M. Düring: Verdeckte soziale Netzwerke im Nationalsozialismus

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Titel
Verdeckte soziale Netzwerke im Nationalsozialismus. Die Entstehung und Arbeitsweise von Berliner Hilfsnetzwerken für verfolgte Juden


Autor(en)
Düring, Marten
Erschienen
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laura Pörzgen, Humboldt-Universität Berlin

In seiner im vergangenen Jahr erschienenen Dissertation untersucht Marten Düring sechs Hilfsnetzwerke, die zwischen 1938 und 1945 in Berlin verfolgte Jüdinnen und Juden unterstützten. Die Dissertation ist im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts „Referenzrahmen des Helfens“ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen unter der Leitung von Harald Welzer entstanden. Zu untergetauchten Jüdinnen und Juden (in Berlin) und deren Helfer/innen existieren bereits einige ausgezeichnete Arbeiten, von denen mehrere im Rahmen des von Wolfgang Benz geleiteten Forschungsprojekts „Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1945“ entstanden sind. Düring arbeitet bei der Auswertung der einzelnen Fälle mit der in den Geschichtswissenschaften bisher wenig genutzten Methode der sozialen Netzwerkanalyse.1 Er weist darauf hin, dass vor allem bei der Erforschung des Nationalsozialismus Netzwerkansätze bisher kaum „fruchtbar gemacht“ (S. 25) worden seien.

Die Arbeit ist in vier Abschnitte gegliedert; die einzelnen Kapitel sind in recht kurze Unterkapitel unterteilt. Nach der Einleitung legt der Autor sein methodisches Vorgehen dar. Den Hauptteil der Arbeit bilden die Fallstudien, deren Inhalte jedoch unterschiedlich umfangreich dargestellt werden. So ist die Beschreibung des Helfernetzwerkes um Karl Deibel etwa doppelt so lang wie die Schilderungen der Hilfsaktivitäten der „Gruppe Onkel Emil“ oder des Fluchthilfenetzwerks um Luise Meier.

Sowohl in der Einleitung als auch im Methodenkapitel setzt sich Düring kritisch mit den von ihm verwendeten Begriffen auseinander. So liefert er unter anderem eine fundierte Begründung für die Verwendung der Begriffe „Hilfe“ bzw. „Helfer“ anstelle von „Rettung“ bzw. „Retter“ (S. 3f.). Er kritisiert zudem, dass der Begriff des „Netzwerks“ bisher häufig zu ungenau und verallgemeinernd verwendet worden sei. In seiner Dissertation benutzt Düring den Begriff des „Netzwerks“ auf mehreren Bedeutungsebenen. Im Großen und Ganzen umfasse der Begriff „die aus den Hilfsleistungen hervorgegangenen Beziehungsstrukturen zwischen Nichtverfolgten und Verfolgten“ (S. 5) und sei in der Regel eine „retrospektive [...] Konstruktion“ (S. 52).

Helfer/innen handelten in der Regel „nicht isoliert, sondern in Interaktion mit Anderen“ (S. 2). Bei einer sozialen Netzwerkanalyse stehen statt der einzelnen Akteure deren Beziehungen im Vordergrund. Dementsprechend kritisch setzt sich Düring mit dem persönlichkeitsorientierten Ansatz bei der Erforschung von Helfer/innen und deren möglichen Motiven auseinander. Bei diesem Ansatz komme unter anderem zu kurz, dass Verfolgte nicht bloß passive Hilfeempfänger waren. Dies ist ein Aspekt, den der Autor in seiner Arbeit mehrfach hervorhebt. Er spiegelt sich auch in der Auswahl der Fallstudien. Neben vier Netzwerken von und um Helfer/innen2 werden auch die Beziehungsstrukturen von zwei Verfolgten – Erna Segal und Cioma Schönhaus – genauer untersucht.

Das Hauptaugenmerk des Autors gilt der Funktionsweise von Hilfsnetzwerken. Für die Auswertung der einzelnen Fallstudien hat Düring einen Fragenkatalog und ein eigenes Codiersystem entwickelt. Sein Vorgehen ermöglicht ihm, eine große Menge von Daten zu strukturieren und Komplexität somit zumindest in Teilen erfassbarer zu machen. Allerdings stellt sich die Frage, welche Informationen dabei möglicherweise verloren gehen. Düring reflektiert an mehreren Stellen die Probleme seines Vorgehens, verteidigt es jedoch und vertritt die Auffassung, dass es sich um einen „überschaubare[n] Informationsverlust“ (S. 55) handele und dass die Vorteile überwiegen.

