Karen Werner beginnt ihre Darstellung mit der Feststellung, dass in gegenwärtigen Lehrplänen und Lesebüchern für den Deutschunterricht an bundesdeutschen Schulen „der mittelalterlichen Literatur keine nennenswerte Bedeutung“ mehr zukomme (S. 7). Verwiesen wird hier auf das weitgehende Auslaufen einer Entwicklungslinie, die sich im Umgang mit dieser Literatur und im Wechsel politischer Systeme gut zurück bis in die Schulen des Kaiserreiches verfolgen lässt. Zuletzt – bis 1989/90 – war es die in den 1960er-Jahren als „Einheitsschule“ etablierte zehnklassige Pflichtschule der DDR, die mittelalterliche Literatur nennenswert im Programm hatte. Dieses bezog sich zudem nicht mehr nur wie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts auf kaum mehr als drei Prozent des Jahrgangs, sondern nun auf (fast) alle Schülerinnen und Schüler. Indem Karen Werner sich primär nicht mit der abiturberechtigten höheren Schule, auch nicht mit der vormaligen Volksschule befasst, sondern sich relativer Vergleichbarkeit des schulischen Anspruchsniveaus halber auf die üblicherweise nach zehn Schuljahren abgeschlossene mittlere Bildung konzentriert, eröffnet sie dem Leser einen bildungsgeschichtlichen und historisch-literaturdidaktischen Jahrhundertblick. Das gelingt im Untersuchungsfeld nicht zuletzt durch große Gründlichkeit. Immerhin verlangte ihr die Beschäftigung mit den betreffenden Schulformen – zum einen die (preußische) „Mittelschule“, zum anderen die Zehnklassenschule in der DDR – die Beschaffung und Durchsicht von allein 500 Lesebüchern und Anthologien ab, nicht gerechnet die Lehrpläne, sonstige amtliche Materialien (S. 20) und die gelegentlich doch vorgenommene Einbeziehung auch von Unterrichtsmedien der höheren Schule. Vor allem aber ist es die Mulitperspektivität, mit der allgemeine bildungspolitische Kontexte, Entwicklungslinien des Deutschunterrichts und der auch anhand zahlreicher Kurzbiografien transparent gemachten Germanistik mit Einzelanalysen zu ausgewählten mittelalterlichen Stoffen verbunden werden.
Entsprechend gliedert sich die Arbeit in zwei Hauptteile. Mit diesen gelingt es, dass Thema Deutschunterricht zunächst auf relativ großräumiger bildungs- und literaturhistorischer Ebene in die Jahrhundertgeschichte zu setzen, um es dann bezogen auf den Umgang mit einzelnen mittelalterlichen Texten konkreter zu fassen. Letzteres geschieht vor allem hinsichtlich der den Texten in wechselnden politischen Systemen zugemessen ideologischen Erziehungsintention. Fragen nach der heute kaum noch zu fassenden Unterrichtsrealität oder nach der tatsächlichen erzieherischen Wirkung werden dabei zugunsten der Fokussierung der Untersuchung bewusst zurückgestellt. Sofern zu diesen Fragen dennoch Forschungsergebnisse verfügbar sind, finden sie jedoch Erwähnung, oder sie werden, so im Fall der Lehrplanerfüllung1 in der DDR, kurz referiert (S. 118f.).
Im ersten der beiden Haupteile (S. 24–120) kommen der fachgeschichtliche Kontext und die Rolle der für den Deutschunterricht vorgesehenen mittelalterlichen Literatur zur Darstellung. Ausgehend von nationalerzieherischen Bestrebungen der im wilhelminischen Kaiserreich schließlich vereinsmäßig organisierten Germanisten wird für die Jahre der Weimarer Republik insbesondere der Deutschkundebewegung nachgegangen. Deutlich gemacht wird dabei der zwecks nationaler Gesinnungsbildung historisch entkontextualisierte Umgang mit den von Anfang an einer literaturgeschichtlichen Deutung entzogenen mittelalterlichen Texten, die dann nach 1933 nationalsozialistischer „Charakterschulung“ dienen müssen. Allemal geht es wie im Geschichtsunterricht um diese oder jene „Bilder“ aus der Vergangenheit, um den Bruch auch mit der Chronologie, nicht darum, sich im Unterricht auf historische Prozesshaftigkeit einzulassen. Den vermeintlichen Schlussstein der Geschichte setzt im geplanten Unterricht allemal die Gegenwart.
