Die Verschärfung der Asylproblematik seit Beginn der 1990er-Jahre regte eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Asylrechts an. So sind in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Dissertationen und Aufsätze zu den vielfältigen Erscheinungsformen dieses Phänomens auch im Bereich der antiken Geschichte entstanden. Im Frühjahr 2002 schließlich fand die erste internationale Fachtagung zum Asyl in der Antike statt, zu der nun der vom Veranstalter Martin Dreher herausgegebene Tagungsband "Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion" vorliegt.
In seinem Einleitungskapitel systematisiert Dreher den Gegenstandsbereich des Sammelbandes durch einen dreigliedrigen Ansatz: chronologisch, funktional und phänotypisch. Ausgangspunkt ist zunächst die chronologische Gliederung der Einzeluntersuchungen, die über die Grenzen der Antike hinausreicht und Untersuchungen zum Mittelalter und der Frühen Neuzeit einbezieht. Die funktionale Gliederung in kultische, rechtliche und politische Aspekte wird bereits im Untertitel des Tagungsbandes zum Ausdruck gebracht, wobei Dreher bei der politischen Funktion des Asyls eine außenpolitische und eine gesellschaftliche Funktion unterscheiden möchte, um Fragen nach politischen Instrumentalisierungen des Asyls von solchen nach sozialen Machtverhältnissen innerhalb der Polis abgrenzen zu können. Eine phänotypische Differenzierung der verschiedenen Asylformen (Hikesie, persönliches Asyl, territoriales Asyl, Statuenflucht, Kirchenasyl und Schutzbrief) schließlich soll die systematische Analyse der einzelnen Phänomene ermöglichen und die Zuordnung der Methoden zu den entsprechenden Teilproblemen erleichtern. Fraglich ist freilich, ob eine derartig schematische Gliederung dem Gegenstand gerecht wird. Eine scharfe Trennlinie etwa zwischen dem kultischen und dem politischen Bereich kann jedenfalls nicht gezogen werden. Auch bleibt die Bedeutung dieses Schemas für die Konzeption des Sammelbands unklar. Die Autoren haben sich nicht an Drehers Schema orientiert und die Beiträge decken insgesamt das skizzierte Feld nur teilweise ab. Ein vergleichbares Untersuchungsraster legen jeweils nur Autoren an, die von ähnlichen Fragestellungen ausgehen.
Die Aufsätze der Rechtshistoriker Alberto Maffi und Gerhard Thür befassen sich mit der Frage nach der rechtlichen Ausgestaltung und gerichtlichen Kontrolle des Asylrechts. Maffi greift ins sechste Jahrhundert zurück und versucht anhand der gortynischen Gesetzestexte zu klären, inwieweit der Umgang mit schutzsuchenden Sklaven gesetzlich geregelt war. Einige Regelungen können rekonstruiert werden, die Inschriften lassen allerdings die Frage offen, welche Rolle genau die verantwortlichen Autoritäten des entsprechenden Heiligtums spielten. Dem bereits in der Antike kritisierten Problem, dass ein automatischer Asylschutz auch Rechtsbrechern zugute kommt, wurde durch eine Verfeinerung der Asylregelungen entgegengewirkt. Wie Thür überzeugend darlegt, war ein inhaltliches Asylrechtsprüfungsverfahren dabei nur für schutzsuchende Sklaven vorgesehen, die wegen Übergriffen ihrer Herren in ein Heiligtum geflohen waren. Zugangsbeschränkungen zum Heiligtum und Ausschluss der schutzsuchenden Person aus der Sakralgemeinschaft stellten dagegen keine Formen gerichtlicher Kontrolle des Asylanspruchs freier Personen dar, wie zuletzt noch Angelos Chaniotis argumentiert hatte.1
Martin Dreher und Susanne Gödde widmen ihre Beiträge der Hikesie und Asylie in den Hiketiden des Aischylos. Dreher untersucht das Verhältnis zwischen der religiös-kultischen Hikesie und der fremdenrechtlichen Asylie, grenzt beide Formen in den Hiketiden voneinander ab und untersucht den Wirklichkeitsbezug der Tragödie. Dabei widerspricht er Eilhard Schlesinger, der das Verhältnis von Hikesie und Asylie als Rechtsfolge versteht und die literarische Fiktion auf die historische Wirklichkeit überträgt.2 Aischylos hat sich der Argumentation Drehers zufolge der dichterischen Freiheit bedient und aus Hikesie und Asylie ein fiktives Asylrecht konstruiert. Gödde greift diese These auf und erweitert sie um den nur teilweise überzeugenden Befund einer Analogisierung von Ehe und Asyl in den Hiketiden, "einer Reflexion des einen Rituals durch das andere" (S. 103). Die Verknüpfung des kultischen und politischen Bereiches findet demnach nicht nur im Asylrecht, sondern auch in der Ehe statt, die von Aischylos als gleichermaßen komplexer und widerständiger Integrationsprozess vorgeführt wird.
