Spätmittelalterliche Chronistik boomt zwar schon seit einiger Zeit in der Geschichtswissenschaft, in der Germanistik wird sie dagegen bislang weitgehend vernachlässigt. Als erfreuliche Ausnahme ist somit die Regensburger Habilitationsschrift von Gerhard Wolf anzusehen, die exemplarisch vier Hauschroniken des südwestdeutschen Adels aus dem 15./16. Jahrhundert zum Forschungsgegenstand macht. Mit dem Ziel, der literarischen Organisation von in historiographischen Texten beschriebenen Vorgängen auf die Spur zu kommen, untersucht Wolf die literarischen Strukturen der Hauschroniken, die er grundsätzlich als ein Medium komplexer Weltaneignung und Weltauslegung versteht. Um der spezifischen Literarizität der Texte gerecht zu werden, wählt er als Methode ein induktives Verfahren, mit dem er den Austausch zwischen Text und Kontext, wie er beispielsweise an den verarbeiteten Quellen abzulesen ist, nachvollziehen will. Im Rahmen einer integralen Analyse beschreibt er die Strukturen der Textorganisation und den Gebrauch literarischer Elemente und Stoffe in der Absicht, die Collage der verschiedenartigen in den Chroniken enthaltenen Texte als ein „zirkulierendes Gespräch“ über Themen, die zur Zeit der Textentstehung soziale Relevanz besaßen, darzustellen. Bei alledem geht es Wolf erklärtermaßen nicht um die Rekonstruktion einer historischen Vergangenheit, sondern um die Frage nach deren Konstruktion durch die jeweiligen Autoren. Abgerundet wird die literaturwissenschaftliche Untersuchung durch die Überlieferungsgeschichte einer jeden Chronik und Informationen zu den einzelnen Dynastien. Bei der Analyse werden grundsätzlich immer, teilweise in enger Verschränkung mit den literaturwissenschaftlichen, auch historische Fragestellungen mitgeführt.
In einem programmatischen Kapitel macht Wolf seinen Leser mit der historiographischen Tradition und der Gattung ‚Adlige Hauschronik’ vertraut. Zudem gibt er einen Einblick in die Bedeutung des Herkommens einer Dynastie und versucht sich darüber hinaus dem Wahrheitsbegriff in der Literatur des 16. Jahrhunderts anzunähern. Die von diesen Koordinaten ausgehende Analyse erfasst ausdrücklich solche Werke, die nicht nur die Spannweite aufzeigen, in der sich Hauschroniken des 16. Jahrhunderts nach Form und Inhalt bewegen, sondern auch aufgrund ihres Anspruchs und ihrer Entstehungsbedingungen eine besondere Stellung innerhalb der Gattung adliger Hauschroniken einnehmen.
An den Beginn seiner Untersuchungsreihe stellt Wolf die für ihn den Anfang der Gattung markierende ‚Chronik der Truchsessen von Waldburg’. Straff durchgeführt und somit gut lesbar wird in dieser Chronik mittels einer stilistischen Mischform aus annalistischen Abschnitten und erzählerisch gestalteten Einzelbiografien mit exemplarischer Potenz ein Familienprofil mit politischer Vorbildfunktion für die Nachkommen entwickelt. Die gewissenhaftesten literarischen Inszenierungen erfahren solche Passagen, in denen mustergültiger Dienst am Reich vorgeführt wird. Der Chronist bedient sich in diesen Erzählungen einer immer ähnlichen und sehr simplen Struktur, die das historische Grundprinzip, das dadurch vermittelt werden soll, deutlich werden lässt: Treue wird stets belohnt, dem Verrat folgt die Rache auf dem Fuß.
Sebastian Küngs schon am Übergang zur Landesgeschichte stehende ‚Chronik der Grafen von Württemberg’ stellt ebenfalls die Dynastie in den Mittelpunkt, allerdings werden hier neben den Biografien auch für das Land relevante Ereignisse mitgeteilt. In den auf exemplarische Aspekte ausgerichteten Grafen- und Herzogsbiografien wird häufig ein signifikanter Charakterzug des Protagonisten als Leitthema für die Erzählung herausgestellt, wobei die Handlungsmotive den Mittelpunkt der Darstellung bilden. Die diachrone Erzählweise, derer sich der Chronist in den Biografien bedient, führt dem Leser anthropologische und politische Konstanten deutlich vor Augen, so beispielsweise, dass anhaltende Eintracht in der Politik unmöglich ist, da nahezu zwangsläufig immer wieder Konflikt und Konfliktlösung aufeinanderfolgen. Recht offen thematisiert der Chronist, aufgrund der schlechten Überlieferungslage immer wieder eine geschichtliche Wahrheit selbst konstruieren zu müssen, und fordert seine Nachfolger auf, die Chronik deshalb gegebenenfalls abzuändern. Dieser Appell impliziert eine perspektivenreiche Sicht auf Geschichte, da eine rein lineare Betrachtung der Fülle möglicher Ursachen nicht gerecht wird.
