Forschungen zum Zeremoniell haben seit einigen Jahren Konjunktur. Das ist durchaus berechtigt, denn seitdem man davon Abschied genommen hat, die fruehneuzeitlichen Fuersten wegen ihrer angeblich unmotivierten "Verschwendungssucht" moralisch zu verdammen, um stattdessen nach deren Motivationen, dem Sinn der "Verschwendungssucht" und damit nach dem Interaktionsgefuege der Hoefe und den Handlungsoptionen und Notwendigkeiten der hoefischen Gesellschaft zu fragen, ist deutlich geworden, dass das hoefische Zermoniell von zentralem historischen Interesse ist. Da die in Frage kommenden Quellengruppen ueberwiegend Festberichte und Abbildungen sind, ist es kaum verwunderlich, dass die literatur- und kunstwissenschaftliche Forschung in der Zeremoniell-Forschung ueberwiegt. Das gilt auch fuer diesen Band, bei dem sich allerdings auch zeigt, dass die traditionelle Aufteilung in verschiedene Faecher zunehmend zu einem geisteswissenschaftlichen Relikt wird, wenn sich z.B. die Kunsthistorikerin Claudia Schnitzer mit einem genuin historischen Thema befasst und der Historiker Volker Bauer mit einem literaturwissenschaftlichen. Die einzelnen Aufsaetze des Bandes sind chronologisch angeordnet und umfassen thematisch vor allem das 18. und 20. Jahrhundert.
Claudia Schnitzer rollt vor dem Hintergrund der politischen Probleme Kursachsens in den zehner Jahren des 18. Jahrhunderts und der Kavaliersreise des saechsischen Thronfolgers Friedrich August (II.) aus den Prozessakten die Geschichte von "Prince Liesgen" auf, der Hochstaplerin Sophie Sabine Apitzsch, die sich 1714 im Erzgebirge als saechsischer Kurprinz ausgab (der sich in Wahrheit gerade am franzoesischen Hof aufhielt). Es geht der Autorin jedoch nicht um das (teilweise durchaus amuesante) Anekdotische, sondern um den Beleg dafuer, dass das Hof- und Staatszeremoniell selbst in der betruegerischen Stoerung noch funktionierte, denn nur indem Apitzsch "zeremonielle Beweisformen wie etwa die habitualisierte 'gnaedige Miene'" (S. 35) ausnutzte, die gleichzeitig von den Betrogenen unhinterfragt anerkannt wurden, konnte sie plausibel als Kronprinz auftreten. Der Vorfall demonstrierte nicht die Infragestellung des Zeremoniells sondern dessen potentiell taeuschende Funktion in Faellen, in denen nichtautorisierte Personen sich das Zeremoniell zunutze machten. Insofern war die bewusste "Kanalisierung und Entsorgung" (S. 38) des Vorfalls durch die Betonung des Anekdotischen und komoedienhaften, eine vergleichsweise milde und wenig aufsehenerregende Bestrafung sowie das zeitweise Verschwinden der Prozessakten im 18. Jahrhundert eine politisch nicht ungeschickte Loesung der peinlichen Episode.
Wenn auch andere Beitraege, wie etwa der Helga Meises ueber die Zeichnungen der "Niddaer Sauhatz", auf - aus heutiger Sicht - durchaus komische Zuege des Zeremoniells hinweisen, so ist das kein Zufall, sondern zeigt eher die integrative Kraft dieses abstrakten Zeichen- und Verhaltenssystems. Die Zeichnungen sind keine Anleitung zur Jagd sondern dokumentieren eine ganz bestimmte Jagd des Jahres 1633 mit allen ihren zeremoniellen Imponderabilien: "Schuesse verfehlen ihr Ziel; gejagt wird mit den falschen Waffen, die Falschen werden getroffen, ja erlegt. Muedigkeit und Trunkenheit sind an der Tagesordnung." (S. 47) Doch bleibt in den durchaus satirischen Darstellungen der Herrscher selbst unangetastet, wodurch zwar einerseits die "Bruechigkeit" (S. 58; der Ausdruck ist nicht ganz gluecklich gewaehlt, denn "bruechig" ist das Jagdzeremoniell gerade nicht, da es auch noch extremes Fehlverhalten integrieren kann) des Zeremoniells vorgefuehrt werden kann, andererseits aber das Misslingen durch die Person des Herrschers, des Landgrafen von Hessen-Darmstadt aufgefangen wird, dessen Tugenden (statt Jagdhandlungen) ins Bild gesetzt werden.
