Nach zwei bedeutenden Publikationen, „Second Chance“ (1991) und „Two Nations“ (1999), zum Verhältnis von deutsch- und anglo-jüdischer Geschichte seit dem 18. Jahrhundert, liegt nun der dritte Band einer erfolgreichen Konferenzreihe des Leo Baeck Instituts am Clare College in Cambridge vor. Die Tagung (2001) fand in Erinnerung an den kurz zuvor verstorbenen Historiker Werner E. Mosse statt, dem Peter Pulzer zu Beginn des Buches einen Nachruf widmet.
Doch im Gegensatz zu den vorausgegangenen Themenstellungen, konzentrierten sich die Teilnehmer/innen dieser Konferenz nicht auf den Aspekt der deutsch-englischen Beziehungen in der modernen Geschichte der Juden, sondern rückten den Begriff der ‚Normalität’ in den Mittelpunkt. Die beiden Herausgeber Rainer Liedtke und David Rechter erklären eingangs kurz, weshalb sie, diesen, noch von Mosse vorgeschlagenen, Terminus für betrachtenswert halten: Erstens Normalität verlange nach Vergleich und Zusammenhang: etwas Wesentliches in der Geschichtsschreibung über eine Minderheit, zweitens sei sie zugleich eine Chimäre, die zeitgenössisch, durch Anpassung und Wandel, auch stets die vermeintlichen Ziele neu definiert habe, und drittens bringe sie die verschiedenen Hoffnungen und vielseitigen Formen jüdischen Lebens in der Moderne zutage.
Michael A. Meyer nähert sich in seinem einführenden Überblick dem Begriff mit einem definitorischem Interesse. Durch den Verweis auf die dynamische Kraft von Normen im historischen Verlauf kommt er zu dem Schluss, dass Juden sich in der modernen Gesellschaft nicht entschlossen ‚normal’ zu werden, sondern vielmehr ein deutlich ‚abnormales’ (Berufs-)Muster beibehielten, das sich erst mit der Zeit normalisierte. Nach ausführlicher Darstellung der vielseitigen Dimensionen der ‚Assimilation’ greift Meyer den Begriff der ‚Überassimilation’ auf und sieht darin seine zuvor aufgestellte Normalitätsthese bestätigt.
Die Beiträge von Christhard Hoffmann, Johannes Heil und Christian Wiese beschäftigen sich mit dem Aspekt des jüdischen Geschichtsbewusstseins und seiner Wahrnehmung sowie Repräsentation. Nach grundlegenden Überlegungen zur paradigmatischen Bedeutung der modernen jüdischen „Geschichtskultur“ (Wolfgang Hartwig) für die Modernisierung und Verbürgerlichung jüdischen Lebens seit Beginn des 19. Jahrhunderts, hebt Christhard Hoffmann die Mendelssohn-Jubiläumsfeste zwischen 1829 und 1929 als Beispiele unterschiedlicher, aber stets sinnstiftender Interpretationen jüdischer Vergangenheit in der modernen Gesellschaft hervor.
Johannes Heil erkennt solch intendierte Vergangenheitsdeutung in der (bewusst nur marginalen) Beschäftigung mit dem Thema ‚Judenfeindschaft in der Geschichte’ bei verschiedenen jüdischen Denkern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wenn überhaupt erwähnt, hätte die Darstellung historischer Judenverfolgungen nur hinsichtlich eines optimistischen Blicks in die Zukunft ihren Platz gefunden. Erst mit entstehender Fortschrittsskepsis sei allmählich (seit Heinrich Graetz) ein weniger apologetischer und umso kritischerer Umgang mit anti-jüdischen Traditionen entstanden.
