H. E. Mayer: Von der "Cour des Bourgeois" zum öffentlichen Notariat

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Titel
Von der Cour des Bourgeois zum öffentlichen Notariat. Die freiwillige Gerichtsbarkeit in den Kreuzfahrerstaaten


Autor(en)
Mayer, Hans Eberhard
Reihe
Monumenta Germaniae Historica Schriften 70
Erschienen
Wiesbaden 2016: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XXXIV, 526 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Härtel, Institut für Geschichte, Universität Graz

Der Band behandelt zwei bisher wenig bis gar nicht beackerte Felder der Geschichte der festländischen Kreuzfahrerstaaten, und er schließt damit eine Forschungslücke. Aufgearbeitet werden jene Institutionen (Gerichte und Notariat), die, wenn auch keineswegs exklusiv, für die Errichtung und weithin auch für die Beurkundung von „privatrechtlichen“ Verträgen einer breiten Bevölkerungsschicht zuständig waren. Denn anders als der Buchtitel zunächst vermuten lässt, werden neben der Cour des Bourgeois auch deren Konkurrenten berücksichtigt, vor allem das Patriarchengericht, aber auch die Quartiersgerichte der Italiener und Provenzalen in den Hafenstädten. Wegen der ungleich verteilten Überlieferung (dies schon wegen der territorialen Verschiebungen im Lauf des untersuchten Zeitraums) stehen für das 12. Jahrhundert die Verhältnisse in Jerusalem und für das 13. jene in Akkon im Vordergrund. Aber es gibt auch immer wieder Seitenblicke auf spätere Verhältnisse in Zypern.

Wie schon die Kapitelüberschriften zeigen, gilt Mayers Hauptaugenmerk den organisatorischen und personellen Aspekten von Cour des Bourgeois und Notariat. Die behandelten organisatorischen Belange reichen von den Verschiebungen in den Geschäftsbereichen bis zu den Gerichtsgebühren. Größtes Gewicht legt Mayer auf die detaillierte Dokumentation der mit Vertragserrichtung und Beurkundung befassten Personen. Die den Cours des Bourgeois präsidierenden Vizegrafen und alle in den festländischen Kreuzfahrerstaaten feststellbaren Notare werden in eingehenden prosopographischen Katalogen vorgestellt (ein einzelner solcher Eintrag kann bis zu 12 Druckseiten in Anspruch nehmen), und dazu kommt noch ein eigener Abschnitt über einzelne Notarspersönlichkeiten von besonderer Bedeutung.

Mayer hatte eine Reihe beachtlicher Schwierigkeiten zu meistern, beginnend mit der oft schwierigen Feststellung, ob ein bestimmter Vertrag unter Beteiligung des Gerichts zustande gekommen ist oder nicht. Mayer greift hierbei immer wieder kontrollierend (und bisherige Auffassungen korrigierend) auf die weit verstreute archivalische Überlieferung zurück – Anlass für eine reiche Fülle von Beobachtungen, über welche den Überblick zu behalten nicht immer leicht ist. Normativer Anspruch und Praxis, wie sie beide in den Quellen ihren Niederschlag finden, werden stets sorgfältig gegeneinander abgewogen. Immer wieder erörtert Mayer auch, inwieweit ein Teilergebnis durch Urkundenverluste verzerrt sein könnte. Wo es ihm nötig scheint, hält sich Mayer auch mit massiver Kritik nicht zurück.

Es liegt in der Natur der Sache, dass der Band eine reiche Fülle von Informationen zum Urkundenwesen enthält, etwa zu Vorkommen und Art der Besiegelung, zur Chirographierung, zur Herstellung beglaubigter Abschriften, zur Urkundensprache (Latein bzw. Altfranzösisch), zum notariellen Signet oder zu großen Vidimierungs-Aktionen. Aber diese Gesichtspunkte stehen insofern nicht im Vordergrund, als sie trotz ihrer eingehenden Berücksichtigung insgesamt nicht die Struktur des Bandes prägen und auch über das sehr knappe Sachregister nicht immer erreichbar sind. Das gilt z. B. für das Problem gewisser unredlicher Notarspraktiken. Solche hatten logischerweise nicht zuletzt mit dem Konkurrenzdruck bei den Notaren zu tun und werden daher im Kapitel über „die Zahl der Notare“ behandelt (S. 113f.). Die Vorbemerkungen zu den als Beispielen edierten Urkunden wiederum enthalten fallweise Darlegungen von allgemeinem Interesse, die aber registermäßig nicht erschlossen sind, etwa zum Gebrauch von Wachs- und Bleisiegeln (vgl. S. 256). Bei der von Mayer gewählten größeren Gewichtung von Behörden- und Personengeschichte gegenüber der Beurkundungspraxis wird – insbesondere für das 12. Jahrhundert – auch nicht recht klar, welches zahlenmäßige Gewicht den hier behandelten Verträgen bzw. Beurkundungen am Gesamtvolumen der (für uns erkennbaren) Geschäftsfälle zukommt.