Waehrend in der oeffentlichen Ausuebung des Zeremoniells Uebertretungen oder Zeremoniellbrueche unmittelbar wahrgenommen (und sanktioniert) werden konnten, die dadurch sowohl Kontrollinstanz fuer den Herrscher wie des Herrschers waren, blieb der Bereich der nichtoeffentlichen Privatheit dem Herrscher und seinem durch die Staatsraison diktierten umfassenden Wissensdrang vorenthalten. Dem versuchte man durch verschiedene Einrichtungen abzuhelfen, deren erstes selbstverstaendlich Spione waren. Da diese aber bekanntermassen unzuverlaessig waren, lag es nahe, mechanische Moeglichkeiten der Bespitzelung zu suchen, die die gewuenschten Informationen ohne die Einschaltung eines Dritten lieferten. Diesen projektierten und tatsaechlichen technischen Moeglichkeiten und ihrer staatsrechtlichen Begruendung durch das Allgemeinwohl widmet sich Diana Trinkner in ihrem Aufsatz, in dem auch deutlich wird, dass nicht unbedingt der tatsaechliche Nutzen von - manchmal akustisch fragwuerdigen - Abhoereinrichtungen im Vordergrund stand, sondern die Inszenierung arkanen Wissens: "zum einen das technische Wissen, zum anderen eine Vorstellung des mit Hilfe dieser Technologie in Erfahrung gebrachten geheimen Wissens ueber Vorgaenge, die man vor dem Fuerst verborgen glaubt." (S. 71)
Gleich zwei Beitraege widmen sich der 'Tuerkenfrage': Wolfgang Neuber analysiert in einem trotz des etwas kryptischen Schlusses lesenswerten Beitrag die "Reissbeschreibung" Salomon Schweiggers, der 1577 als Gesandtschaftsprediger mit dem kaiserlichen Gesandten Joachim von Sinzendorff die Hohe Pforte besuchte und dort das fuer den kaiserlichen Gesandten peinliche Zeremoniell erlebte. Neubers Argumentation haette etwas mehr Ausfuehrlichkeit und etwas weniger Aufgeregtheit gut getan. Die Emphase etwa, mit der vorgetragen wird, dass man sich klarzumachen habe, "dass die fruehneuzeitlichen Gesellschaften - und auch jene unserer eigenen Zeitgenossenschaft - jegliche Form von Alteritaet in Oppositionsstrukturen konstruieren, die in der Fruehen Neuzeit allerdings nicht mit dem Begriff 'kulturell' zu beschreiben sind" (S. 79) kann nicht verdecken, dass einerseits Alteritaet auch schon in der Antike und im Mittelalter als Oppositionsstruktur konstruiert wurde und dass die, wenig spaeter wiederholte, Kritik am Begriff der Kultur insofern ins Leere laeuft, als der Autor nicht mitteilt, gegen was er hier eigentlich polemisiert (was mitdem "moderne[n], emphatische[n] Begriff der Kultur", S. 79, gemeint ist, bleibt unklar). Allerdings ist Neuber hinsichtlich der grundlegenden und identitaetsstiftender Relevanz diskursiver Selbstvergewisserung von Gesellschaften ebenso zuzustimmen wie seinem Hinweis, dass diese Diskursivitaet sich auch visuell ausdifferenziert (wodurch das Zeremoniell also als diskursive und nicht kulturelle Praxis zu verstehen waere - wenn man denn beides als widersrpuechlich auffassen wuerde).
Ina Timmermann wertet fuer ihren Aufsatz ueber das Gesandschaftszeremoniell waehrend des Besuchs einer tuerkischen Gesandschaft in Wien 1609 die beiden aeltesten ueberlieferten deutschen Wochenzeitungen aus. Zweck der Gesandtschaft war die Unterzeichnung eines Friedensvertrags, die jedoch nicht zustande kam. Vielmehr veranlasste die Verweigerung einer dritten Audienz den osmanischen Gesandten zur Formulierung einer erneuten Kriegsdrohung. In der Zeitungsberichterstattung, die nicht ueber das Zeremoniell belehren will, sondern dessen Kenntnis bei den Lesern voraussetzt, wird jedoch vor allem die vermeintliche Funktion der tuerkischen Gesandtschaft als innenpolitischer Stoerfaktor betont.