Doch Christian Wiese plädiert dafür, die historischen Darstellungsmuster aus ihren zeitgenössischen Absichten zu verstehen. Erst dann erschienen die immer wieder vorgeworfenen apologetischen Tendenzen (Gershom Scholem) weniger als Ausdruck eines Assimilationsstrebens, sondern eröffneten, unter Zuhilfenahme post-kolonialer Konzepte, die Perspektive einer ‚intellektuellen Revolte’ der Wissenschaft des Judentums gegen die Deutungshoheit protestantischen Geschichtsschreibung.
Die Transformation jüdischer Religion in der modernen Gesellschaft kann als gemeinsamer Themenschwerpunkt bei Deborah Hertz, Simone Lässig, Keith H. Pickus und Robin Judd ausgemacht werde. Zunächst widerspricht Deborah Hertz in ihrer detaillierten Studie über die Entstehung der jüdischen Reformbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem bis heute immer wieder vorgebrachten Diktum eines ‚Fehlstarts’ in die Moderne (Gershom Scholem, Steven Lowenstein). Die 1815 von Israel Jacobson initiierte Reformbewegung, die bis zu einem Drittel der Berliner Bevölkerung anzog, sei nicht das Einfallstor der Konversion, sondern Ausdruck des Bemühens verschiedener Persönlichkeiten gewesen, sich dem Auflösungsprozessen im Judentum mit moderner Lebens- und Religionsform entgegenzustellen.
Dem Phänomen der sprunghaft ansteigenden Verbürgerlichung des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert möchte Simone Lässig auf die Spur kommen und stellt eine gewagte These auf: Nicht unter dem Zeichen der ‚Säkularisation’, sondern der Herausbildung einer bürgerlichen Religion habe sich das Judentum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gewandelt. Dabei habe die jüdische Religion ein ‚kulturelles Kapital’ freigesetzt, das ausschlaggebend für die kulturelle sowie sozio-ökonomische Verbürgerlichung der deutsch-jüdischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert wurde.
Keith H. Pickus vergleicht den nationalen Integrationsprozess der katholischen und jüdischen Minderheit am Beispiel der Schulausbildung in Hessen-Darmstadt im 19. Jahrhundert. Indem Juden ihre Kinder auf protestantische oder katholische Schulen schickten, hätte sich die Struktur ihres Erziehungssystem verändert und zugleich auch ihr national-religiösen Bewusstsein in ein deutsch-nationales Selbstverständnis transformiert. Die Gründe für das Scheitern dieses Projektes sieht Pickus – etwas eindimensional – im Fehlen eines gemeinsamen ‚Symbolismus’ zwischen Juden und Christen.
In ihrem Beitrag über das Verhalten deutscher Juden gegenüber der ‚Schächtfrage’ zwischen 1880 und 1914 macht Robin Judd ein Wandel der Verteidigungsstrategie aus. Während vor 1880 einzelne jüdische Persönlichkeiten aus religiösen Gründen das Schächten verteidigt hatten, bildete sich nun eine breitere jüdische Öffentlichkeit (orthodox und liberal), die sich bis 1933 erfolgreich einem überregionalen Verbot rituellen Schlachtens widersetzte.
Gregory A. Caplan, Lisa Swartout, Ulrich Sieg und Elisabeth Albanis untersuchen die Möglichkeiten und Grenzen patriotischer Gesinnung. Gregory A. Caplan kommt zu dem Ergebnis, dass erst im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ein Wandel des jüdischen Männlichkeitsideals einsetzte, das dem anhaltenden Vorwurf der körperlichen und moralischen Kriegsuntauglichkeit widersprach und entgegen antisemitischer Agitation das Bild des ‚wehrhaften Juden’ propagierte. Die geteilte Leidenserfahrung des Ersten Weltkrieges habe letztendlich den jüdischen Soldaten zum deutschen Helden gemacht und den Höhepunkt bürgerlicher Akkulturation bedeutet.
