Unter den deutschen Rechts- und Staatswissenschaftlern des 19. Jahrhunderts ist der Name August Ludwig von Rochaus heute weitgehend vergessen. Dass Hans-Ulrich Wehler Rochaus zentrales Werk „Grundsätze der Realpolitik“, dessen zwei Teile 1853 bzw. 1869 erstmals erschienen, 1972 neu herausgegeben hat1, hat daran nichts Wesentliches geändert. Zu Lebzeiten des Autors fand das Buch hingegen breite Beachtung. Kein geringerer als Heinrich von Treitschke schrieb 1873 in einem Nachruf auf Rochau, dessen „Grundsätze“ seien „wie ein Blitzstrahl in die besseren Köpfe der Jugend eingeschlagen“.
Sein politisches Engagement begann Rochau während des Studiums der Rechtswissenschaften in Jena und Göttingen als radikaler Burschenschafter (nicht „Burschenschaftler“, wie es bei Doll auf S. 1 und auch sonst bei vielen Autoren immer wieder falsch heißt). Seine Teilnahme an dem kläglich gescheiterten „Frankfurter Wachensturm“ von 1833 brachte ihn für drei Jahre ins Gefängnis und bereitete seiner juristischen Karriere ein jähes Ende. Nach einem anschließenden zehnjährigen Exil in Paris kehrte Rochau 1846 nach Deutschland zurück und gehörte bald darauf zu den Aktivisten der Revolution von 1848/49; seine Kandidatur zur Frankfurter Nationalversammlung blieb allerdings erfolglos. 1852 aus politischen Gründen aus Preußen ausgewiesen, ließ Rochau sich zunächst in Heidelberg nieder und zählte 1859 zu den Mitbegründern des „Deutschen Nationalvereins“, dessen „Wochenschrift“ er seit 1860 herausgab. Seine Wahl in den ersten deutschen Reichstag 1871 als Vertreter der Nationalliberalen Partei markierte den späten Höhepunkt seiner politischen Laufbahn.
Position und Rezeption von Rochaus Werk in den Rechts- und Staatswissenschaften des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs der „Realpolitik“ sind Gegenstand der rechtshistorischen Dissertation von Natascha Doll. Die Geschichte dieses Begriffs wird von der Autorin unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur nachgezeichnet. In der politischen Publizistik und der Historiografie des 20. Jahrhunderts wurde mit „Realpolitik“ in negativer Absicht vor allem die opportunistische Anpassung des liberalen Bürgertums an den machtpolitischen Status quo und damit der Verrat an den freiheitlichen Idealen von 1848 umschrieben. Rochaus Werk wurde entsprechend als das Manifest einer solchen Anpassung gedeutet. Es ist der unbestrittene Verdienst der Studie von Doll, dass sie mit dieser einseitigen Vorstellung gründlich aufräumt. Tatsächlich, so wird gezeigt, wies Rochaus Postulat der „Realpolitik“ starke Parallelen zur „Politique Positive“ seines französischen Zeitgenossen Auguste Comte (1798-1857) auf und ist als strategische Reaktion auf das Scheitern der Revolution von 1848/49 zu werten, nicht aber als Aufgabe der damit verbundenen politischen Ziele. Statt sich mit der Niederlage einfach abzufinden, gab Rochau die Losung aus, „das faktische Machtpotential derjenigen Gruppe zu betonen, die die Märzrevolution getragen hat und aus deren gesellschaftlicher Vormachtstellung auch eine politische Vormachtstellung abzuleiten“ (S. 80, vgl. auch S. 176). Wird diese These auch fundiert untermauert, so macht sich doch nachteilig bemerkbar, dass Doll an keiner Stelle ihren eigenen Politikbegriff nachvollziehbar definiert. Dies ist um so bedauerlicher, als gerade seit jüngster Vergangenheit die Frage einer kulturgeschichtlichen Weiterung der „klassischen“ Politikgeschichte, das heißt die zunehmende Berücksichtigung auch der kommunikativen und der symbolischen Aspekte des „Politischen“, in der Forschung vermehrt diskutiert wird. 2 Die der Thematik innewohnenden methodischen Möglichkeiten werden so leider nicht ganz ausgeschöpft.