Ulrich Sinn, der bereits mehrere Heiligtümer auf ihre Funktion als Zufluchtsort hin untersucht hat, zeigt nun, wie das Poseidonheiligtum auf Kalaureia als sakrales Zentrum einer Amphiktyonie in klassischer Zeit zur Asylstätte ausgebaut wurde und dadurch auf die steigende Zahl Schutzsuchender in dieser Zeit reagierte. Vier saalartige Hallen bei der Festwiese haben dem Heiligtum als Quartiere für Schutzsuchende gedient.
Die Beiträge von Cincia Bearzot, Kent Rigsby und Kostas Buraselis sind der Frage nach der außenpolitischen Funktion von Asylanerkennungen gewidmet. Am Beispiel von Elis zeigt Bearzot, wie die panhellenische Neutralität des Territoriums als strategisches Mittel im politischen Kontext eingesetzt wurde. Asyl im Sinne der territorialen Unverletzlichkeit einer Polis durch Krieg ist Bearzot zufolge somit bereits in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nachweisbar, nicht erst in hellenistischer Zeit, wie Rigsby zuletzt behauptete.3 Rigsby gelingt mit seinem Beitrag die überzeugende Neuinterpretation einer Asylrechtsverleihung, die nun in die 30er-Jahre des 1. Jahrhunderts v.Chr. datiert werden muss. Seiner Argumentation zufolge versuchte Kleopatra im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Oktavian die Unterstützung der Synagoge von Leontopolis zu gewinnen und gewährte im Gegenzug eine Neuverleihung des Asylrechts, die als "Erneuerung" einer vorgeblich bereits bestehenden Asylie verschleiert wurde. Rigsby bettet die Inschrift in den sozialen und politischen Kontext ein und zeigt zudem, wie die Beziehungen zwischen der Synagoge und dem Königshaus im Widerspruch zu den Interessen der lokalen Eliten standen. Dabei wird deutlich, wie die Verleihung der Asylie als Teil einer außenpolitischen Strategie eingesetzt werden, aber auch innenpolitische Interessenkonflikte verursachen konnte.