Auch Lisa Swartout befasst sich mit der Herausbildung eines neuen jüdischen Männlichkeitsbildes im wilhelminischen Deutschland. War die Gründung exklusiv jüdischer Studentencorps seit 1886 zunächst durch zunehmenden Antisemitismus an deutschen Universitäten motiviert, so wurden diese Burschenschaften schnell zur ‚Schule’ eines neuen jüdischen Selbstverständnisses. Zwischen Ausgrenzung und Annerkennung seitens der nicht-jüdischen Kommilitonen hätten jüdische Studentenverbindungen ein kulturelles und weniger religiöses Judentum befördert, das sich aus einer säkular-jüdischen sowie deutsch-nationalen Identität zusammensetzte.
Eine differenziertere Beurteilung der Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die deutsch-jüdische Bevölkerung fordert Ulrich Sieg in seinem Beitrag. Weder ‚vollkommene Assimilation’ noch ‚Hyper-Patriotismus’ wären Grund für die Kriegsteilnahme gewesen. Dementsprechend sei der Erste Weltkrieg keinesfalls der Höhepunkt deutsch-jüdischer Koexistenz, sondern vielmehr deren unmittelbare Bedrohung gewesen. Aufgrund vielseitiger Perspektiven sei es schwierig, aus der Mitwirkung am Ersten Weltkrieg eine positive Komponente der jüdischen Integration in Deutschland herleiten zu wollen.
Eben diese komplexen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die deutsch-jüdischen Gesellschaft beschreibt Elisabeth Albanis am biografischen Beispiel Moritz Goldstein. Sich zwischen ost- und westjüdischer sowie deutscher Kultur bewegend, hoffte Goldstein durch die kollektive Erfahrung des Schützengrabens auf eine neue ‚jüdische Realität’, die das Judentum aus seiner ‚Sondernationalität’ des 19. Jahrhunderts herausführen und in eine supranationale, deutsche Großgemeinschaft integrieren sollte. Das Festhalten an dieser Vision (auch nach 1916) hat allerdings, so Albanis, nicht eine ‚Befreiung’, ‚Festigung’, ‚Vereinigung’ oder ‚Vereinfachung’ seines Selbstverständnisses bedeutet, sondern zu einer endgültigen Entwurzelung Goldsteins, zwischen deutscher und jüdischer Identität, geführt.
Die Gemeinsamkeit der letzten Beiträge von Silvia Cresti, Helga Embacher, Tobias Brinkmann und Mitchell B. Hart liegt in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Stellung deutscher Juden und deren ideologischer Verschiebung. Silvia Cresti entwickelt in ihren, eher verallgemeinernden Ausführungen die These, dass sich deutsche Juden unmittelbar nach der Reichsgründung zunächst als ‚Stamm’ bezeichneten, später dann aber als Teil der deutschen (Kultur-)Nation, um mit jeweiliger Argumentation eine fehlende ethnische Abstammung zu überwinden. Österreichische Juden hätten sich zwar auch über die deutsche Kultur definiert, doch sei dies nur ein Teil ihrer tripolaren Identität (Marsha L. Rozenblit) – bestehend aus deutscher Kultur, österreichischer Loyalität und jüdischer Ethnizität – gewesen.
In einer Detailstudie orientiert sich Helga Embacher an der Lebenssituation von Juden in Salzburg. Erst 1867 wieder zugelassen, kamen viele künftig bedeutende Unternehmer und ihre Verwandten, aus Grenzbereichen der Monarchie wie Böhmen und Mähren, auf der Suche nach ökonomischen Chancen in die Stadt. Zwar war die nicht-jüdische Bevölkerung den neuen Bürgern gegenüber zunächst tolerant gestimmt, doch wirkte sich die antisemitische Welle in Österreich (seit 1880) auch auf die allmähliche Deutsch-Nationalisierung der Salzburger Öffentlichkeit aus.