Auf die konkreten staatspolitischen und gesellschaftlichen Vorstellungen, die Rochau aus seinem „realpolitischen“ Ansatz ableitete, geht Doll allerdings detailliert ein. Im Gegensatz zur liberalen Verfassungslehre des Vormärz, wie sie am prominentesten von süddeutschen Liberalen wie Carl von Rotteck und Karl Theodor Welcker repräsentiert wurde, lehnte Rochau es ausdrücklich ab, eine Verfassung als „gut“ oder „falsch“, das heißt an ihren konkreten Inhalten zu bewerten. Relevant sei einzig, ob die maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte ihrem „Verhältniswert“ entsprechend „zur staatlichen Geltung“ gebracht würden (S. 43). Eine verfassungsrechtliche Wiederbelebung altständischer Repräsentationsformen hielt Rochau für anachronistisch, da der Adel seine Bedeutung sowohl in politischer als auch ökonomischer Hinsicht eingebüßt habe. Stattdessen müsse eine zeitgemäße Repräsentation der „richtige Ausdruck“ der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sein. Damit meinte Rochau aber gerade nicht, dass die Gesellschaft so, wie sie sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich zusammensetzte, in einer parlamentarischen Versammlung auch realistisch abgebildet werden müsse. Was ihm vorschwebte, war vielmehr ein neoständisches Vertretungsmodell 3, das ganz auf den bürgerlichen Mittelstand als die treibende Kraft der nationalpolitischen Bewegung, den „eigentlichen Träger der gesellschaftlichen Kultur“ und Garanten des politischen wie ökonomischen politischen Fortschritts zugeschnitten sein sollte (S. 49). Mit der Begründung, der Volkswille könne durch Demagogen nur allzu leicht verfälscht werden, plädierte Rochau für ein „geschichtlich bewährtes“ Zensuswahlrecht und damit den Ausschluss des – in seinen eigenen Worten – „großen Haufens“ von jeder politischen Mitwirkung. In dieser Hinsicht erwiesen sich Rochaus Vorstellungen noch zu seinen eigenen Lebzeiten als überholt. Auf den historischen Kontext geht Doll in ihrer Darstellung nur ganz punktuell ein, etwa wenn sie die Erfahrung des Staatsstreichs Louis Napoleons von 1851 als prägend für Rochaus desillusionierten Verfassungsbegriff schildert (S. 43f.). Eine stärkere und kontinuierlichere Berücksichtigung des historischen Hintergrundes hätte sich der Rezensent gewünscht.
Ihr umfangreichstes Kapitel widmet Doll der Rezeption des „Realpolitik“-Begriffs in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts (S. 103 - 166) und schlägt dabei einen weiten Bogen von „Polit-Historikern“ wie Treitschke und Johann Gustav Droysen über liberale „Idealpolitiker“ wie Rotteck und Welcker sowie konservative Publizisten wie Friedrich Julius Stahl bis hin zu Vorreitern der empirisch ausgerichteten Politikwissenschaft wie etwa Robert von Mohl. Die ellenlange Aufzählung und Vorstellung der einzelnen Gelehrten und Denker wirkt jedoch rasch ermüdend. Eine systematische, an Grundbegriffen statt an einzelnen Personen orientierte Untergliederung hätte diesem Abschnitt ebenso gut getan wie eine deutliche Straffung, zumal manche der vorgestellten Standpunkte nach Dolls eigener Erkenntnis mit den Positionen Rochaus kaum Berührungspunkte aufweisen.
In formaler Hinsicht ist zu monieren, dass das Schrifttumsverzeichnis die gedruckten Quellen und die benutzte Sekundärliteratur nicht getrennt ausweist, was für Unübersichtlichkeit sorgt. Die dahinter beigefügte Bibliografie der Schriften Rochaus ist vom Grundsatz her sicherlich sinnvoll; die Aufnahme auch der regelmäßig erscheinenden und stets nur zweiseitigen „Wochenberichte“ für die „Wochenschrift des Nationalvereins“, die etwa neun Zehntel des Verzeichnisses füllen, ist ohne eine Kurzangabe des Inhalts für den Leser freilich wenig nützlich. Schließlich macht sich gerade in einer ideengeschichtlich ausgerichteten Arbeit das Fehlen eines Personenregisters schmerzlich bemerkbar. Dass die in Zeiten moderner Textverarbeitungsprogramme so unkompliziert gewordene Registererstellung in vielen Qualifikationsschriften immer noch unterbleibt, verwundert stets aufs Neue.
Festzuhalten bleibt, dass Natascha Doll ihre zentrale These einer fälligen Neubewertung der Rochauschen „Realpolitik“ im Sinne einer langfristigen Machterwerbsstrategie des Bürgertums sprachlich eloquent und sachlich überzeugend darzulegen weiß. Angesichts mancher Längen und Redundanzen in der Darstellung stellt sich den kritischen Leser/innen allerdings unwillkürlich die Frage, ob ein etwas längerer Aufsatz hierfür nicht auch ausgereicht hätte.
Anmerkungen
1 Rochau, Ludwig August von, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, hg. v. Wehler, Hans-Ulrich, Frankfurt am Main 1972.
2 Vgl. grundlegend: Frevert, Ute; Haupt, Heinz-Gerhard (Hgg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005 (Historische Politikforschung 1).
3 Zur Funktionsumdeutung des Ständebegriffs im staatsrechtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts vgl. aktuell: Kraus, Hans-Christof, Vom Traditionsstand zum Funktionsstand. Bemerkungen über „Stände“ und „Ständetum“ im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts, in: Gehrke, Roland (Hg.), Aufbrüche in die Moderne. Frühparlamentarismus zwischen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus 1750-1850. Schlesien – Deutschland – Mitteleuropa, Köln 2005 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 12), S. 13-44.