die Herausgeber des im Juli 2001 erschienenen “Biografischen Lexikons der deutschen Bundesregierungen” haben es sich zur Aufgabe gemacht, eine “Lücke im Bereich der Institutionen” (S. 4) zu schließen und eine Grundlage für eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit der Arbeit und den Erfolgen und Mißerfolgen der deutschen Bundesregierungen zu schaffen. Sie scheinen mit dieser Veröffentlichung wirklich eine Lücke zu füllen; im letzten Jahr erschien der erste Band des “Handbuches des deutschen Auswärtigen Dienstes 1872 - 1945”, im nächsten Jahr wird im K.G. Saur Verlag das “Biografische Handbuch der Mitglieder des deutschen Bundestages 1949 - 2001” erscheinen.

Formuliertes Ziel des “Lexikons der deutschen Bundesregierungen” ist es, “den Lesern und Benutzern (...) ergänzend eine Vorstellung von den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen im Kontext der verfassungsmäßig-gesetzlichen, organisatorisch verfahrensmäßigen und politischen Handlungsbedingungen modernen Regierens” zu vermitteln (S. 44), und einen Anstoß zu weiteren Forschungsaufgaben zu geben, da “verschiedene ‘weiße Flecken’, die vor allem hochsensible personalpolitische und organisationspolitische Vorgänge sowie partei- und fraktionsinterne Problemlagen betreffen”, durch “’farbige Bilder’” zu ersetzen seien (S. 42).

Der Aufbau des Lexikons ermöglicht sowohl einen schnellen Zugriff auf wichtige Daten als auch einen ersten Einblick in die Grundstrukturen und die Entwicklungen der deutschen Bundesregierung.
Während der Anhang die wichtigsten Daten zusammenzufassen sucht, bieten die beiden von den Herausgebern verfaßten Teile der Einleitung, “Die Regierungsmitglieder als soziale Gruppe” (Udo Kempf) und “Regierungshandeln im Lichte einer Befragung deutscher Bundesminister” (Hans-Georg Merz), eine inhaltliche Ergänzung und einen “Leseleitfaden”. Sie vermitteln Hintergrundwissen und weisen auf wiederkehrende Grundmuster und Probleme bei der Arbeit der einzelnen Kabinette hin.
Den Hauptteil bilden die einzelnen Biographien, deren Umfang sich nach der Bedeutung der Kanzler und Minister/Innen richtet.

Der Anhang enthält zunächst eine Auflistung der Kabinettsmitglieder von der ersten bis zur dreizehnten Wahlperiode, außerdem die Stimmaufteilung bei der Wahl der einzelnen Bundeskanzler in chronologischer Folge sowie eine alphabetische Auflistung der Ministerien und der jeweiligen Minister. Schließlich folgt eine Kurzübersicht der Amtszeiten der Bundeskanzler und Bundesminister. Zusätzlich zu den hier gesammelten Daten erweist sich eine Zeitleiste mit den wichtigsten Lebensdaten der einzelnen Kabinettsmitglieder am Anfang der Einzelbiographien als hilfreich.
Die Literaturangaben am Ende der Artikel nennen aktuelle biographische Studien; Literatur zur Struktur, Funktionsweise und Geschichte der Bundesregierungen ist im anhängenden Verzeichnis und im Einleitungsteil angeführt.

Eine nette Entdeckung bei der Nutzung des Lexikons ist auch der Bildteil, der dem Leser die 155 Gesichter vergegenwärtigt.

Udo Kempf bietet mit seinem Einleitungsteil einen statistischen Überblick über die sozialen Hintergründe der Kanzler und Minister, er fragt beispielsweise nach der Amtsdauer, nach dem erworbenen Bildungsgrad, der Konfession oder der regionalen Herkunft. Eine Auflistung der Geburtsjahrgänge und eine Auszählung der Kriegsteilnehmer unter den Kabinettsmitgliedern sollen eine Idee von den Zeitumständen vermitteln, durch die die bundesdeutschen Politiker geprägt waren (und sind). Einen Überblick über politische Aktivitäten oder Einstellungen der “Generation der Leutnants und Flakhelfer” ( S. 14) vor 1945, wie zum Beispiel eine mögliche Mitgliedschaft in der NSDAP, bleibt der Autor allerdings schuldig. Kempf gibt weiterhin einen kurzen Überblick über “Karrieremuster” und Gründe, die zum Ausscheiden aus dem Amt führten.

Hans-Georg Merz wertet eine Befragung deutscher Bundesminister aus, um dem Leser einen “’Blick durch die Augen der Minister’” ( S. 43) zu gestatten. Er legt dabei kurz die “Prinzipien des Regierens” in der Bundesrepublik Deutschland dar (S. 36 ff), um die Stellung eines Ministers und die Relevanz der persönlichen politischen Fähigkeiten des Einzelnen zu erläutern. Mit der Erwähnung der “starken Position des deutschen Regierungschefs” und der “Dualstruktur eines Ressorts”, die dem Minister einen Balanceakt zwischen verwaltungstechnischen Fähigkeiten und persönlichen Führungsqualifikationen abverlange, rechtfertigt Merz auch den biographischen Ansatz der Veröffentlichung.