In seiner kritischen Edition der Asyliezeugnisse aus hellenistischer Zeit hatte sich Rigsby dafür ausgesprochen, als Motive für die Bitten um Asylverleihungen verstärkt religiös-kultische Aspekte zu berücksichtigen.4 Buraselis wendet sich nun in seinem Beitrag gegen eine Sichtweise, die Rigsbys Forderung überspitzt, und setzt sich für die herkömmliche Interpretation ein, die ausgehend vom jeweils unterschiedlichen historischen und politischen Hintergrund eine Interpretation zu finden sucht, die vor allem die außenpolitische Funktion von Asylanerkennungen in Betracht zieht und die politischen Motivationen der Poleis rekonstruiert. In seiner knappen Response zu Buraselis verweist Rigsby darauf, dass auch er monokausale Interpretationen ablehnt, ohne aber kultische Aspekte vernachlässigen zu wollen. So sieht Rigsby in seinem eigenen Beitrag zum vorliegenden Sammelband ebenfalls gewichtige politische Intentionen der jüdischen Gemeinde von Leontopolis, die sich um die Asylrechtsverleihung bewarb: "The right of asylum would serve to protect the synagogue from local officials and their friends; it gave the Jews of Leontopolis direct access to the crown in matters of the state's legal demands." (S. 139) Die im vorliegenden Sammelband dokumentierten Entwicklungen in dieser aktuellen Kontroverse werden sicherlich noch weitere Stellungnahmen hervorrufen. Wünschenswert ist, dass dabei nicht beim derzeitigen Argumentationsstand halt gemacht wird. Neben den bisher in Erwägung gezogenen kultischen und politischen Gründen scheinen insbesondere in hellenistischer und römischer Zeit auch wirtschaftliche Aspekte eine große Rolle gespielt zu haben, wie die zahlreichen Belegstellen allein in Rigsbys Quellenkorpus zeigen, die asylia in einem Atemzug mit atéleia oder aphorológetos nennen.5 Auch im Rahmen der städtischen Selbstdarstellung und des Konkurrenzkampfs griechischer Städte in der römischen Kaiserzeit spielt die Asylie eine strategische Rolle, die im Rahmen dieser Forschungskontroverse bisher kaum Beachtung fand und die auch der vorliegende Sammelband nicht erhellt.6
Die Beiträge von Gérard Freyburger und Richard Gamauf befassen sich mit genuin römischen Formen der Schutzsuche. Freyburger geht durch einen Vergleich philologischer und archäologischer Quellen der Frage nach, ob es in der römischen Frühzeit eigene Asylstätten gab, und nimmt in Abgrenzung zu Dreher und Gamauf an 7, dass der von Ovid erwähnte und zuerst von Romulus verehrte Gott Veiovis als Asylgottheit verstanden werden kann. Gamauf untersucht die in der römischen Prinzipatszeit unter der Formel confugere ad statuas bekannte staatlich streng kontrollierte Praxis, bei einer kaiserlichen Statue Zuflucht zu nehmen, um Schutz vor rechtswidrigen Übergriffen zu finden. Gamauf zeigt dabei, dass diese Form der Schutzsuche ihre größte Bedeutung im Rahmen der Verrechtlichung der Sklavenbehandlung in der frühen Prinzipatszeit erlangte und Sklaven erstmals Rechtsschutz gegenüber deren Eigentümern einräumte. Insgesamt bleibt unklar, weshalb diese Praxis - deren Wirksamkeit sich über die maiestas principis herleitete - überhaupt als Asyl interpretiert werden soll. Augenscheinlich bestand im genuin römischen Bereich weder ein Asylrecht noch eine Asylpraxis. Auch Freyburgers Konstruktion einer ursprünglichen römischen Asylstätte überzeugt vor diesem Hintergrund nicht. Sinnvoller für die Asylforschung im römischen Kontext wären ernsthafte Versuche, gerade das Fehlen einer eigenen römischen Asylpraxis zu verstehen.
Einer Sichtung und Interpretation der neueren Quellenfunde zum Asylwesen im spätantiken Ägypten ist der Beitrag von Bernhard Palme gewidmet. Nach der wegweisenden Studie von Friedrich von Woess aus den 1920er-Jahren 8 sind heute durch zahlreiche Papyrusfunde wesentlich präzisere Aussagen möglich, insbesondere im Bereich der koptischen Schutzbriefe, von denen nun über hundert Exemplare vorliegen. Auch indirekte Erwähnungen des Asylrechts vor allem in so genannten Gestellungsbürgschaften geben Aufschluss darüber, dass Asyl in Kirchen, an Kaiserbildern, an Sonn- und Feiertagen, sowie durch Schutzbrief durchaus alltäglich waren. Unklar bleiben weiterhin die praktische Handhabung des Asylrechts und die Vorgänge bei der Asylflucht.