Gleichwohl wird überdeutlich, wie – analog zur absinkenden Bedeutung der Cour des Bourgeois – bei der Beurkundung die Entwicklung insgesamt verläuft: Am Anfang steht die weithin siegellose Parteienurkunde über die vor Gericht verhandelte Angelegenheit, gegebenenfalls auch eine objektiv gefasste Notiz, mit dem aus dieser Praxis resultierenden formalen „Wildwuchs“ (S. 44). Die Entwicklung führt zum einfach zu handhabenden Notariatsinstrument, die einfachen Parteiurkunden verschwinden aber nicht völlig. Die vom Gericht selbst ausgestellte und gegebenenfalls von einem eigenen Gerichtsschreiber hergestellte Urkunde tritt erst spät auf und bleibt selbst dann eine Ausnahmeerscheinung. Unübersehbar bleibt dabei, wie massiv das Notariat in den Kreuzfahrerstaaten nicht nur personell, sondern auch in seiner Beurkundungspraxis von den eingewanderten Notaren im Wesentlichen italienisch geprägt war. Letztere waren die mit Abstand größte Konkurrenz für die Cours des Bourgeois. Mayer hält neben den Notaren in den Quartieren der Italiener und Provenzalen die Schiffsnotare für „ein großes Einfallstor für das italienische Notariat“ (S. 97). Dem könnte man deren oft sehr speziellen Aufgabenkreis entgegenhalten, aber Mayer sieht in ihnen (zumindest vielfach) angehende Notare, die hier die Voraussetzungen für die spätere Aufnahme ins heimische Notarskollegium erwarben (vgl. S. 102). Die italienische Prägung des Notariats könnte noch zu Überlegungen darüber anregen, in welcher Weise zuvor das Beweismittel des gerichtlichen recort de cour (vgl. S. 16f., 22 und 96) mit dem abendländischen, insbesondere französischen Modell des gerichtlichen record zusammenhängt.

Bei aller Italianità des Notariats in den Kreuzfahrerstaaten kann Mayer aber doch etliche Besonderheiten gegenüber dem westlichen Modell herausarbeiten. So hielten die Notare im Heiligen Land die Sonntags- bzw. Feiertagsruhe in hohem Maße ein, ganz anders als ihre Kollegen im Abendland (vgl. S. 146f.). Dass der Sommer im Westen eine Ruhephase bedeuten konnte, während in den Kreuzfahrerstaaten gerade Hochbetrieb herrschte, erklärt Mayer schlüssig mit der Schiffahrts-Saison (vgl. S. 148, Anm. 256). Im lateinischen Orient ist auch nicht zu sehen, dass sich Notare für die Niederschrift des eigentlichen Urkundentextes (also exklusive der notariellen Unterfertigungsformel) eines Gehilfen bedient hätten (vgl. S. 148). Schließlich finden sich in Mayers Beobachtungen zum Urkundenwesen auch besondere Farbtupfer wie ein urkundlich bezeugter Umtrunk im Zusammenhang mit einer Rechtshandlung (vgl. S. 39).

Mayers Buch ist ebenso sehr Nachschlagewerk wie Darstellung. Die fünf Anhänge – ohne die Register – machen allein schon mehr als die Hälfte des gesamten Seitenumfangs aus. Der erste davon enthält reich kommentierte Urkundenbeispiele in ausgewogener zeitlicher, institutioneller und formaler Streuung. Abbildungen sind nicht beigegeben, was man angesichts des Lagerorts der meisten Stücke (Nationalbibliothek von Malta) bedauern mag. Aber erstens war es Mayers Absicht, „eine Vorstellung von der praktischen Tätigkeit“ der Gerichte zu geben (S. 218), und außerdem ist anzunehmen, dass die abendländischen Modelle im lateinischen Osten auch äußerlich keine grundlegenden Veränderungen erfahren haben werden. Die Anhänge II bis IV bieten die schon erwähnten Listen der Cours des Bourgeois und ihrer Vizegrafen sowie der Notare in den festländischen Kreuzfahrerstaaten.

Bei der reichen Materialfülle des Bandes sind gewisse Versehen wohl so gut wie unvermeidlich. So gibt Mayer an, im Heiligen Land 124 öffentliche Notare festgestellt und im Anhang IV verzeichnet zu haben (S.109). Dort finden sich aber „nur“ 122 Einträge. Mayer verweist mit Recht darauf, dass Venedig „kein Notariatsinstrument ausbildete“ (S. 140), aber kurz zuvor ist dennoch von Notariatsinstrumenten in Venedig die Rede (vgl. S. 134).

Der Band enthält kein Gesamtregister. Ein Urkundenregister erfasst die Fundstellen der gedruckten wie der archivalischen Dokumente, und nach einem Register der Vizegrafen und öffentlichen Notare folgt das ebenfalls nützliche, aber doch allzu knapp gehaltene Sachregister.

Mayer bemerkt zu Recht, dass in den Handbüchern zum europäischen Notariat die Kreuzfahrerstaaten nicht vorkommen, und dass sein Buch jetzt die „Vorarbeiten für eine handbuchartige Zusammenfassung“ liefern wolle (S. 94). Als Beispiel für diese Nichtberücksichtigung des lateinischen Ostens nennt Mayer hierbei auch das einschlägige Buch des Rezensenten.1 In der Tat konnte es der Rezensent 2010 nicht wagen, auch das Urkundenwesen der Kreuzfahrerstaaten in seine Darstellung einzubeziehen. Erst jetzt – mit Mayers Buch in der Hand – wäre der Versuch aussichtsreich gewesen.

Anmerkung:
1 Reinhard Härtel, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter, Wien 2011.

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