Der vorliegende Band ist, wie bereits die ihm vorausgehende Untersuchung von Shulamit Volkov ueber die Zeit zwischen 1780 und 1914 in derselben Reihe, eine insgesamt gelungene knappe Zusammenfassung neuerer deutsch-juedischer Geschichte. Auf 140 Seiten einen Ueberblick ueber die Grundlinien der Geschichte wie auch der Forschung zu geben ist sicherlich keine leichte Aufgabe. Als einer der ausgewiesensten Kenner deutsch-juedischer Geschichte versteht es Zimmermann, in diesem vorgegebenen Rahmen die wichtigsten Tendenzen hervorzuheben und sowohl auf die Rahmenbedingungen, so etwa die sich veraendernden politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, und hier vor allem den zunehmenden und nach 1933 staatstragenden Antisemitismus, wie auch auf die innere Entwicklung des deutschen Judentums einzugehen. Innovative und anregende Diskussionen bieten insbesondere seine Analysen der Forschungstendenzen in den Abschnitten ueber die juedische Frau und die besondere Bedeutung Berlins. Zimmermann ist nicht nur mit der Materie, sondern auch mit der relevanten Literatur - in deutscher, englischer, und in zunehmendem Masse heute auch hebraeischer Sprache - bestens vertraut. So bietet dieser Band dem deutschsprachigen Leser eine praezise und konzise Zusammenfassung, wie sie in dieser Form bisher nicht existierte und als Nachschlagwerk von grossem Nutzen sein wird.
Es ist begruessenswert, dass der Band, auch in seiner notwendigerweise begrenzten Form, versucht, Akzente zu setzen. Im Gegensatz zu einer blossen Zusammenfassung wird hier der Leser, wie auch der Rezensent, zur Diskussion mit Zimmermanns Thesen herausgefordert. Zimmermanns Interpretation wird bereits im Titel deutlich. Im Gegensatz zu Volkovs vorausgehendem Band "Die Juden in Deutschland" waehlte Zimmermann als Titel "Die deutschen Juden". Er begruendet dies mit der Aussage, dass die juedische Bevoelkerungsgruppe "ein integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft, keine Enklave oder Exklave innerhalb dieser Gesellschaft war... Erst die nationalsozialistische Gesetzgebung von 1935 hat die deutschen Juden zu 'Juden in Deutschland' degradiert." (XI-XII) Gewiss trifft diese Aussage fuer den Grossteil der deutschen Juden zu, wobei man allerdings bedenken muss, dass sich zahlreiche der in diesem Band ausfuehrlich behandelten osteuropaeischen Juden auch vor 1935 nicht als deutsche Juden bezeichneten und auch keine deutsche Staatsbuergerschaft besassen. Zimmermanns These geht allerdings weiter. Fuer ihn ist die juedische Gesellschaft der Weimarer Republik durch einen "kontinuierlichen Prozess der Assimilation" (1) gekennzeichnet. Er pflichtet somit im Prinzip der bereits 1911 von Felix Theilhaber in seiner Schrift "Der Untergang des deutschen Judentums" geaeusserten und von Historikern bis heute immer wieder ausgesprochenen Untergangstheorie durch fortschreitende Assimilation bei: "Angesichts des Gefuehls vom Untergang, das die juedische Existenz also bereits in der Zeit vor dem Dritten Reich begleitete, will der Eindruck entstehen, der Nationalsozialismus sei im deutschen Judentum auf ein Opfer gestossen, das ohnehin schon stark geschwaecht war." (80)
Zimmermann ist sich wohl der von Shulamit Volkov eingefuehrten These der "Dissimilation" bewusst, die unter einer wachsenden Minderheit assimilierter deutscher Juden eine Rueckwendung zum Judentum erkannte, doch raeumt er ihr nur begrenzte Bedeutung ein. Man sollte diese Tendenz, die zumeist unter juenegeren juedischen Intellektuellen in Erscheinung trat, gewiss nicht ueberschaetzen. Dennoch haette eine etwas eingehendere Zusammenfassung dieses Phaenomens, zu dem neben der Zunahme juedischer Schulen in den Grosstaedten und der Herausbildung eines Erwachsenenbildungssystems nicht zuletzt die religioese Entwicklung im Judentum der Weimarer Republik gehoert, diesen Band bereichert.
