In den einführenden Bemerkungen von Erwin Oberländer, Hans-Christian Maner und Hans Lemberg sowie in der Zusammenfassung Jan Kusbers wird der vorliegende Sammelband thematisch im Forschungsfeld der Habsburgermonarchie und konzeptuell in dem der Grenzregionen bzw. des Zentrum-Peripherie-Modells verortet. Methodisch wird auf Anregungen der postcolonial theory zurückgegriffen, etwa wenn Zentrum und periphere Regionen weder territorial, noch im zeitlichen Verlauf als starre Größen verstanden werden, sondern als sozialer Interaktionszusammenhang, in dem Machtbeziehungen immer wieder neu ausgehandelt werden. Innerhalb der durchaus zum Nebulösen neigenden Studien über Grenzen und Grenzräume gehört der vorliegende Band zu den empirisch gesättigten und in der Anlage gut geplanten. Der damit grob nachgezeichnete Rahmen eines Mainzer Forschungsprojektes (Volkswagen-Stiftung) eignet sich in hervorragender Weise, alte und neue Erkenntnisse über die Geschichte der Habsburgermonarchie neu zu betrachten und zu verorten. Insbesondere stellt der Band eine wertvolle, da auf die Grenzregionen fokussierte Ergänzung zu dem von Waltraut Heindl und Edith Sauer herausgegebenen Sammelwerk zum Passwesen, der Staatsbürgerschaft sowie zum Heimatrecht und Fremdengesetzgebung der österreichischen Monarchie dar.1
Territorial spannt der Band einen weiten Bogen am Nordost- und Süd(ost)rand des Habsburgerreiches von Schlesien und Böhmen, über Galizien, die Bukowina und das Banat, hin zu Lombardo-Venetien, Bosnien-Herzegowina und Dalmatien sowie Tirol. Der gewählte zeitliche Rahmen – im Wesentlichen ab 1740 bis 1918 – ergibt sich aus den zentralisierenden Bestrebungen im Zeichen des aufgeklärten Absolutismus seit Maria Theresia und der Auflösung der Habsburger Monarchie mit dem Ende des Ersten Weltkrieges.
Mit merkantilistisch ausgerichteter Peuplierungspolitik im Temeschwarer Banat und in der Bukowina beschäftigen sich Robert Born und Kurt Scharr. Beide Regionen waren als Neuaquisitionen des 18. Jahrhunderts aus der Perspektive Wiens geeignet, in wirtschaftlicher, administrativer und militärischer Hinsicht als „Laboratorium“ (S. 37) zur Durchsetzung eines „modernen Territorialstaates“ (S. 51) zu dienen. Die Autoren zeichnen Absicht und Verlauf der Ansiedlung vorwiegend katholischer Siedler in den Regionen nach und verweisen auf den dadurch vollzogenen Bruch in den Agrarbesitzverhältnissen. Ein Strukturmerkmal der habsburgischen Landeseinrichtung in peripheren Regionen scheint dabei eine intensive Kartierungstätigkeit „als Mittel der Grundzuteilung, Steuerregulierung sowie zur Klärung der Eigentumsverhältnisse“ (S. 59) gewesen zu sein. Gleichwohl arbeitet Scharr als Hauptgrund für den begrenzten Erfolg der Peuplierung der Bukowina die geringe Landeskenntnisse der damit betrauten Beamten und die einander teilweise widersprechenden Absichten der Behörden heraus.
Das Motiv der Uneinigkeit der Wiener Behörden steht im Zentrum von Hans-Christian Maners Aufsatz zu Galizien. In der ersten Teilung Polens erworben, wurde die Region zunächst als Kompensationsobjekt betrachtet, später schwankte ihre Perzeption zwischen der eines „Musterlandes“ aufklärerischer Kulturmission sowie neuer Staatsordnung (S. 112) und der eines militärischen Walls der Monarchie gen Osten. Ebenso schwankend war die Rolle der Ruthenen in der Konzeption Wiens, worauf Maner und insbesondere Oleh Turij bezüglich der habsburgischen Religionspolitik in Galizien hinweisen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert konnte Wien auf die Unterstützung der polnischen Großgrundbesitzerpartei im Reichsrat nicht mehr verzichten, so dass die Einrichtung einer griechisch-katholischen Kirche für die Ruthenen nicht in genügendem Maße ausreichte, diese für die soziale Bedrückung seitens des polnischen Adels zu kompensieren und sie von einer pro-russischen Ausrichtung abzuhalten.
Auf die beginnende Nationalisierung geht auch Andrei Corbea-Hoisie für die Bukowina ein, wenn er das Jahr 1892 als „nationale“ Wende (S. 89) beschreibt, in dem es Wien nicht gelang, die beginnende Organisierung der Parteien im Czernowitzer Landtag vorwiegend nach der nationalen Logik zu verhindern.
