Polizeifotos von gesuchten Kriminellen sind in den Medien präsent. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht die Tagespresse Artikel mit Fahndungsaufrufen publiziert. Monatlich einmal flimmern sie in der TV-Sendung "Aktenzeichen XY" über die Mattscheiben: Die Fotografien von mutmaßlichen Tätern - den Mördern, Vergewaltigern und Räubern. Zumeist handelt es sich um grell ausgeleuchtete Männerköpfe, die, vor weißen Hintergrund gesetzt, ihren grimmigen Blick frontal in das Objektiv des Fotografen richten. Manche der Bilder stammen aus dem privaten Kontext, sind oft verwackelt und amateurhaft aufgenommen. Unvergessen die Fahndungsfotografie von Ulrike Meinhof, auf der sie in den frühen 1970er Jahren mit kurzgeschorenem Haar, aufgedunsen und mit verzerrtem Gesicht sich offensichtlich der fotografischen Aufnahme widersetzen wollte. Die Medien druckten gerade dieses Bild, obwohl es von der früheren Journalistin eine ganze Menge ästhetisch ansprechender Portraits gab. Die einst schöne Frau, nun visuell stigmatisiert zur gesellschaftlichen Außenseiterin, zum Terror-Monster, das die Republik in Atem hält.
Susanne Regener hat in ihrer Habilitation "Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen" die Geschichte des kriminalistischen Lichtbildes geschrieben, eine Geschichte, die fast so alt ist wie die Fotografie selbst. Die Autorin geht davon aus, dass die Kriminalfotos in der Hauptsache dazu dienen, den gesellschaftlichen Feind visuell zu isolieren. Innerhalb eines sozio-kulturellen Konstrukts durchlaufe der Delinquent eine historische Verwandlung zum Bild des Außenseiters. Bei der Klassifikation und Inventarisierung mit dem Ziel des visuellen Zugriffs arbeiten Polizei und Justiz sowie Anthropologie und Physiognomie Hand in Hand. Im Brennpunkt der Studie steht die Frage, inwieweit bestimmte Stereotypen die Bildproduktion in den Köpfen von Kriminalbeamten und Richtern mitbestimmen oder beeinflussen. Hierzu analysiert Regener in einem ersten Schritt die Entwicklungsgeschichte des "Verbrecherbildes". In einem zweiten Schritt konzentriert sie sich auf die visuelle Konstruktion von "Verbrechertypen", anhand derer schließlich u.a. während des NS die rassische Ausgrenzung "des" Kriminellen erfolgte.
Susanne Regener untersuchte in der Hauptsache Fotobeispiele aus dänischen und deutschen Kriminalarchiven (Kopenhagen, Aarhus, Berlin und Hamburg). Die ersten Fotografien zu Identifikationszwecken entstanden 1843 in Brüssel. Die Bilder wurden bis ins 20. Jahrhundert in Verbrecheralben geklebt, die mit dem bürgerlichen Familienalbum vergleichbar sind. Den Männer-, Frauen- und Kinderportraits gemeinsam ist die meist schäbige Kleidung der Abgelichteten. Noch wurden die Delinquenten im Atelier von Profifotografen aufgenommen. In der Form der Inszenierung - mit Attributen wie Stuhl, Säule, gemalten Hintergründen etc. versehen - entsprechen die Fotos den sonst üblichen Bürger-Portraits. Gleichzeitig entstanden aber ebenso Fotografien, die den Abgebildeten als Kriminellen ausweisen konnten. Als Bildattribute dienten: Häftlingskleidung, Spiegel, die außer dem enface-Portrait auch das Profil wiedergaben, Gefängnismauer als Hintergrund, sowie Beschriftung. Signifikant vor allem, dass es sich bei den fotografierten Kriminellen in der Hauptsache um Angehörige der unteren Schichten handelte: um Arbeiter, Seeleute, Prostituierte, Dienstmädchen, Obdachlose etc., also um jene gesellschaftlichen Gruppen, die in der bürgerlichen Atelierfotografie so gut wie nicht auftauchen.
Susanne Regener fand heraus, daß weder in der Atelierfotografie noch in der Polizeifotografie nationale Unterschiede auszumachen sind. Offensichtlich sei eine frühe internationale Standardisierung der Verbrecherbilder. Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Codierung leistete Alphonse Bertillon. Der Pariser Kriminologe griff u.a. auf die Abbildungspraxis der wissenschaftlich-anthropologischen Fotografie zurück, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die enface- und Profilperspektive sowie visuelle Maßstabsvergleiche eingeführt hatte. Bertillons Methode umfaßt vier Kriterien: Messungen bestimmter Körperteile (Bertillonage), Personenbeschreibung (portrait parlé), besondere Kennzeichen und Fotografie. Bertillon, dessen System weltweit Verwendung fand, wurde bald zum Schrecken der Verbrecher. Mit seinem System erfolgte nämlich ein Modernisierungsschub beim Kampf gegen die Kriminalität. Dabei waren auch die Beamten gefordert. Die Fahnder mußten überhaupt erst lernen, den Beschuldigten mit Hilfe der Fotografie und des systematischen Vergleichens wiederzuerkennen: Ein 'scharfer' Blick auf die fotografischen Portraits der Delinquenten sollte sie vor Täuschungen bewahren. Mit Bertillon eingeführt wurde schließlich der Begriff der Identität als variable und flüchtige Determinante, die, so Regener, mit dem Ziel der Erfassung von Körpermerkmalen entscheidend zur Verdinglichung des Lebens beigetragen habe.
