Bürgertumsforschung hat in Deutschland nach wie vor Konjunktur. Das gilt nicht nur für die Geschichtswissenschaft, die sich seit rund zwanzig Jahren intensiv mit verschiedenen Aspekten von Bürgertum und Bürgerlichkeit vor allem im 19. Jahrhundert beschäftigt, sondern auch für andere Disziplinen wie Germanistik, Soziologie oder Philosophie. Eine gerade in den letzten Jahren wieder vermehrt diskutierte Frage ist die nach der Beziehung des Einzelnen zur gesellschaftlichen und politischen Ordnung oder anders formuliert: nach dem Verhältnis von Individualität und Vergesellschaftung.
Sie steht auch im Mittelpunkt der in Heidelberg entstandenen und 2001 abgeschlossenen philosophischen Dissertation von Tilman Reitz. Ihr Hauptinteresse richtet sich darauf, wie die „führenden Intellektuellen“ (S. 10) im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert die Beziehung zwischen bürgerlichem Selbst- und Weltverhältnis reflektierten und welche Lösungsmöglichkeiten sie entwickelten. Die Fragestellung ist also eine ideengeschichtliche, die mit den Methoden der Textanalyse und der Kontextualisierung beantwortet werden soll.
Die beiden letztgenannten Verfahren bilden gleichzeitig die Grundlage für die Gliederung der Arbeit in zwei Hauptteile. Im ersten steckt Tilman Reitz in drei „Feldanalysen“ die Ausgangslage sowie die Rahmenbedingungen des bürgerlichen Diskurses ab. Die Kontextualisierung bezieht sich in erster Linie nicht auf eine (sozial-)historische Einordnung, vielmehr soll sie die um 1800 geführte Debatte über Individualität und Vergesellschaftung in die Entwicklung der politischen Theorie und Philosophie in Großbritannien, Frankreich und Deutschland einbetten. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Orientierung an überlieferten Lebensformen und Glaubenssätzen für den einzelnen seit dem 16. Jahrhundert immer schwieriger wurde. Deshalb wurde die „Herstellung einer postfeudalen und überkirchlichen Staatlichkeit“ (S. 32) diskutiert, die den Individuen von außen Verhaltensordnungen auferlegte. Die Theorie des Absolutismus setzte demnach den Einzelnen als einen aus allen Bindungen gelösten Untertanen voraus. Als Gegenbewegung dazu entwickelte die Aufklärung Konzepte, die auf der Vergesellschaftung autonomer Privatleute basierten. Die politische Theorie grenzte im 18. Jahrhundert einen privaten Verfügungsbereich ab und entwickelte Überlegungen zu seiner Gestaltung. Das wiederum führte zu Spannungen mit der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung, weil sie der autonomen Lebensführung keinen ausreichenden Freiraum ließ.
Auf dieser Grundlage stellt die Dissertation im zweiten Hauptteil drei Modelle bürgerlicher „Intellektueller“ vor, die den zuvor geschilderten Gegensatz entschärfen und das Verhältnis von Individualität und Vergesellschaftung neu bestimmen sollten. Zu diesem Zweck werden in „Einzelanalysen“ Texte Wilhelm von Humboldts, Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Johann Wolfgang von Goethes interpretiert. In Humboldts Bildungstheorie, aber auch in seinem Wirken als Bildungspolitiker sieht Reitz den Versuch, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entfaltung der individuellen Kräfte zu schaffen: Die Einrichtung eines Schul- und Universitätssystems, das eine allseitige, nicht auf einen speziellen Beruf ausgerichtete Bildung gewährleistet, soll die Einzelnen auf ihre spätere Tätigkeit in Staat und Gesellschaft vorbereiten. Hegel betont demgegenüber die Grenzen des individuellen Verfügungsbereichs, denn seiner Meinung nach gewinnt menschliche Freiheit erst in staatlichen Institutionen Realität: „Als Privatleute können die Einzelnen keine politischen Ansprüche erheben, und auch die Räume des Eigenen sind nur solange bestandsfähig, wie sie ihnen vorgegebene Funktionen und stabilisierende Erwartungen erfüllen“ (S. 252). Goethe schließlich schildert im „Werther“ sowie in den beiden „Wilhelm Meister“-Romanen in literarischer Form aus der Sicht eines Einzelnen, wie dessen Bestreben zur individuellen Entfaltung mit den bestehenden Ordnungen konfrontiert wird.
Als ein Hauptergebnis seiner Untersuchung formuliert Reitz ein unintendiertes Resultat der bürgerlichen Haltung: Die Normierung des Privaten schafft Distanz zur bestehenden Ordnung des Zusammenlebens. Auch wenn sich die von ihm untersuchten Autoren für eine Selbstbeschränkung des Einzelnen aussprechen, so bleibt doch die Frage nach der Legitimität der sie beschränkenden Ordnung weiterhin bestehen. An diesem Punkt zieht die Studie den Vergleich mit der Gegenwart, „wenn das Private erneut das gesellschaftliche Leben bestimmt – wenn die postfordistische Privatisierung der Arbeits- und Versorgungsverhältnisse kollektive Solidarregelungen auflöst“ (S. 253) und an deren Stelle auf Eigenverantwortlichkeit setzt. Obwohl man aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive eher zurückhaltender wäre, Parallelen zwischen der „klassisch bürgerlichen“ Privatheit um 1800 und der heutigen „neoliberalen“ zu ziehen, kann damit doch, wie es Reitz eingangs als ein Ziel der Untersuchung formuliert, „eine alternative Sicht auf gegenwärtige Problemlagen“ (S. 11) gewonnen werden.
Den ebenfalls in der Einleitung formulierten Anspruch, „schlicht [...] ein neues Verständnis einer Etappe der abendländischen Gesellschaftsentwicklung“ (S. 10f.) zu bieten, kann die Arbeit allerdings nicht erfüllen. Das ist schon angesichts der Auswahl sehr prominenter Autoren und schon in verschiedenen Zusammenhängen vielfach untersuchter Texte schwierig. Angesichts dessen fällt das Literaturverzeichnis überschaubar aus. Zwar bezieht Tilman Reitz in seine Analyse insbesondere die neuere Literatur mit ein, doch vermisst man vor allem eine stärkere Auseinandersetzung mit der historischen Bürgertumsforschung. Damit ist nicht die Einbeziehung von Erkenntnissen über Bürgertum und Bürgerlichkeit in der historischen Realität gemeint, denn darauf richtet sich das Erkenntnisinteresse der Arbeit nicht. Vielmehr hätte die Studie von der Berücksichtigung der von der Geschichtswissenschaft entwickelten konzeptionellen Überlegungen profitieren können. Das gilt etwa für die Arbeiten von Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann 1, die gerade im Sinne von Reitz Bürgerlichkeit als Spannungs- bzw. Wechselverhältnis von Individualität und Vergesellschaftung verstehen.
Anmerkung:
1 Hettling, Manfred, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschafttung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918 (Bürgertum 13), Göttingen 1999, bes. die Einleitung S. 1-34; Ders.; Hoffmann, Stefan-Ludwig, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333-360.