In den Aufsätzen Dan Gawreckis zu Schlesien und Markus Krzoskas zu Böhmen wird die Genese des nationalen Konfliktes aus Bestrebungen zur Regionalautonomie herausgearbeitet. Die Hauptkonfliktlinie verlief in beiden Provinzen zwischen der Wiener Zentralismuspolitik, später angefeuert durch die deutsch-nationale Bewegung Österreichs, und tschechischen Bemühungen um eine trialistische Organisation der Habsburgermonarchie mit einem slawischen Reichsteil. Während das staatsrechtliche tschechische Programm mit der Einheit der böhmischen Länder – Böhmen, Mähren, Schlesien – im österreichisch verbliebenen Schlesien nicht nennenswert vorankam, sah die Lage in Böhmen anders aus. Dort bedrängte die Peripherie das Zentrum (S. 146). Anhand der Badeni-Unruhen 1897, hervorgerufen durch die Sprachverordnungen des gleichnamigen Ministerpräsidenten, wonach die Behörden in Böhmen und Mähren sich im Amtsverkehr des Tschechischen und Deutschen bedienen mussten, analysiert Krzoska die Dynamik zwischen Zentrum und Peripherie. Er konzentriert sich dabei insbesondere auf die Mobilisierungserfolge der Tschechen und Deutsch-Nationalen in böhmischen frontier-Städten wie Eger und beschreibt dies als „Kampf um das Rathaus“ (S. 154).
Mit Tirol behandelt Hans Heiss einen geografischen Sonderfall in diesem Band, der auf seine alpine und westliche Lage innerhalb der Habsburgermonarchie zurückzuführen ist. Wie bereits für das Banat und die Bukowina erwähnt, betont auch Heiss die überragende Rolle der Kartografie im ausgehenden 18. Jahrhundert für eine „Wahrnehmungsrevolution“ (S. 173) Tirols unter den Eliten und einem beginnenden Wandel in der Selbstperzeption der Tiroler Untertanen. Neben diesem kulturellen Prozess legte die kurze napoleonische Besetzung der Region die Grundlagen für spätere Zentralisierungs- wie Nationalisierungsschübe. Wien war nach der Wiederinbesitznahme der Region nicht zur Wiederherstellung der alten Verhältnisse bereit, nicht zuletzt weil der Region nun als „Alpenfestung“ eine strategische Bedeutung zukam (S. 180). Der bei Heiss nur kurz angerissene italienische Aspekt, steht im Zentrum von Bernhard Schmitts Analyse Lombardo-Venetiens im Gefüge des habsburgischen Konskriptionssystems. Dieser Region kam innerhalb des Gesamtstaates dadurch eine Pilotfunktion zu, dass die Rekrutierung der Soldaten auf lombardo-venezianischer Grundlage nach 1845 eine reichsweite Vereinheitlichung und Egalisierung erfuhr.
Markus Koller und Konrad Clewing wenden sich anhand Bosniens und der Herzegowina sowie Dalmatiens dem südslawischen Bereich zu. Mit dem Bericht des österreichisch-ungarischen Generalsstabs über den Aufstand in der Herzegowina, Südbosnien und Dalmatien wählt Koller eine sehr „sprechende“ Quelle aus, an der er den kolonialen Blick der Zentrale auf diese Region und deren muslimische und orthodoxe Bewohner demonstriert. Als Gründe für den Ausbruch des Aufstandes arbeitet er neben der sozial konservativen Grundbesitzpolitik zu Lasten der zumeist orthodoxen Bauern insbesondere das Wirken von Außenzentren in Gestalt panslawistischer und panislamischer Agitation heraus. Konrad Clewing stellt an seinem dalmatinischen Beispiel des Komplexes Zentrum-Peripherie Überlegungen zu der Frage an, die manch einem Habsburgnostalgiker heute noch unbeantwortet zu sein scheint: Weshalb ist die Habsburgermonarchie eigentlich so sang- und klanglos kollabiert? Auf der empirischen Ebene demonstriert er zunächst den „begrenzten Wert strategischen Wertes“ der Region (S. 217) für den dort äußerst schleppenden Ausbau der Verkehrs- und Bildungsinfrastruktur. Auch in agrarstruktureller und wirtschaftspolitischer Hinsicht blieb Dalmatien vernachlässigt. Was hatte Wien peripheren Provinzen wie Dalmatien eigentlich wirtschaftlich zu bieten und welche politischen Mittel standen dafür zur Verfügung, fragt Clewing, und antwortet: zu wenig! Seiner Lesart des habsburgischen Scheiterns zufolge vermochte sich die Habsburgermonarchie niemals zu einem föderalistischen Solidarstaat entwickeln, da ihre zentralistischen Strukturen im Dualismus allenfalls eine Zweiteilung erfuhren, aber keinen wirklichen Schritt zur wirtschaftlichen Modernisierung und politischen Partizipation auch der peripheren Provinzen bedeutete.
Abgesehen von zahlreichen Erwähnungen, diese oder jene Region habe in der einen oder anderen Hinsicht eine Laboratoriumsrolle für das Wiener Zentrum gespielt, lässt der Band auf der anderen Seite synthetisierende Überlegungen darüber vermissen, was die mehr oder weniger peripheren Regionen Wien zu bieten hatten. Die Rolle der Grenzregionen als Ort administrativer Feldversuche kann jenseits des Stolzes eine Vorreiterrolle gespielt zu haben, durchaus als Indiz für die Unfähigkeit des Zentrums gedeutet werden, notwendige Modernisierungsmaßnahmen auch in den zentralen Regionen rechtzeitig durchzuführen. Eine Bilanz solcher regionaler Feldversuche müsste auch die sozialen und wirtschaftlichen Kosten abgebrochener und fehlgeschlagener Projekte mit einbeziehen und würde wohl auch im Sinne Clewings für viele der Grenzregionen durchaus ambivalent ausfallen.
Anmerkung:
1 Heindl, Waltraut V.; Sauer, Edith (Hgg.), Grenze und Staat. Passwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien 2000.