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Titel
Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei


Autor(en)
Heer, Hannes
Erschienen
Berlin 2004: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Rupnow, United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.

Die Vorgeschichte ist bekannt: Das Hamburger Institut für Sozialforschung erarbeitete im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt im 20. Jahrhundert eine Ausstellung über „Verbrechen der Wehrmacht“, die seit 1995 einige für das Nachkriegsdeutschland zentrale Geschichtsbilder ins Wanken brachte. Die nach 1945 konstruierte säuberliche Trennung zwischen Wehrmacht und NS-Apparat wurde nachhaltig in Frage gestellt sowie die Vernichtungspolitik gegenüber Juden und russischer Zivilbevölkerung am Kriegsschauplatz im Osten in den Blick gerückt. Da die Wehrmacht mit 19 Millionen Angehörigen die bei weitem personenstärkste Organisation innerhalb des NS-Staates war, musste dies folgenreich sein – die Gruppe der Beteiligten an Massenmord und Genozid wurde in der öffentlichen Wahrnehmung wesentlich erweitert. Die Diskussionen blieben dementsprechend nicht aus. Die Gegner der Ausstellung, die das Bild der „sauberen Wehrmacht“ grundsätzlich nicht in Frage gestellt wissen wollten, versuchten die These der Ausstellung vor allem mit den Fotografien auszuhebeln, die im Mittelpunkt der Ausstellung standen und den Tätern ein Gesicht gaben, das den Besuchern allzu bekannt vorkommen musste: Es waren ihre Männer, Brüder, Väter und Großväter – und teilweise sie selbst. Vor allem diese Fotografien waren es, die, von deutschen Soldaten „geschossen“, ihre Kameraden beim täglichen, durchaus archaischen Handwerk des Tötens abbildend, zu einer breiten Rezeption der Ausstellung geführt und ihre These transportiert hatten, wobei jedoch gelegentlich vergessen wurde, dass nicht ausschließlich Bilder gezeigt, sondern auch textliche Belege präsentiert wurden.

Die Kritik an den Bildern führte im November 1999 jedoch zur Verhängung eines Moratoriums und zur Einrichtung einer Historikerkommission, die die Ausstellung und die in ihr gezeigten Fotografien überprüfen sollte. Und obwohl die grundlegenden Thesen im Kommissionsbericht bestätigt und weniger als 20 von über 1.400 Fotos für in diesem Zusammenhang problematisch befunden wurden, ließ Jan Philipp Reemtsma die Ausstellung schließen und gab bei einem anderen Team von HistorikerInnen eine Neubearbeitung in Auftrag. Die zweite „Wehrmachtsausstellung“ stellte allerdings eher eine Rücknahme ihrer Vorgängerin aus dem Geiste der Staatsräson dar als ihre Fortsetzung.1 Die Thesen sind nun auch für ihre Kritiker erträglich. Eine konsequente Fortsetzung der ersten „Wehrmachtsausstellung“ in Buchform bietet dagegen Hannes Heer, der diese Ausstellung von Anfang an mit erarbeitet hatte und im Zuge der Entscheidung für eine neue, nicht nur überarbeitete Schau aus dem Hamburger Institut ausschied.

In acht Kapiteln unter dem provokanten Titel „Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei“ schlägt Heer einen Bogen von den Ereignissen um die „Wehrmachtsausstellung“ zu den Verbrechen des Vernichtungskrieges und den Versuchen, ihre Spuren zu tilgen, und von den Beschweigern (Ernst Jünger) und frühen Aufdeckern (Heinrich Böll, Erich Maria Remarque) wieder zurück zur jüngsten, aber sicherlich nicht letzten Kehrtwende des bundesdeutschen Geschichtsbewusstseins: von der schwierigen Einsicht in die Alltäglichkeit des Verbrechens und die Täterschaft ganz normaler Deutscher (Klemperer, Goldhagen – und nicht zuletzt die erste „Wehrmachtsausstellung“ selbst) hin zur Stilisierung des deutschen Volkes als des eigentlichen Opfers des Zweiten Weltkrieges (Bombenkrieg, Vertreibung) und der Konstruktion einer angeblichen Mitschuld der Juden an den gegen sie verübten Verbrechen (Musial, Hohmann). Abgesehen von den Kapiteln zur Ausstellung selbst und zu den jüngsten Entwicklungen handelt es sich um Themen, die im Grunde bereits in der ersten Präsentation angelegt waren. Die entscheidenden Thesen werden nun noch einmal materialreich unterfüttert und ausdifferenziert. Mit der Einbeziehung der Geschichte der „Wehrmachtsausstellung“ und ihrer überarbeiteten Version wird so ein Weg von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder in die Gegenwart zurück vollzogen – was treffend die Wahrnehmung von Geschichte und die Denkbewegung des Historikers reflektiert sowie den LeserInnen einen Einblick in die Verbrechen und zugleich in ihre Nachgeschichte ermöglicht.