Statt mit einer Datenbank arbeitet der Autor mit einer Excel-Tabelle, in der er „[f]ür jede Beziehung [...] sechs Beziehungsdimensionen erhoben“ (S. 53) hat. In dieser Tabelle entspricht eine Zeile einem Hilfsakt. Dies ist insofern problematisch, als dadurch in den einzelnen Dimensionen keine Mehrfachcodierungen möglich sind. So kann zum Beispiel pro Beziehung nur ein angenommenes Hauptmotiv für die Bereitschaft zur Hilfe angegeben werden. In den Kategorien „Zeitraum der Hilfe“ und „Zeitraum des Kennenlernens“ nimmt Düring eine Unterteilung in Halbjahresschritten vor. Erstere sei „von zentraler Bedeutung für die Erfassung von Netzwerkstrukturen“. Er räumt dann allerdings selbst ein, dass „[j]ede Abgrenzung von Zeiträumen [...] Probleme“ berge (S. 65). Zeitpunkte, die sich außerhalb der Klassifizierung befinden, möglicherweise aber einschneidende Brüche darstellen, wie zum Beispiel die sogenannte Fabrikaktion, können auf diese Weise nicht berücksichtigt und dargestellt werden. Die Informationen aus der Excel-Tabelle, aus denen schließlich per Abfrage die Grundlage für die Netzwerkgraphiken gewonnen werden, sind stellenweise also stark heruntergebrochen.

Die graphischen Netzwerkvisualisierungen sind ein wichtiger Teil der Arbeit. Für den „Laien“ sind sie jedoch – ohne erklärenden Text und Hintergrundwissen – zum Teil kaum zu benutzen und zu entschlüsseln. Laut Düring sei dies aber auch nicht der Anspruch solcher Darstellungen: „Ihr Zweck besteht darin, dem eingeweihten [!] Betrachter Informationen zur Verfügung zu stellen.“ (S. 67) Hier stellt sich dann jedoch die Frage nach dem Nutzen für Leser/innen. In den Graphiken können zudem Abhängigkeiten und Hierarchien nur schwer sichtbar gemacht werden. Eine Schwierigkeit, mit der sich auch der Autor befasst und die er letztlich nicht zufriedenstellend löst, ist, dass durch die graphischen Darstellungen optisch eine Vollständigkeit an Informationen suggeriert wird, von der man aber nicht sprechen kann. Denn viele der Quellen, etwa autobiographische Berichte sowohl von nichtverfolgten Helfer/innen als auch von Verfolgten, aus denen Hilfeverhalten rekonstruiert werden kann, sind sehr lückenhaft.

Das Quellenverzeichnis fällt insgesamt eher knapp aus und bietet auf den ersten Blick wenig Neues. Auffällig ist zudem, dass Düring an einigen Stellen in den Fallanalysen seine Informationen maßgeblich aus Dossiers bezieht, die zu einzelnen Personen in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW) angelegt worden sind. In diesen finden sich – meist in Kopie – Materialien aus unterschiedlichsten Bezugsquellen. Für Leser/innen ist durch die zum Teil etwas ungenauen Angaben in den Fußnoten häufig nicht erkennbar, woher die Quellen ursprünglich stammen. Besonders ins Auge sticht dies in der Beschreibung des Helfernetzwerkes um Franz Kaufmann. Nachdem dieses aufgedeckt worden war, wurde Kaufmann von der Gestapo verhört. Düring zitiert zweimal direkt hintereinander aus einem Gestapo-Protokoll, gibt jedoch zwei unterschiedliche Belegstellen an (S. 86).3

Insgesamt ist die Dissertation nicht besonders umfangreich und lässt sich recht schnell lesen. An der ein oder anderen Stelle wird der Lesefluss jedoch durch Ungenauigkeiten und fehlerhafte Datierungen von Ereignissen, etwa den Beginn der Deportationen betreffend, gestört.4 Das etwas enttäuschende Abschlusskapitel macht deutlich, was sich schon während der Lektüre der einzelnen Fallstudien abzeichnet: Zwar ist Dürings Ansatz interessant, liefert aber für den von ihm bearbeiteten Themenbereich kaum neue Erkenntnisse. Es stellt sich zudem schlussendlich die Frage, ob die Vorteile der gewählten Vorgehensweise die dadurch entstehenden Schwierigkeiten und Unschärfen in den Befunden überwiegen.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu: Morten Reitmayer / Christian Marx, Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, in: Christian Stegbauer / Roger Häußling (Hrsg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 869–880.
2 Die Hilfsnetzwerke um Franz Kaufmann, Luise Meier und Karl Deibel sowie das Netzwerk um die „Gruppe Onkel Emil“.
3 Als Fundstelle für das erste Zitat verweist der Autor auf die Dissertation von Katrin Rudolph, Hilfe beim Sprung ins Nichts. Franz Kaufmann und die Rettung von Juden und „nichtarischen Christen“, Berlin 2005. Das zweite Zitat ist dem Dossier der GDW zu Franz Kaufmann entnommen. Es stellt sich die Frage, warum der Autor sich hier nicht auf die Originalquelle bezieht, welche im Landesarchiv Berlin liegt (LAB, A Rep. 355, Nr. 18617).
4 So finden sich zum Beispiel neben einer falschen Bildunterschrift (S. 130) auch falsche Kennzeichnungen von Personen in den Graphiken (S. 170 und 172).