Im zweiten Teil ihrer Studie demonstriert die Autorin, wie die Kriminalistik die Intention der visuellen Identifikation bei der fotografischen Erfassung um die Tendenz der Typifizierung erweiterte. In erster Linie waren die polizeilichen Ermittler der Jahrhundertwende bestrebt, jene zu observieren und zu verdächtigen, die äußerlich von der Norm abwichen. Hierzu sollte der Verbrecher als Typus markiert und schließlich aus der Gesellschaft herausgefiltert werden. Entscheidend bei der Typisierung waren die Kriminalmuseen und -archive, wie das während des Zweiten Weltkriegs zerstörte Kriminalmuseum Hamburg oder jenes, das der Psychiater und Anthropologe Cesare Lambroso 1880 in Turin gegründet hatte. In ihnen sollten die Kriminologen ihren Blick für "den" Verbrecher schulen. In sein Archiv schaffte der passionierte Sammler Lambroso neben Fotografien, Zeichnungen und Lithographien von Kriminellen, Psychiatriepatienten und Prostituierten auch Gegenstände und Kunstwerke, die Gefängnisinsassen gefertigt hatten sowie konservierte Gehirne, Köpfe, Gipsabdrücke, mumifizierte Körper etc. Lambroso ging es darum, mit diesen Artefakten ein Physiogramm des Verbrechens zu erstellen. Hierbei stützte er sich auf das sozialdarwinistische Evolutionsmodell, anhand dessen er mit kriminalanthropologischem Interesse den "guten" vom "schlechten" Menschen scheiden wollte. Sein Ziel: Ausgrenzung und Unschädlichmachung der sogenannten geborenen Verbrecher und notorischen, d.h. nicht mehr korrigierbaren Täter. Damit einher ging eine Verwissenschaftlichung der Kriminologie. Die visuelle Beweisführung übertrug negative Konnotationen vom Körper auf den Charakter. Lambrosio brachte Körpermerkmale wie starke, eckige oder harte Gesichtszüge mit den Charakterzügen "disharmonisch", "asozial" und "gefährlich" in Verbindung.
In der Praxis orientierten sich die Kriminologen am biologistischen Konzept der Physiognomik, indem sie die mutmaßlichen Delinquenten im Portrait und en détail fotografierten bzw. abzeichneten, um dann Vermessungen vorzunehmen. Schließlich erfolgte die Kategorisierung des Verbrechers, bei der individuelle Merkmale aufgehoben wurden. Es gab nur noch den pathologischen Typ des Mörders, des Diebes, des stehlenden Kindes oder der kriminellen Frau - ein unter dem biologistischen Determinismus geführtes Konzept, das den Verbrecher zum Kranken werden ließ. Diese Typisierung diente dann in den zwanziger und dreißiger Jahren Medizinern, Psychologen, Anthropologen und Volkskundlern innerhalb der Rassenforschung zur pseudowissenschaftlichen Legitimation der Inventarisierung des 'andersartigen' Menschen. Die systematische Typisierung hatte wesentlichen Anteil an der Registrierung, Ausgrenzung und Verfolgung von psychisch Kranken, körperlich Gehandikapten, Alkoholikern, Homosexuellen, Juden und Sinti und Roma.
Susanne Regener hat mit ihrer gut geschriebenen und analytisch überzeugenden Studie die kulturwissenschaftlich-anthropologische Forschung über die visuelle Erfassung von Menschen ein entscheidendes Stück vorangebracht. Sie zeigt, wie sehr auch heutige Fahndungsmethoden noch in der Tradition eines Cesare Lambroso befangen sind. Bei der Strafverfolgung konzentrieren sich viele Polizisten, aber auch Staatsanwälte und Richter auf äußere, vermeintlich "typische" Merkmale und Stereotypen. Wie jüngst "Der Spiegel" (22. Mai 2000) berichtete, werden so häufig Unschuldige zu Kriminellen abgestempelt. Susanne Regener wirft ein kritisches Schlaglicht auf die Geschichte der visuellen Verbrechensbekämpfung. Dies ist um so notwendiger, als die Zunft der Kriminologen bereits den "genetischen Fingerabdruck" zur (kaum kontrollierbaren) totalen Erfassung aller Menschen von Kindheit an in Erwägung zieht.