Heer ignoriert zu Recht die immer noch allzu häufig verwendeten zeitlichen Eingrenzungen, die nicht mehr leisten, als die Kontinuitäten und Traditionslinien auszublenden. Er untersucht die Absichten der Täter sowie die Gegenläufigkeiten und Ungleichzeitigkeiten der Gedächtnisse in der Nachkriegszeit. So entsteht nicht nur ein facettenreiches, sondern vor allem auch ein abgerundetes Bild, denn die Verbrechen sind aus der heutigen Warte ohne die Wege der Erinnerung genausowenig zu verstehen wie die Nachkriegserinnerung ohne die ihnen vorausgehenden Ereignisse. Treffend verweist Heer in einem Kapitel auf das kalkulierte Verwischen der Spuren der Verbrechen durch die Täter. Die erste „Wehrmachtsausstellung“ hat diese, lange Zeit durchaus erfolgreiche und sehr folgenreiche Strategie mit Zeugnissen der Soldaten selbst durchbrochen. Die Fotos, die schonungslos Massenerschießungen, Pogrome, Hinrichtungen und Demütigungen zeigen, waren nie für eine breite Öffentlichkeit bestimmt, sondern sollten nur der privaten Erinnerung dienen. Gegen den Willen derer, die sie angefertigt haben, können sie aber als Belege für die Verbrechen eingesetzt werden. Die neue „Wehrmachtsausstellung“ greift im Gegensatz dazu vor allem auf Material der Propagandakompanien zurück und folgt damit wieder (absichtlich oder nicht?) dem Narrativ der Täter.

Wie die Ausstellung, so wendet sich auch Heers Buch nicht an ein rein wissenschaftliches Publikum. Vor allem die Auseinandersetzung mit der zweiten „Wehrmachtsausstellung“ und mit der Konstruktion einer deutschen Opferidentität ist durchaus polemisch und liest sich auch als Intervention in aktuelle Debatten. Einen gewissen Ärger über die Absetzung der alten und die Erarbeitung einer neuen Ausstellung sowie die Ablehnung ihres staatstragenden Charakters kann man Heer allerdings kaum übel nehmen. Sein Buch, das ohne jedes illustrierende Foto auskommt, zeigt, dass die Thesen der ersten „Wehrmachtsausstellung“ auch der Bilderlosigkeit standhalten, dass sie auch in Texten transportiert und mit Texten belegt werden können. Die Kritiker sollten allerdings nicht vergessen, dass das Medium der Ausstellung und die fotografischen Dokumente notwendig waren, um eine breitere Öffentlichkeit mit Einsichten zu konfrontieren, die die Historiker schon länger besessen haben, die sie aber entweder nicht vermitteln wollten oder aber mit den ihnen eigenen Mitteln nicht vermitteln konnten. Durch die Rücknahme der ersten Ausstellung musste jedoch der Eindruck entstehen, dass sie grundsätzlich fehlerhaft sei, was von den Fachleuten der sie untersuchenden Historikerkommission gerade nicht bestätigt wurde. Von Anfang an wurden bei der „Wehrmachtsausstellung“ Maßstäbe an die Verwendung von Fotografien angelegt, wie sie vorher keinesfalls bestanden und sich trotz der langwierigen Diskussionen und der Einsicht in die Problematik fotografischer Quellen immer noch nicht flächendeckend als Standard durchgesetzt haben.

Die klare Positionierung Heers ist wohltuend im Vergleich zu den immer häufiger zu lesenden und zu hörenden, mehr oder weniger verdeckten Relativierungen der deutschen Verbrechen im Hinblick auf die Kriegsleiden der deutschen Bevölkerung. Natürlich stellen Kollektivzuschreibungen ein Problem dar – das liegt in der Natur der Sache. Begriffe wie „Täter“ und „Opfer“ bleiben tatsächlich für beide Seiten zu eindimensional: für die Seite der Opfer allerdings nicht etwa deswegen, weil sie in Wirklichkeit selbst Täter gewesen sind, sondern vielmehr, weil der Begriff ihre angeblich völlige Passivität fortschreibt; für die Täter, weil damit sehr verschiedene Formen von Tatbeteiligung und sehr verschiedene Motivationen zusammengefasst und widerständige Haltungen und Handlungen von vornherein ausgeblendet werden. Dennoch sind die Begriffe gelegentlich unausweichlich und notwendig, um Klarheit zu erzeugen. Gerade dies wird in den Debatten um Bombenkrieg und Vertreibung – meistens wohl absichtlich – außer Acht gelassen, so dass kurzerhand Täter und Zuschauer zu Opfern mutieren, die sie allerhöchstens in einem sehr eng umgrenzten Zusammenhang, aber keineswegs im weiteren historischen Kontext waren.

Das Buch ist somit ein wichtiger Beitrag zu den aktuellen Diskussionen; es hat sowohl HistorikerInnen als auch anderen interessierten LeserInnen vielfältige Einsichten zu bieten. Es beschränkt sich nicht auf ermüdende Fachdiskurse und verzichtet gleichzeitig auf popularisierende Anwandlungen.

Anmerkung:
1 Die Leiterin des zweiten Ausstellungsprojekts vertritt eine anders gelagerte Sicht: Jureit, Ulrike, „Zeigen heißt verschweigen“. Die Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht, in: Mittelweg 36 13 (2004), Heft 1, S. 3-27.

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