Die Beiträge von Arrigo Manfredini, Harald Siems und Karl Härter schließlich greifen über die Antike hinaus und verfolgen die Entwicklung des Asylrechts bis in die Neuzeit hinein. Manfredini untersucht die Bedeutung der Schutzbriefe im Kontext der justinianischen Gesetzgebung, die dem Schutzsuchenden auch außerhalb des Heiligtums Unantastbarkeit auf Zeit gewähren sollten. Siems verfolgt die wechselhafte Geschichte des Kirchenasyls im Mittelalter und Härter skizziert die weitere Entwicklung von Kirchenasyl, "internen" weltlichen und "externen" zwischenstaatlichen Asylen in der Neuzeit. Insbesondere die Beiträge von Siems und Härter machen deutlich, dass sich die im Altertum bestehenden Formen und das moderne Asylrecht nicht auf einen gemeinsamen Kern reduzieren lassen. Beat Näf urteilt in diesem Sinne abschließend: "Die Epoche des Altertums, an die so zahlreiche humanistische Bewegungen angeschlossen haben, kann nicht als die klassische Zeit der Grundlegung einer humanitären Asyltradition in Anspruch genommen werden." (S. 348)
Der Schwerpunkt und besondere Nutzen des Bandes liegt dann auch nicht in der Rekonstruktion einer wie auch immer gearteten Genese des modernen Asylrechts, sondern in seinem Wert für die weitere Forschung insbesondere im Bereich des klassischen und hellenistischen Griechenland. Hier gelingt es dem Sammelband Drehers Anspruch einzulösen, über ein interdisziplinäres und internationales Forum den Austausch von Forschungsergebnissen und methodischen Überlegungen zu fördern. Der römische Kontext hingegen wurde insgesamt deutlich schwächer beleuchtet und die Möglichkeit eines systematischen Vergleichs zwischen dem römischen und dem griechischen Bereich, für den ein Sammelband ideale Voraussetzungen bietet, nicht genutzt. Einigen wichtigen Phänomenen - wie der Altarflucht und der Freistädte im alten Israel sowie den Themen Schutz und Zuflucht im homerischen Epos - wurden keine eigenen Untersuchungen gewidmet; die ebenfalls wichtige Frage, ob das spätantike Kirchenasyl als Nachfolgerecht der heidnischen Heiligtümer verstanden werden kann, oder die Frage, welche Kontinuitäten und Brüche im Übergang zum römischen Imperium bestehen, werden zwar gestreift, jedoch nicht im Detail untersucht. Diese Lücken können teilweise als Ergebnis der von Dreher angestrebten "Standortbestimmung der Asylforschung" verstanden werden und tun der Bedeutung des Bandes für die weitere Asylforschung insofern keinen Abbruch.
Anmerkungen:
1 Chaniotis, Angelos, Conflicting Authorities. Asylia between Secular and Divine Law in the Classical and Hellenistic Poleis, Kernos 9 (1996), S. 65-86.
2 Schlesinger, Eilhard, Die griechische Asylie, Gießen 1933.
3 Rigsby, Kent J., Asylia. Territorial Inviolability in the Hellenistic World, Berkeley 1996, S. 44.
4 Rigsby (wie Anm. 3), S. 14 u. 24.
5 Rigsby (wie Anm. 3); vgl. auch Dignas, Beate, Rome and the asulia of Sanctuaries in Asia Minor, in: Dignas, Beate, Economy of the Sacred in Hellenistic and Roman Asia Minor, Oxford 2002, S. 288-299.
6 Vgl. z.B. Weiß, Peter, Auxe Perge. Beobachtungen zu einem bemerkenswerten städtischen Dokument des 3. Jahrhunderts n. Chr., in: Chiron 21 (1991), S. 353-392.
7 Altheim, Franz, Epochen der römischen Geschichte, Frankfurt am Main 1934, S. 141-144; Dreher, Martin, Die Asylstätte des Romulus - eine griechische Institution im frühen Rom?, in: Thür, Gerhard (Hg.), Symposium 1997. Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte Bd. 13, Köln 2001, S. 235-252.
8 Woess, Friedrich von, Das Asylwesen Ägyptens in der Ptolemäerzeit und die spätere Entwicklung, München 1923.