Tobias Brinkmann beschäftigt sich in seinem Beitrag über ‚deutsche Juden’ in Amerika zwischen 1820 und 1880 mit der Frage der kulturellen, religiösen und rechtlichen Orientierung der über 150.000 Immigranten in dieser Zeit – zwischen deutsch-jüdischem Erbe (Sprache, Kultur und Religion) und amerikanischer Staatszugehörigkeit (rechtliche und politische Freiheit). In Rekurs auf das übergreifende Thema ‚Normalität?’ schließt Brinkmann ambivalent: Auf der Suche nach Normalität im 19. Jahrhundert sei die rechtlich und politisch ‚normale’ Situation der jüdischen Einwanderer in Amerika im Vergleich zur Situation der Juden in Deutschland und Europa ‚abnormal’ gewesen – ein Zustand, dem sich die ‚jüdischen Deutsch-Amerikaner’ durchaus bewusst waren.
Wie Mitchell B. Hart abschließend herausstellt, diente die Vorstellung und der Begriff der ‚Abnormalität’ am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Beschreibung der Bedingung modernen jüdischen Lebens und als eine sozialwissenschaftliche Analysekategorie. Entscheidend war die jeweilige Perspektive der Argumentierenden. So habe die zionistische Bewegung, mit Verweis auf sozialwissenschaftliche Statistiken, in der assimilierten Lebensform moderner Juden eine Degeneration (vor allem durch Wissenschaft und Bildung) ursprünglicher Normalität postuliert. ‚Normalität’ und ‚Abnormalität’, so Hart, wurden um die Jahrhundertwende zu konnotativen Schlagwörtern der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer divergierenden Vorstellungen von ‚Nähe’ (‚normal’) und ‚Ferne’ (‚abnormal’) zum Durchschnitt.
Soweit die vorangestellte Frage nach ‚Normalität?’ in der modernen Geschichte der Juden in den einzelnen Beiträgen überhaupt eingehender diskutiert wird, greifen die AutorenInnen zumeist auf die herkömmlichen Termini ‚Emanzipation’, ‚Assimilation’ und ‚Akkulturation’ zurück. Die Grenzen des Normalitätsbegriffs als erkenntnisförderndes Instrument scheinen in seiner – schon gleich zu Beginn von Meyer vorgestellten – dynamisch-perspektivischen Bedeutung zu liegen. Wie Heart in Bezug auf Emil Durkheim zum Ende des Bandes noch einmal treffend feststellt, war die Abnormalität im Kollektiv ‚normal’, insofern sie ein unvermeidliches Produkt und Bestandteil der modernen Sozialbeziehungen wurde. Wenn überhaupt, wird die Untersuchung ‚normaler’ bzw. ‚abnormaler’ Erscheinungsformen und Verhaltensmuster wohl ihren Platz in der sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Betrachtung finden müssen, denn nur hier werden der vorauszusetzende statistische Vergleich und die gesetzten Standards zu finden sein. Darüber hinaus entsteht der Eindruck, dass es sich in der modernen deutsch-jüdischen Geschichte eher um die Frage nach ‚Normativität’ handelt. Denn die Aufstellung von Maßstäben der Beurteilung und Bewertung wie etwas sein oder geschehen soll, betraf alle Lebensfragen (sittlich, ästhetisch, logisch, juristisch und technisch), wurde zu einem wesentlichen Machtfaktor der modernen Gesellschaft und lässt die Absichten der historischen Akteure, jenseits des Interesses an ihrer ‚Ab/Normalität’, erkennen. Schließlich zeigen alle, durchweg anregenden Beiträge dieses neuen Standardwerks, dass die Teilnahme der jüdischen Bevölkerung an einer pluralistischen modernen Gesellschaft das Aushandeln und Festlegen von ‚Normen’ (zwischen jüdischem, nicht-jüdischem und christlichen Selbstverständnis) bedingte, die das Verhältnis der deutsch-jüdischen Beziehung entscheidend prägten. Dabei verdeutlichen die stets vorhandene Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung sowie der zunehmende Antisemitismus in tragischer Weise, dass die Vorstellung von ‚Normalität?’ immer Ansichtssache des jeweiligen Betrachters und seines kollektiven Interesses blieb.