In dem die NS-Zeit betreffenden Teil erhaelt der Leser nicht nur eine fundierte Zusammenfassung der Ereignisse, sondern auch eine abgerundete Darstellung der verschiedenen Forschungsansaetze. In der Frage der Kontinuitaet des Antisemitismus haelt Zimmermann Hans Mommsens Sichtweise, die Judenvernichtung losgetrennt von der Geschichte des traditionellen Antisemitismus zu betrachten, fuer zu weitgehend. Weit negativer jedoch ist sein Urteil ueber Daniel Goldhagen, dessen "These vom Determinismus antisemitischer Kontinuitaet in Deutschland... unakzeptabel und zurueckzuweisen" sei.(106) Mit Hermann Graml plaediert er fuer eine vermittelnde Sichtweise: "Kontinuitaet im Antisemitismus war vorhanden, eine zur physischen Vernichtung der deutschen Juden fuehrende Praedestination jedoch nicht." (106) Auch in der Frage der Planung der "Judenpolitik" bewegt sich Zimmermann auf dem Terrain zwischen Intentionalisten und Funktionalisten, wobei er allerdings, sich auf Reinhard Ruerup berufend, letztere entschiedener zurueckweist: "Die Planlosigkeit muss also zu Recht in den Bereich der Legendenbildung verwiesen werden, auch wenn die konkrete Ausfuehrung zuweilen spontan und ungeordnet war." (122) Begrifflich ein wenig unklar ist die Bewertung des NS-Regimes durch die deutschen Juden im Jahre 1933. Wenn es etwa nach einem Satz, in dem von "zahlreichen deutschen Juden" die Rede ist, heisst, "Man ging von der Annahme aus, in einem neuen Regime, gleich ob als Uebergangsphase oder als laengerfristiges System, werde ein positiver und segensreicher Geist wehen", (129) so kann dies von einem unbedarften Leser durchaus als eine Unterstuetzung des NS-Regimes durch einen Grossteil der deutschen Juden missverstanden werden.
Nicht zuletzt die Integration jeweils knapper Abschnitte ueber die juedische Existenz im Nachkriegsdeutschland und deren historiographische Aufarbeitung, die in aehnlichen Darstellungen zumeist unter den Tisch fallen, hebt diese Studie vor manch anderer hervor. Zurecht verneint Zimmermann das Vorhandensein einer "Stunde Null" in der Geschichte der deutschen Juden, oder wie es 1945 wieder hiess, der Juden in Deutschland. Er weist trotz bedeutender historischer Brueche auch auf Kontinuitaeten hin. Durchaus zutreffend ist seine Wertung, dass "die Bedeutung des deutschen Judentums nach 1945 also in erster Linie in seinem Beitrag zur Bildung einer deutschen Identitaet in der Nachkriegszeit [liegt]. Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto wichtiger wird die kontinuierliche Existenz der juedischen Gesellschaft fuer das deutsche Kollektiv: In dieser Kontinuitaet liegt einer der Legitimitaetsfaktoren Deutschlands nach dem Krieg." (136)
Zimmermanns historiographische Kritik macht sich nicht an einzelnen Themenbereichen oder methodologischen Ansaetzen fest, sondern betrifft prinzipiell die deutsch-juedische Geschichtsschreibung: Es sei, so Zimmermann eine weitverbereitete Regel, die allgemeine Geschichte bei der Betrachtung der juedischen Geschichte auszublenden und sich auf eine angeblich autonome juedische Geschichte zu konzentrieren, wie dies "letztlich ja dem Geist der nationalsozialistischen Auffasung entspricht... Die Tendenz, nicht nur Juden, sondern die juedische Geschichte insgesamt zu ghettoisieren, muss endlich ueberwunden werden", folgert er. (XII) Man mag sich fragen, ob das Grundproblem deutsch-juedischer Geschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum sich nicht eher umgekehrt darstellt. Wahrend man an israelischen Universitaeten aufgrund der noch immer existierenden offiziellen Unterscheidung zwischen "Juedischer Geschichte" und "Allgemeiner Geschichte" eine derartige Ausblendung mitunter erkennen mag, wird hierzulande juedische Geschichte oftmals gerade als blosser Ausschnitt deutscher Geschichte betrachtet, ohne die Querverbindungen innerhalb der juedischen Geschichte und Kultur naeher zu kennen.
Auch wenn man nicht in jedem Detail mit Zimmermanns Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung uebereinstimmt, so wird man anerkennen muessen, dass seine eigene Studie gewiss dem von ihm gesetzten Anspruch gerecht wird und die inneren Entwicklungslinien juedischer Geschichte mit der Diskussion des breiteren Kontexts gekonnt verbindet. Hierin vor allem liegt das Verdienst des Bandes, dem eine zahlreiche und kritische Leserschaft erwuenscht sei.