Die einzelnen Biographien verschiedener Autoren gehen über die standardisierte Form, die bloße Darstellung von Daten und Fakten hinaus und versuchen eine Einordnung in den historischen Kontext, eine Interpretation der politischen Rolle der Kanzler und Minister/Innen und eine “Würdigung” ihrer Arbeit, die laut Vorwort in den meisten Fällen bisher zu kurz gekommen sei. Dieser Versuch einer komplexeren Schilderung des Lebensweges einzelner Personen macht die Lektüre spannender und aufschlußreicher, birgt aber die Gefahr allzu subjektiver Darstellung und Deutung.

Mitunter scheint die politische Einstellung des Autors eine nicht zu vernachlässigende Größe bei der Formulierung und der Auswahl der “Daten und Fakten” gewesen zu sein, literarische Bemühungen bringen in einigen Fällen eine etwas vereinfachende historische und psychologische Interpretation mit sich. So sieht Hartmut Soell die “zornige Generation” Helmut Schmidts “von Hitler und seinen Spießgesellen um ein Jahrzehnt (...) ihres Lebens betrogen” und ihren “Patriotismus und ihr Pflichtbewußtsein (...) vom Regime (...) mißbraucht”, ohne daß sie ihren Zorn hätten ausleben können, da “angesichts der - den meisten Deutschen, auch der Masse der Soldaten - erst nach dem Krieg in Ausmaß und Tiefe bekanntgewordenen Barbareien des NS-Regimes ihr Land über Nacht das Antlitz eines Monsters trug, das jeden Zornesschrei verstummen ließ.” (S. 596 f) Merkwürdig mutet auch Soells Frage an, “ob eine intensivere Umweltpolitik (Schmidts, d.V.) die Gründung der Grünen 1980 verhindert hätte”, wo sich doch als der harte Kern der Grünen “jene linkssozialistischen und kommunistischen Altkader der Studentenbewegung (entpuppten), die jahrelang vergeblich nach größeren Massen und Themen gesucht und diese dann im Widerstand gegen die Kernenergie und später gegen den NATO-Doppelbeschluß” gefunden hätten. ( S. 605)

Ansonsten erfreuen altbekannte Bewertungskategorien; Rudolf Morsey beispielsweise sieht Heinrich Lübke “gradlinig, unbestechlich und anspruchslos”, er erfüllte sein Amt als Bundespräsident “redlich und gewissenhaft, auch mit Eigensinn, aber ohne Glanz und Ausstrahlung.” ( S. 453 f) Mut macht der Schlußsatz: Lübkes erstaunliche “Modernität” sei erst im Nachhinein deutlich geworden, auf “neues Verständnis kann schließlich sein Bekenntnis zum ‘einfachen Leben’ in überschaubaren Verhältnissen rechnen.” (S. 454)
Christian Hacke überrascht mit der Erkenntnis, daß die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kiesinger 1968 verpaßte, kein “moralischer Treffer (war), sondern Ausdruck von Hass gegenüber einer Generation, die pauschal von den Jüngeren für schuldig erklärt wurde” (S. 353). Schließlich hatte Kiesinger während seiner Tätigkeit im Außenministerium 1940-1945 im Bereich Rundfunk und Propaganda “antijüdische Propaganda zu verhindern” versucht - wie man kurz vor seiner Wahl zum Bundeskanzler “entdeckte” (S. 353).

Insgesamt liefern die Einzelbiographien einen guten Überblick über den beruflichen Werdegang der Kanzler und Minister/Innen und erleichtern die Orientierungen und das Verständnis durch die Einordnung in weitere politische und gesellschaftliche Zusammenhänge.

Sie enthalten auch immer wieder einen Bezug zur Politik der Gegenwart: Gerade heute erfreut die Formulierung, die Leistungen der Regierungen Kohl/ Genscher seien “überschattet (gewesen) durch Pannen und Affären” ( S. 379), während Otto Schily Erwähnung findet als Nachfolger Manfred Kanthers, weil er “bei der Amtsübergabe den Grundkonsens der demokratischen Parteien in Fragen der inneren Sicherheit” hervorhob und Kanthers Gesetze zur Verbrechensbekämpfung rechtfertigte, die “von manchen als massiver Angriffe auf bürgerliche Freiheitsrechte kritisiert, von der Mehrzahl der Bevölkerung jedoch als notwendige ‘Waffen’ für eine erfolgreiche Verbrechensbekämpfung angesehen und gefordert” wurden (S. 344), und damit ein Beispiel liefert für die Kontinuität politischer Strukturen und politischen Handelns.

Mit seinen informativen Artikeln und dem statistischen Anhang ist das “biografische Lexikon” also hilfreich und nützlich, wenn man sich mit Geschichte und Strukturen der deutschen Bundesregierungen beschäftigen will, es sortiert Daten und Fakten und gibt zudem Gelegenheit, sich an Nuancen der Geschichtsdeutung zu erfreuen.

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