"Entwurf und Unmoeglichkeit von Zeremoniell in den spaeten Werken Joseph Roths" widmet sich Bernhard Jahn und evoziert so schon im Titel jene Endzeit des Zeremoniells, die im Zeitalter der Massenmedien und der Demokratisierung - in beiden Faellen ist die hierarchiesichernde Ordnungsfunktion des Zeremoniells ueberfluessig - notgedrungen eintreten muss. Es ist kein Zufall, dass fuer Roth die eigentliche Wuerde des Zeremoniells nur noch in Begraebnissen zur Entfaltung kommt. Im Grunde kann das an die koerperliche Repraesentation gebundene Zeremoniell nur noch in Verbindung mit dem toten Koerper seine Wirkung erzielen.
In George Saikos Roman "Auf dem Floss", der zwar erst 1948 erschien, dessen Entstehungszeit aber bis zum Beginn der dreissiger Jahre zurueckreicht, plant der Fuerst, seinen sterbenden Diener Joschko auszustopfen, was Volker Bauer als Versuch interpretiert, "die Lebensweise des hoeheren Adels, deren Kern eben seine zeremonielle Verfasstheit bildet, auch unter den neuen sozialen und politischen Bedingungen der Republik zu konservieren" (S. 116). Den Motivnucleus fand Saiko natuerlich in der Geschichte des Wiener Hofmohren Angelo Soliman, der 1796 bekanntlich ausgestopft und zu einer der Hauptattraktionen des Wiener Naturalienkabinetts wurde.
Thomas Rahns Aufsatz "Masse, Maske und Macht. Psychologien des Zeremoniells im 20. Jahrhundert" strapaziert insofern den Zeremoniellbegriff, als der Psychologiebegriff der Moderne (genaugenommen der Wiener Moderne) und die Idee des Zeremoniells eigentlich historisch inkompatibel sind. Rahn fuehrt hier konsequent einen frueheren Aufsatz fort und es mag mein eigenes (durchaus historistisches) Unbehagen sein, das in einem Begriff wie "neusachliches Zeremoniell" (S. 139) nur die contradictio in adiecto sehen kann. Zugegeben - Plessner selbst verwendete den Begriff, doch haette nahe gelegen zu fragen, ob bzw. warum Plessner "Form" und "Zeremoniell" verwechselt. Mir scheint, es geht in Rahns Aufsatz weniger um das Zeremoniell selbst als dass dieses als analytische bzw. epistemologische Kategorie verwendet wird, was die Gefahr in sich birgt, dass die eigentlich historische Dimension des Zeremoniells als Gegenstand im Umgang mit dem Begriff bis zu einer gewissen Beliebigkeit aufgeweicht wird. Die Einwaende hindern jedoch nicht festzustellen, dass Rahn scharfsinnige Einsichten zu Elias Canettis "Masse und Macht", Serge Moscovicis "Das Zeitalter der Massen" und zu einschlaegigen Schriften Siegfried Kracauers und Helmuth Plessners liefert.
Im abschliessenden Beitrag befasst sich Markus Bauer mit dem Unverstaendnis der Oeffentlichkeit gegenueber dem britischen Hofzeremoniell, das schliesslich zu Veraenderungen fuehrte, "die in Zeiten, in denen noch das Bewusstsein vom Gewicht ihres Symbolgehalts vorhanden war, zur Abdankung gefuehrt haetten." (S. 156)
Der vergleichsweise schmale Band ist mehr als die Addition einzelner Beitraege. Die Summe der Aufsaetze, in denen immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven auf die einschlaegigen Zeremoniellschriften des 18. Jahrhunderts zurueckgekommen wird, vermittelt einen profunden Einblick in Bedeutung und Funktionieren des Zeremoniells. Man merkt dem mit ca. 20 Abbildungen versehenen Band nicht an, dass es sich hier um eine Festschrift fuer Joerg Jochen Berns handelt - ein besseres Kompliment haette man dem Jubilar schwerlich machen koennen. Hervorgehoben sei auch die sorgfaeltige Ausstattung und das durchdachte Layout; selbst Druckfehler konnte ich nicht entdecken.