Das Herzstück von Wolfs Untersuchung bildet die detaillierte Analyse der als wohl disparateste Vertreterin der Gattung anzusehenden ‚Zimmerischen Chronik’. Auf über 1500 Folioseiten fingiert der Chronist Froben von Zimmern nicht nur die Herkunft von den Kimbern, sondern auch eine lückenlose Genealogie des Geschlechts seit dem 10. Jahrhundert. Auffällig ist an der ‚Zimmerischen Chronik’ der Wechsel von der anfänglichen Suche nach den Regeln für eine erfolgreiche Dynastiepolitik hin zu den später mehr und mehr in den Vordergrund rückenden Dispositionen der Welterkenntnis. Im Verlauf seiner Arbeit sprengt der Chronist den eigentlichen Rahmen einer herkömmlichen Hauschronik, indem er zunehmend auch die Geschichte benachbarter Geschlechter einbezieht, frühere Partien durch Nachträge ergänzt und seinen Bericht zusätzlich mit schwankhaften Erzählungen, Anekdoten, Fazetien und Sprichwörtern anreichert und somit Geschichte und Literatur eng miteinander verbindet. Die schwankhaften oder anekdotischen Kurzerzählungen dienen allerdings nicht allein der kurzweil, sondern sie spiegeln, kommentieren oder perspektivieren die historischen Ereignisse und ersetzen somit eine theoretische Reflexion. Die literarischen Texte treten gewissermaßen mit den jeweiligen geschichtlichen Ereignissen in einen „Dialog“ und unterlaufen so einsinnige Deutungen und Bewertungen. Wolf sieht einen solch ironisch-kritischen Umgang mit der Geschichte beeinflusst von der humanistischen Geschichtsphilosophie vor allem des damals breit rezipierten Lukian.
Zum Abschluss überprüft Wolf die identifizierten historiographischen und literarischen Muster an der ‚Zollernchronik’, die sich mit ihren äußerst reduzierten, sich auf die wesentlichen Inhalte einer Hauschronik beschränkenden Textpassagen als Vergleichsstück anbietet. Auch hier hat der Chronist sein Werk in eine literarische Form gegossen. Zur Charakterisierung der Zollerngrafen verwendet er gängige literarische Beschreibungsmuster, wobei die Biografien in ihrer Gesamtheit ein umfangreiches Repertoire von Situationen aufzeigen, denen sich ein Regent ausgesetzt sieht. Die Geschichte der Dynastie wird in der ‚Zollernchronik’ insgesamt als einheitliches Konstrukt geboten, das schon deshalb normative Kraft entfalten kann.
Den Chroniken kann Wolf als gemeinsame Entstehungsvoraussetzung nachweisen, dass alle vier besprochenen Dynastien zu diesem Zeitpunkt gerade einen (standes-)politischen Erfolg errungen hatten: Die Truchsessen von Waldburg waren zu Reichserbtruchsessen ernannt, die Württemberger in den Reichsfürsten-, die Zimmern in den Grafenstand erhoben worden, und Karl I. von Zollern war gerade Reichserbkämmerer und Reichshofratspräsident geworden. Mit einer Hauschronik sollte jeweils der neu gewonnene Status untermauert werden. Dazu werden nicht allein familienbezogene Fakten zusammengeführt, sondern zusätzlich der Geschichte des Geschlechts eine geschlossene epische Form verliehen. Besonderen Wert wird in den Chroniken auf die Konstruktion eines repräsentativen Herkommens gelegt, das neben einem ritterlichen Stammvater und einem adeligen Stammsitz eine möglichst vollständige Genealogie vorweisen können muss. Als gleichermaßen bestimmend für alle Chronisten sieht Wolf das Streben nach Erkenntnis der Gegenwart und dem Verstehen des eigenen kulturellen Systems.
Lange Zeit führte die spätmittelalterliche Chronistik ein Schattendasein in der germanistischen Forschung. Somit ist Wolfs Untersuchung als eine Pionierarbeit anzusehen. Diesem Umstand ist es vielleicht geschuldet, dass, verglichen mit der sorgfältigen und umfassenden Analyse der Texte, die Synthese insgesamt etwas knapp ausfällt. Doch soll die Leistung dieses Buchs dadurch in keiner Weise geschmälert werden. Wolfs vielleicht größter Verdienst ist es, den Gegensatz zwischen pragmatischer und literarischer Schriftlichkeit relativiert zu haben. Indem er die von den Chronisten eingesetzten literarischen Muster und Strukturen aufgedeckt, kann er einsichtig den narrativen Anspruch der Chroniken herausstellen. Historiographische Texte sind demnach als Literatur zu begreifen und lassen sich mit literaturwissenschaftlichen Methoden untersuchen. Wolfs Ansatz eröffnet somit genügend Perspektiven für weitere entsprechende Untersuchungen.