Letzteres gilt nicht weniger für die Schule in der DDR, deren Literaturunterricht von Karen Werner besonders eingehend behandelt wird. Sie macht dabei sichtbar, dass nicht nur in der DDR, sondern schon in der Sowjetischen Besatzungszone „die in Unterrichtsmaterialien aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus am häufigsten verwendeten mittelalterlichen Stoffe erneut Eingang in Lehrpläne und Lesebücher fanden“ (S. 101). Man habe dabei, wie überhaupt im Umgang mit dem „nationalen Literaturerbe“, nun versucht, die „zeitgenössische Weltanschauung in der Vergangenheit zu verankern. Entsprechend sei die Aufnahme mittelalterlicher Stoffe in den literarischen Kanon des Deutschunterrichts „oftmals nur mit Blick auf ihren scheinbar fortschrittlich geglaubten, gesellschaftsrelevanten Gehalt“ erfolgt. Vermerkt wird aber auch, dass den seit Mitte der 1960er-Jahre neu eingeführten Lehrplänen zufolge und im Unterschied zu allen vorgängigen Materialien auch „gattungstheoretische und rhetorisch-stilistische Kenntnisse sowie biographische Zusammenhänge vermittelt werden“ sollten (S. 110). Der vergleichsweise höhere sprach- und literaturhistorische Bildungsanspruch im Deutschunterricht der DDR lässt sich auch daran ablesen, dass entsprechende Lesebuchtexte sowohl in althoch- bzw. mittelhochdeutscher Sprache als auch in neuhochdeutscher Übersetzung (S. 170, S. 262) dargeboten wurden.
Während Karen Werner im ersten Teil vor allem einschlägige fachgeschichtliche Forschungsliteratur verarbeitet, befasst sie sich im Folgenden mit der „Analyse ausgewählter mittelalterlicher Stoffe innerhalb ihrer Rezeption in Unterrichtsmaterialien“ (S. 121–259). Das betrifft Walter von der Vogelweide, das Hildebrandlied, den Parzival Wolframs von Eschenbach, die Deutung der Kudrun und Werke von Hans Sachs. Die im ersten Teil übergreifend vorgetragenen Befunde finden dabei eine überzeugende und originäre Bekräftigung. Ein Tabellenanhang (S. 298–315) verzeichnet im Zeitverlauf die Präsenz mittelalterlicher Stoffe in den ausgewerteten Texten, sodass auch auf diese Weise sichtbar wird, wie sich Anzahl und Auswahl dieser Texte im Untersuchungszeitraum veränderten.
Wie Fragen der Rezeptionsgeschichtsforschung für die heutige Behandlung mittelalterlicher Literatur im Unterricht fruchtbar gemacht werden könnten, weist die Historikerin in ihrem Fazit (S. 260–260) noch ausstehenden differenzierten Untersuchungen zu (S. 266). Vielleicht wird sich die Wissenschaft tatsächlich damit beschäftigen, – einfach so, auch wenn diese vormals üblicherweise in der siebenten oder achten Jahrgangsstufe der „Mittelschule“ behandelte Literatur aus dem wirklichen Unterricht offenbar so gut wie ausgeschieden ist, Geschichte auf diese Weise mithin gegenwartsnäher geworden ist. Aber man darf es ein wenig bedauern, dass Karen Werner so gänzlich an der Geschichte der Lehrerbildung für das Fach Deutsch und speziell an der fachdidaktischen Qualifikation für den Umgang mit älterer deutscher Literatur vorübergegangen ist. So hätte ihre vorzügliche Arbeit noch an Reichweite und Tiefe gewinnen können.
Anmerkung:
1 Bodo Friedrich, Geschichte des Deutschunterrichts von 1945 bis 1989. (Teil 1:) Unterricht nach Plan? Untersuchungen zur Schule in der der SBZ/DDR. Frankfurt am Main u.a. 2006 (Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 58).